L 17 U 533/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 U 324/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 533/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Würzburg vom 11.10.2000 verurteilt, beim Kläger als weitere Unfallfolge anzuerkennen: "Anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit chronischen lumbalen Schmerzen und gelegentlicher pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung in die Beine und leichter depressiver Verstimmung" und für die Unfallfolgen ab 09.12.1997 eine Verletztenrente nach einer MdE von 40 vH zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 11.06.1996 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 40 vH zusteht.

Der am 1938 geborene Kläger war von Beruf Krankenpfleger. Er rutschte am 11.06.1996 während des Bereitschaftsdienstes nach dem morgendlichen Duschen aus, fiel auf das Gesäß und erlitt eine Lendenwirbelkörper(LWK)-1-Kompressionsfraktur.

Die Beklagte anerkannte mit Bescheid vom 27.03.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.08.1998 den Unfall als Arbeitsunfall und bewertete die Unfallfolgen ab 09.12.1997 mit einer MdE von 20 vH.

Mit Bescheid vom 23.04.1999 gewährte die Beklagte eine Dauerrente nach einer MdE von 20 vH. Als Folgen des Unfalls anerkannte sie: Bewegungseinschränkung sowie insbesondere rechtsseitige Muskelverhärtung im Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule, nach unter ausgeprägter Sinterung und deutlicher Vorderkantenerniedrigung um ca die halbe Höhe des 1. LWK in leichter Inklinationsfehlstellung knöchern fest verheiltem Kompressionsbruch des 1. LWK. Nicht anerkannt wurden als Folgen des Arbeitsunfalls: Hochgradige Osteochondrose und Spinalenge der Halswirbelkörper 5/6 mit ventraldorsalen Osteophyten, mäßige Osteoporose und Skoliose der Wirbelsäule, chronisches Zervikalsyndrom, geringe Rundrückenbildung, ventrale Spondylophyten in den Segmenten L 3 bis L 5 sowie rezidivierende Lumbalgien, Zervikobrachialgien und Dorsalgien bei degenerativen Wirbelsäulenveränderungen, Diabetes mellitus mit Polyneuropathie, Hypertonie, Zustand nach Hinterwandinfarkt mit Zustand nach transitorisch ischämischer Attacke und zweimaligen epileptischen Anfällen.

Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg hat der Kläger beantragt, den Bescheid vom 27.03.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.08.1998 in Gestalt des Bescheides vom 23.04.1999 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, Rente nach einer MdE von 50 vH zu gewähren. Das SG hat von Amts wegen ein Gutachten des Orthopäden Dr.E. vom 09.03.2000 und gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten des Chirurgen PD Dr.I. vom 11.07.2000 eingeholt. Dr.E. und PD Dr.I. haben die LWK-Kompressionsfraktur übereinstimmend mit einer MdE von 20 vH bewertet. PD Dr.I. hat zusätzlich ein schweres und außergewöhnliches Schmerzsyndrom mit einer Einzel-MdE von 30 vH sowie eine auf regelmäßigen Schmerzmittelkonsum zurückzuführende Magenerkrankung mit einer Einzel-MdE von 20 vH angenommen und die unfallbedingte Gesamt-MdE auf 50 vH geschätzt. Das SG ist PD Dr.I. nicht gefolgt und hat die Klage mit Urteil vom 11.10.2000 abgewiesen. Es hat insbesondere ausgeführt, dass der Kläger die Mehrzahl der Medikamente wegen unfallfremder Erkrankungen eingenommen habe, eine Schädigung der Magenschleimhaut daher nicht unfallbedingt sein könne. Eine vom Kläger im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens geltend gemachte Verschlimmerung des Diabetes mellitus-Leidens, vor allem der diabetisch verursachten Retinopathie durch die Behandlung der Unfallfolgen mit dem Medikament ASS, hat das SG abgelehnt, weil dieses Medikament auch schon vor dem Unfall verschrieben worden war.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt. Der Senat hat medizinische Unterlagen des Klägers beigezogen und ein Gutachten vom 18.07.2002/13.01.2003 des Arztes für Neurologie und Psychotherapie Prof.Dr.Dr.K. eingeholt. Dieser hat für den beim Kläger bestehenden LWK-Kompressionsbruch wiederum eine MdE von 20 vH angenommen und zusätzlich eine "anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit chronischen lumbalen Schmerzen und gelegentlicher pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung in die Beine und leichter depressiver Verstimmung" entsprechend den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Ausgabe 1996, als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit einer Einzel-MdE von 40 vH bewertet. Die Gesamt-MdE hat er mit 40 vH eingeschätzt. Der einmaligen ulcerösen Gastritis als Folge der Einnahme von nicht-steroidalen Antiphlogistika ohne weitere Folgeerkrankungen oder Folgebeschwerden hat er keine MdE beigemessen. Die Erkrankungen Diabetes mellitus Typ 2 mit schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie und diabetischer Retinopathie, coronare Herzkrankheit, Zustand nach Hinterwandinfarkt, degenerative Wirbelsäulenveränderungen, Osteoporose, Zustand nach transitorischen ischämischen Attacken, Zustand nach zweimaligem symptomatischen generalisierten Krampfanfall sowie Adipositas hat er für unfallunabhängig gehalten, insbesondere ist er der vom Kläger mehrfach vorgebrachten Argumentation, der Unfall und die folgende Schmerzerkrankung einschließlich der medikamentösen Behandlung habe zu einer Verschlechterung des Diabetes mellitus und dessen Folgeerkrankungen geführt, nicht gefolgt.

