L 13 RA 177/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 RA 98/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 13 RA 177/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 20. Juni 2002 wird zurückgewiesen.
II. Der Klägerin sind die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Höhe der Witwenrente.

Die am 1922 geborene Klägerin ist mit ihrem Sohn H. als Spätaussiedlerin am 15.10.1997 nach Deutschland eingereist. Ihr ebenfalls deutschstämmiger Ehemann (geb. 1922) ist bereits am 15.08.1981 in der damaligen UdSSR verstorben.

Mit Bescheid vom 18.03.1998 bzw. 03.12.1999 erhielt die Klägerin von der Landesversicherungsanstalt Niederbayern-Oberpfalz Regelaltersrente in monatlicher Höhe von 966,64 DM bzw. 983,77 DM. Diese errechnet sich aus 22,0759 (10,5315 für Beitragszeiten und 11,5444 für beitragsfreie Zeiten) Entgeltpunkten - EP -, beruhend auf der Biographie der Klägerin in der UdSSR, außer den Zeiten für die Erziehung dreier Kinder (um den Faktor 0,6 gekürzt), da der Versicherungsverlauf ausschließlich auf Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) beruht.

Mit Bescheid vom 03.05.1999 gewährte die Beklagte der Klägerin eine Witwenrente nach 2,9241 EP, obwohl sie für den verstorbenen Ehemann anrechenbare Zeiten im Umfang von 25,8980 EP festgestellt hatte; denn diese seien gemäß § 22 b FRG i. d. F. des das am 01.01.1997 in Kraft getretenen Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes (WFG) auf 25 EP zu begrenzen (22,0759 + 2,9241 = 25 EP).

Den ohne Begründung gebliebenen Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.01.2000 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und zunächst beantragt, alle Beitrags- und Beschäftigungszeiten und alle nicht anderweitig belegten Zeiten für den Zeitraum vom 26.12.1952 bis 31.10.1976 mit Ersatzzeiten gemäß § 250 SGB VI aufzufüllen und zu berechnen; später beantragte sie im Hinblick auf Vorlagebeschlüsse des BSG an das Bundesverfassungsgericht vom 16.12.1999 wegen der pauschalen Absenkung von FRG-Zeiten eine neue Berechnung der Rente vorzunehmen. In der mündlichen Verhandlung vom 05.11.2001 hat die Klägerin ihre bisherigen Anträge zurückgenommen und unter Berufung auf das Urteil des BSG vom 30.08.2001 (Az.: B 4 RA 118/00 R) verlangt, ihr die volle Witwenrente ohne Anwendung von § 22 b Abs.1 S.1 FRG zu gewähren.

Die Beklagte hat demgegenüber an ihrer Rechtsansicht festgehalten, wonach Berechtigten, die nach dem 07.05.1996 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland genommen haben, für FRG-Zeiten höchstens eine Rente im Wert von 25 EP zu zahlen sei.

Durch Urteil vom 20.06.2002 hat das SG die Beklagte verpflichtet, der Klägerin höhere Witwenrente nach einem Wert von 15 EP Entgeltpunkte zu gewähren. Damit werde der von der Klägerin geltend gemachten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Entscheidung vom 30.08.2001) gefolgt, wonach § 22 b Abs.1 Satz 1 FRG keine Anwendung finde, wenn neben einem Recht aus eigener Versicherung ein abgeleitetes Recht auf Hinterbliebenenrente bestehe. Weder unmittelbar noch in analoger Anwendung ergebe sich in diesem Falle eine Begrenzung der nach dem FRG berücksichtigungsfähigen Entgeltpunkte. Sinn und Wortlaut der Vorschrift stünden einer Begrenzung auf 25 Entgeltpunkte entgegen. Denn Hinterbliebenenrenten bezweckten im Gegensatz zu Versi- chertenrenten nicht den Ersatz von Erwerbseinkommen. Sie leiteten sich vielmehr ihrer anders gearteten Funktion entsprechend ohne eigene Vorleistung des Rentners nach den Gesichtspunkten des Unterhaltsersatzes aus der Rente des verstorbenen Versicherten ab und stellten damit einen Ersatz für den bei Witwen/Witwer stets gesetzlich unterstellten und nicht konkret nachzuweisenden Unterhalt durch den Verstorbenen dar. EP als verwaltungstechnischer Ausdruck einer individuell erworbenen Rangstelle seien allein bei einer Rente aus eigenem Recht von Belang, so dass insofern im Verhältnis zu einer gleichzeitigen Hinterbliebenenrente die Frage eines Vorrangs bei der Verteilung (§ 22 b Abs.1 Satz 3 FRG) von vorne herein nicht auftreten könne.

Hiergegen hat die Beklagte Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegt und sich zur Begründung zunächst auf die Rechtsprechung des BSG berufen, wonach § 22 b Abs.1 Satz 1 FRG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei (BSG Urteil vom 30.08.2001, Az.: B 4 RA 87/00 R, SozR 3-5050 § 22 b Nr.1), aber darüber hinaus entgegen der Rechtsansicht des 4. Senats des BSG zu § 22 b Abs.1 Satz 1 FRG im Urteil vom 30.08.2001 (Az.: B 4 RA 118/00 R, SozR 3-5050 § 22 b Nr.2) auch eine Begrenzung aller Rentenbezüge der Klägerin auf 25 EP geltend gemacht. Denn es sei nicht ersichtlich, weshalb der Wortlaut dieser Rechtsnorm eine Anwendung auf Hinterbliebenenrenten ausschließen solle. Die verwendeten Begriffe beinhalteten keinerlei Beschränkungen auf Versichertenrenten. § 22 b Abs.1 Satz 1 FRG beziehe den Höchstwert nicht auf die jeweilige Rente, sondern auf die Person ("für einen Berechtigten"). Dies erschließe sich auch aus Abs.1 Satz 3, wonach die EP der Rente mit einem höheren Rentenartfaktor vorrangig zu berücksichtigen seien. Sonst würde diese Verteilungsregel keinen Sinn ergeben. Die lebensunterhaltssichernde Gesamtkonzeption des § 22 b FRG erschließe sich auch aus der Zusammenschau mit Absatz 3 der Vorschrift, wonach Einzelpersonen 25 und Paare 40 höchstens EP erhalten sollten. Der Bedarf der Witwe sei nicht höher als der anderer Einzelpersonen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 20.06.2002 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 03.05.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.01.2000 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Dem Senat lagen die Versichertenakten der Beklagten, den Ehemann der Klägerin betreffendend, vor. Hierauf sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die von der Beklagten form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 153, 151, 90 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), jedoch unbegründet, weil der Klägerin Hinterbliebenenrente in dem vom SG zugesprochen Umfang zusteht.

Versicherte und ihre Hinterbliebenen haben Anspruch auf Rente, wenn die erforderliche Mindestversicherungszeit (Wartezeit) erfüllt ist und die jeweiligen besonderen versicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzungen vorliegen (§ 34 Abs.1 SGB VI i. d. F. des RRG 92, anwendbar gemäß § 300 Abs.1 und 2 SGB VI). Gemäß § 46 Abs.2 SGB VI i. d. F. des RRG 92 - insoweit auch durch die Reform des Hinterbliebenenrechts im Altersvermögensergänzungsgesetz (AVmEG vom 26.03.2001) unverändert - haben Witwen oder Witwer, die nicht wieder geheiratet haben, nach dem Tode des versicherten Ehegatten, der die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, Anspruch auf große Witwen- oder Witwerrente, wenn sie das 45. Lebensjahr vollendet haben. Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin und ihrem verstorbenen Ehemann gegeben. Der Tatbestand des "Versichert-Sein " und die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit durch den verstorbenen Ehemann der Klägerin wird hier gewährleistet über die Besonderheiten des Fremdrentenrechts. Als Spätaussiedlerin konnte die Witwe nach §§ 1 a und 1 e FRG (i. d. F. des Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung, Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - WFG, BGBl I S.1461 - vom 25.09.1996) noch vor Geltung der durch das AVmEG eingeführten Änderungen (vgl. § 14 a FRG) die Anwendung der damaligen FRG - Regelungen, also die Gleichstellung fremder Zeiten, für sämtliche Leistungen der Rentenversicherung beanspruchen und damit einen eigenständigen Anspruch auf Witwenrente erwerben (vgl. Beschluss des Großen Senats des BSG vom 06.12.1979 - GS 1/79, in BSGE 49, 175), obwohl der Verstorbene selbst weder eine Anwartschaft oder ein Anwartschaftsrecht noch ein Vollrecht auf Versichertenrente erworben hatte. Dies wird auch von der Beklagten nicht bestritten, wie sich aus der bereits erfolgten Rentenleistung zeigt.