Die Beklagte hat sich dagegen gewandt, die beim Kläger bestehende somatoforme Schmerzstörung (allein) dem Unfall zuzuordnen, da beim Kläger zum Zeitpunkt des Unfalls bereits seit mehr als einem Jahrzehnt Erkrankungen vorgelegen hätten, die Schmerzen verursachten und deretwegen er in nicht unerheblichem Umfang behandelt worden sei (Schriftsätze vom 05.09.2002/ 09.12.2002).

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Würzburg vom 11.10.2000 und Abänderung des Bescheides vom 09.12.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.08.1998 sowie des Bescheides vom 23.04.1999 zu verurteilen, Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 40 vH zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 11.10.2000 zurückzuweisen, hilfweise anhand eines psychologisch-psychiatrischen Gutachtens Beweis darüber zu erheben, ob beim Kläger eine Schmerzstörung vorliegt, gegebenenfalls welcher Art diese Schmerzstörung ist, welchen Einfluss die Vorerkrankungen, die Auseinandersetzung mit dem Versorgungsamt und die Persönlichkeitsstruktur des Klägers auf die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Schmerzstörung haben sowie welchen Einfluss der am 11.06.1996 erlittene Unfall und dessen Folgen auf die Schmerzstörung haben.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Unfallakte der Beklagten, die beigezogene Schwerbehindertenakte des Versorgungsamtes Würzburg und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet.

Der Kläger hat wegen des Arbeitsunfalles vom 11.06.1996 einen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 40 vH. Als weitere Unfallfolgen sind anzuerkennen: Anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit chronischen lumbalen Schmerzen und gelegentlicher pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung in die Beine und leichter depressiver Verstimmung.

Vorliegend sind noch die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuwenden, da sich das zu beurteilende Ereignis vor dem 01.01.1997 ereignet hat (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes § 212 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch -SGB VII-).

Eine Gesundheitsstörung ist als Folge eines Arbeitsunfalles unter anderem dann anzuerkennen, wenn zwischen dem Unfall und der Gesundheitsstörung ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Ein solcher liegt nach dem in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsbegriff nur dann vor, wenn das Unfallereignis mit Wahrscheinlichkeit wesentlich die Entstehung oder Verschlimmerung eines Gesundheitsschadens bewirkt hat (BSGE 1, 72, 76; 12, 242, 245; 38, 127, 129; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Ges.Unfallvers, 4.Aufl, Anm 3, 3.4 zu § 548 RVO).