Dieser Anspruch reduziert sich durch § 22 b Abs.1 FRG nicht auf das von der Beklagten festgestellte Ausmaß. Zwar trifft § 22 b Abs.1 FRG mit seinem zeitlichen und personellen Geltungsbereich auf die Klägerin, deren eigene Rente aber nicht in Streit und mit einem Wert von 22,0759 EP ohnehin nicht tangiert ist, zu. Diese ist am 15.10.1997 eingereist und damit nicht vom Bestandsschutz des § 4 b FANG (vgl. Art.4 Nr.3 WFG, Aufenthaltsnahme in der Bundesrepublik Deutschland vor dem 07.05.1996) erfasst. Insoweit gibt es auch verfassungsrechtlich keine Bedenken gegen die Anwendbarkeit von § 22 b Abs.1 FRG (Urteil des 4. Senats vom 30.8.2001 B 4 RA 87/00 R SozR 3-5050 § 22 b Nr.1, insbesondere zur Zulässigkeit eines Systemwechsels, BSG Urteil vom 03.07.2002 B 5 RJ 22/01 R, SGb 2002, 557 und zur Begrenzung der Entgeltpunkte bei in Wirtschaftsgemeinschaft lebenden Spätaussiedlern). Daher erfolgt die Berechnung der Hinterbliebenenrente zurecht nach dem FRG i. d. F. des WFG unter Beachtung des § 22 b Abs.1 Satz 1. Für den insoweit als "Berechtigten" anzusehenden verstorbenen Ehemann der Klägerin ist in dessen Versicherungsverlauf ein Höchstwert von 25 EP zugrunde zu legen, obwohl die rechnerische Ermittlung 25,8980 EP ergibt. Ebenso durfte die Beklagte insoweit zu Recht § 22 Abs.4 FRG mit der Absenkung um 0,6 Entgeltpunkte anwenden (vgl. Vorlagebeschluss des BSG vom 16.12.1999, B 4 RA 18/99 R; die Richtervorlage erfolgte nur bezüglich Anwartschaftsinhaber vor Verkündung des WFG). Allerdings wirkt sich dies hier - da ohnehin der Maximalwert von 25 EP erreicht und sogar überschritten ist - nicht aus. Daraus ermittelt sich - wie vom SG zurecht angenommen - bei einem Rentenartfaktor von damals noch 0,6 (§ 67 Nr.6 SGB VI i. d. F. vor dem AVmEG) ein Wert von 15 EP.

Weitergehende Rechtsfolgen sind aus der prinzipiellen Anwendbarkeit des § 22 b Abs.1 FRG - wie darzulegen sind wird - aber nicht abzuleiten.

Aus den Vorschriften über das Zusammentreffen von Renten und von Einkommen (§§ 89 bis 98 SGB VI) folgt weder eine Kürzung noch eine Anrechnung auf die Hinterbliebenenrente der Klägerin.

§ 89 SGB VI bezieht sich thematisch nur auf Renten aus eigener Versicherung. Die Einkommensanrechnung auf Renten wegen Todes (§ 97 SGB VI) führt zu keiner Verminderung des Hinterbliebenenrentenanspruchs der Klägerin. Durch ihre eigene Rente (vgl. § 18 a Abs.3 Nr.2 SGB IV) trifft anrechenbares Einkommen eines Berechtigten mit einer Witwerrente zusammen (§ 97 Abs.1 Nr.1 SGB VI). Tatsächlich übersteigt aber die eigene Rente der Klägerin mit Beträgen von 966,64 DM bzw. 983,77 DM nicht den Grenzwert des 26,4fachen des aktuellen Rentenwerts (im Jahr 1997: 47,44 x 26,4 = 1252,41 DM, bei einer Entwicklung des aktuellen Rentenwerts von 47,65 im Jahr 1998, 48,29 im Jahr 1999 und 48,29 DM im Jahr 2000 bis 25,86 EUR im Jahr 2002). Ein Übersteigen ist durch die Begrenzung der eigenen Rente auf 25 Entgeltpunkte nach § 22 b FRG ausgeschlossen.

Damit sind alle Voraussetzungen des Hinterbliebenrentenanspruchs erfüllt; Kürzungen oder Ruhensbestimmungen führen zu keiner Anspruchsminderung; es besteht ein fälliger Rechtsanspruch auf die Rente (§§ 38, 40, 41 SGB I). Für eine Minderung dieses Anspruchs fehlt es an einer dafür erforderlichen gesetzlichen Regelung; Rechte in den Sozialleistungsbereichen des Sozialgesetzbuchs dürfen nur aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt (Vorbehalt des Gesetzes, § 31 SGB I). Zu Unrecht beruft sich die Beklagte auf eine Leistungsbegrenzung unter Anwendung der Rechtsfolge des § 22 b Abs.1 FRG. Diese Vorschrift hatte zum Zeitpunkt der Einreise der Klägerin am 15.10.1997 folgende Fassung (durch das WFG vom 25.09. 1996): "Für anrechenbare Zeiten nach diesem Gesetz werden für einen Berechtigten höchstens 25 Entgeltpunkte der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten zugrunde gelegt. Hierbei sind zuvor die Entgeltpunkte der knappschaftlichen Rentenversicherung mit dem Wert 1,3333 zu multiplizieren." Diese Wortfassung bietet keinerlei Hinweis darauf, dass sich der thematische Anwendungsbereich der Vorschrift auf ein Nebeneinander von Versichertenrente und Hinterbliebenenrente bezieht. Soweit sich die Beklagte auf § 22 b FRG i. d. F. des Rentenreformgesetzes 1999 - RRG 99, BGBl I S.2998 - beruft (Änderung durch Art.12 Nr.2), ist dies allerdings verständlich, da das Inkrafttreten rückwirkend zum 01.01.1996 geregelt ist (Art.33 Abs. 6 RRG 99). § 22 b FRG i. d. F. des RRG 99 bestimmt nunmehr in einem weiteren Satz 3: "Entgeltpunkte aus der Rente mit einem höheren Rentenartfaktor sind vorrangig zu berücksichtigen". Auch der Wortlaut dieser Bestimmung enthält keinen direkten sprachlichen oder grammatikalischen Hinweis auf eine Kumulation von Renten aus eigener Versicherung und Hinterbliebenenrenten.