Diese Voraussetzungen sind für die von PD Dr.I. und Prof.Dr.Dr.K. festgestellte Schmerzstörung erfüllt. Beim Kläger ist im Anschluss an den Unfall eine Schmerzsymptomatik mit Lumbalgien, teilweise auch mit Ausstrahlung nach cranial und teilweise pseudoradikulärer Ausstrahlung in die Beine aufgetreten. Es handelt sich nunmehr um einen chronischen Schmerz, dessen Intensität im Laufe der Jahre zugenommen hat und durch therapeutische Maßnahmen nur unzureichend und kurzfristig gebessert werden konnte. Auf Grund dieser Schmerzsymptomatik war dem Kläger die Wiederaufnahme seiner Arbeit als Krankenpfleger nicht mehr möglich. Für den Kläger war nach den Feststellungen des Prof.Dr.Dr.K. die Erfahrung der Lendenwirbelkörperfraktur und des komplizierten Heilungsverlaufs mit Nachsinterung ein einschneidendes und erschreckendes Erlebnis. Die Wahrnehmung von Schmerzen im Rückenbereich ist für den Kläger angstbesetzt und gekoppelt mit der Vorstellung weiterer Verletzungen an der Wirbelsäule. Diagnostisch hat Prof.Dr.Dr.K. das chronisch-lumbale Schmerzsyndrom des Klägers eingeordnet als eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung nach ICD-10 F 45.4. Diese wird definiert als Störung mit einer vorherrschenden Beschwerde durch andauernden, schweren und quälenden Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Die Grundlage für die Ausbildung dieser Symptomatik ist in der nicht gelungenen Bewältigung der anfänglichen LWK-1-Fraktur zu sehen, vor allem in der Ausbildung einer stark angstbesetzten Bewertung der Schmerzsymptomatik mit entsprechendem Vermeidungsverhalten. Beim Kläger finden sich zudem Hinweise für eine leichte depressive Symptomatik, die sich im Laufe der unfallbedingten Schmerzsymptomatik entwickelt hat. Hinweise für eine vor dem Unfall bestandene psychische Erkrankung haben sich nicht gefunden. Primär-persönliche Faktoren, wie die emotional-kognitive Bewertung der langjährigen Auseinandersetzung mit der Beklagten (oder dem Versorgungsamt) erreichen nicht die für die Diagnose einer unfallfremden Persönlichkeitsstörung erforderliche Ausprägung.

Im Hinblick auf diese ärztlichen Feststellungen des Prof.Dr.Dr.K. bedurfte es der Einholung eines psychologisch-psychiatrischen Gutachtens zu der Frage, ob eine Schmerzstörung beim Kläger vorliegt, welche Art von Schmerzstörung vorliegt und welchen Einfluss etwaige Vorerkrankungen auf die Schmerzstörung haben, nicht. Der Antrag der Beklagten, ein psychologisch-psychiatrisches Gutachten zur Frage der Schmerzstörung einzuholen war darüberhinaus für den Senat schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil die Beklagte mit Schreiben vom 10.03.2003 die medizinischen Aussagen des Prof.Dr.Dr.K. "in keinem Punkt bezweifelt hat" und alle Vorbehalte gegen das Vorliegen einer Schmerzstörung beim Klägers fallen gelassen hat.

Den beim Kläger bestehenden Diabetes mellitus Typ 2 mit schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie und diabetischer Retinopathie hat Prof.Dr.Dr.K. zu Recht nicht auf das Unfallgeschehen zurückgeführt. Eine Veränderung der Diabeteseinstellung wegen der Unfallfolgen war nämlich nicht festzustellen.

Prof.Dr.Dr.K. hat zur Bewertung der somatoformen Schmerzstörung die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) herangezogen. Die AHP sind in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht ohne weiteres anwendbar, da sie nicht nur auf Funktionsausfälle abstellen, die sich auf das Gesamtgebiet des allgemeinen Erwerbslebens beziehen, sondern darüberhinaus die Auswirkungen (der Behinderungen) in allen Lebensbereichen berücksichtigen (Schönberger, Mehrtens, Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit 6.Aufl S 152, 265). Während nach den AHP 1996 S 60 stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit einer MdE von 30 bis 40 bewertet werden, wird in der gesetzlichen Unfallversicherung ein Rahmen von 20 bis 40 für eine derartige Unfallfolge angenommen (vgl aaO S 265). Die MdE-Einschätzung der somatoformen Störung des Klägers durch Prof.Dr.Dr.K. mit einer Einzel-MdE von 40 vH erfolgte somit nicht allein wegen der Heranziehung der AHP. Auch die im Unfallrecht üblichen MdE-Werte lassen eine entsprechende Einschätzung der MdE zu. Die Bildung der Gesamt-MdE von 40 aus Einzel-MdE-Werten von 40 und 20 begegnet vorliegend keinen Bedenken.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revison im Sinne des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
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Rechtskraft
Aus
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