Der Änderungsvorrang als solcher gibt aber Hinweise zur Auslegung. Zum einen zeigt sich, dass der Wille des Gesetzgebers im WFG entgegen der Ansicht der Beklagten keinesfalls klar zum Ausdruck gebracht ist, denn sonst wäre eine "Nachbesserung" durch das RRG 99 nicht erforderlich gewesen. Des weiteren zeigt sich, dass die eigentliche Rechtsfolge bereits in der ursprünglichen Fassung der Vorschrift durch das WFG vom 25.09.1996 enthalten sein muss. Denn der Gesetzgeber hat der Änderung - wie oben aufgezeigt - eine Rückwirkung beigelegt. Dies ist aber wegen des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbotes nur erlaubt, wenn damit keine Verschlechterung der Rechtsposition der Klägerin erfolgt, was im Übrigen § 300 Abs.3 SGB VI bereits als Bestandsschutz für die der Rente zugrundegelegten EP gebietet. Dies bedeutet, dass es sich bei der Änderung durch das RRG 99 lediglich um eine Verdeutlichung des Willens des Gesetzgebers handeln kann. Insbesondere kann die ursprüngliche Rechtsfolge des § 22 b i. d. F. des WFG keine Änderung durch die Rechtspraxis der Beklagten erfahren haben, die dann vom Gesetzgeber durch das RRG 99 gebilligt worden wäre. Denn eine Rechtsfortbildung darf nur durch die Rechtsprechung und auch nicht contra legem erfolgen. Deshalb kann die Rechtspraxis der Beklagten, die Göhde in Erwiderung auf die Rechtsprechung des BSG vom 30.08.2001 als Argument einbringt, (LVA Rheinprovinz, Mitteilungen 2002, 313 ff.), den ursprünglichen Willen des Gesetzgebers nicht nachträglich neu interpretieren. Nach Göhde (a. a. O. S.319) habe wegen des geringeren Rentenartfaktors von 0,6 bei Hinterbliebenenrenten die anteilige Zuweisung der EP auf beide Renten in einer Vielzahl von Fällen zu einem niedrigeren Gesamtzahlbetrag geführt. Für viele Versicherte sei es deshalb günstiger gewesen, auf die Beantragung einer Hinterbliebenenrente zu verzichten. Diese Problematik habe der Gesetzgeber aufgegriffen. Auf Initiative des Verbandes der Rentenversicherungsträger (VDR) sei mit Art. 12 Nr.2 a RRG 99 die neue Verteilungsregelung mit der vorrangigen Berücksichtigung der Rente mit dem höheren Rentenartfaktor ins Gesetz gekommen (Satz 3).

Maßgeblich ist somit die Auslegung von § 22 b Abs.1 FRG i. d. F. des WFG. Anknüpfungspunkt ist der Begriff "ein Berechtigter", somit der personelle Bezugspunkt für die Rechtsfolge. In den übrigen Anspruchsnormen des SGB VI ist die Rede von Rechtsbegriffen wie "Versicherte", "Witwen oder Witwer" und "Kinder". Nur im FRG (mit einer Ausnahme in § 91 SGB VI) findet sich der Begriff des Berechtigten - allerdings immer im Plural. Legiglich in § 22 b Abs.1 FRG wird der Singular "ein Berechtigter" verwendet. Nach grammatikalischen Regeln stehen Hauptwörter dann ohne Artikel, wenn sie eine unbestimmte Menge oder Anzahl umfassen. Das ist der Fall bei den zuvor oben genannten Anspruchsnormen ("Versicherte" ...). Dort werden die Begriffe als Gattungsbegriffe verwendet. Durch den sprachlichen Wechsel zum Terminus "ein Berechtigter" könnte der Gesetzgeber das Wort "ein" allgemein als Numerale oder konkret als Kardinalzahl mit Beschränkung auf eine einzelne Person verwendet haben. Andererseits ist das Wort "ein" auch die Singularform des unbestimmten Artikels. Damit könnte irgendein Berechtigter gemeint sein. Es würde sich dann nur um eine andere sprachliche Form der angeführten Gattungsbezeichnung handeln. Die von der Beklagten aufgeworfene Feststellung, es sei nicht ersichtlich, weshalb der Wortlaut des § 22 b Abs.1 Satz 1 FRG eine Anwendung auf Hinterbliebenenrenten ausschließen solle, ist falsch. Denn vorstehende Ausführungen zeigen gerade, dass der Wortlaut eine solche Anwendung nicht zweifelsfrei beinhaltet. Bei einer anspruchsverkürzenden Norm muss klar ersichtlich sein, dass ein genau bestimmter Tatbestand zur teilweisen Anspruchsvernichtung führt.

Im semantischen Zusammenhang des Rechts der Rentenversicherung bedeutet "Berechtigter" allerdings den Inhaber einer Anwartschaft bzw. eines Anwartschaftsrechts. Damit sind meistens (vgl. aber § 91 SGB VI) eigene Ansprüche gemeint (vgl. z. B. BSG, Vorlagebeschluss vom 16.12.1999, B 4 RA 18/99 R, Gliederung. 2.1.6.1). Danach kann und soll der " Berechtigte " sein Anwartschaftsrecht als Grundlage seiner Vermögensdisposition für seine Altersvorsorge nutzen. Auch dies spricht gegen die Anwendbarkeit von § 22 b Abs.1 FRG auf Witwenrenten. In diesem Zusammenhang sind wiederum die Ausführungen desselben 4. Senats im Urteil vom 30.08.2001 (B 4 RA 118/00 R) zu sehen, die sich mit dem Hauptargument der Beklagten befassen, der Sinn der in § 22 b Abs.1 Satz 3 FRG getroffenen Anordnung lasse nur die eine Auslegung zu, dass § 22 b Abs.1 auch das Zusammentreffen von eigener und Hinterbliebenenrente regelt. In den Entscheidungsgründen des Urteils wird dazu ausgeführt (vgl. a. a. O. Entscheidungsgründe, 9. Absatz), dass der Wert von Hinterbliebenenrenten im Gegensatz zu demjenigen von Versichertenrenten, die den Ersatz entfallenen Erwerbseinkommens bezweckten, gerade nicht auf einer individuellen Rangstelle und dem Maß, in dem der Rentner selbst während seiner aktiven Erwerbsphase im jährlichen Vergleich mit den zeitgleich Versicherten zum damaligen Beitragsaufkommen beigetragen hat, beruhe. Die Hinterbliebenenrenten leiteten sich vielmehr aus ihrer andersgearteten Funktion her, nämlich Ersatz für den - bei Witwen stets gesetzlich unterstellten und nicht konkret nachzuweisenden - Unterhalt durch den Verstorbenen zu leisten, ohne eigene Vorleisstung des Rentners bzw. ohne besondere Vorleistung des Versicherten. Vollends wird dies deutlich, wenn sich das BSG direkt mit § 22 b Abs.1 Satz 3 FRG auseinandersetzt und dazu ausführt: "Aus demselben Grund kann auf Sachverhalte der vorliegenden Art auch § 22 b Abs.1 Satz 3 FRG keine Anwendung finden ... EP als verwaltungstechnischer Ausdruck einer individuell erworbenen Rangstelle sind jedoch - wie dargelegt - allein bei einer Rente aus eigenem Recht von Belang, so dass insofern im Verhältnis zu einer gleichzeitigen Hinterbliebenenrente die Frage eines Vorrangs bei der Verteilung von vornherein nicht auftreten kann ". Dies spricht ebenfalls gegen die Anwendbarkeit des § 22 b Abs.1 FRG beim Zusammentreffen von Versicherten- und Hinterbliebenenrenten.

Ebenso wenig hilft die systematische Zusammenschau weiter. Der Gesetzgeber regelt zwar in § 22 b Abs.3 FRG eine Fallkonstellation von Ehegatten, jedoch nicht von Witwen oder Witwern. Dieser Vorschrift kann entnommen werden, dass in einer bestehenden Ehe der Wert aller FRG-Renten 40 EP nicht übersteigen darf. Damit kann allenfalls auch für die Witwe ein Rentenbezug von höchstens 40 EP abgeleitet werden. Dieses Ergebnis folgt jedoch bereits aus der doppelten Anwendung von § 22 b Abs.1 FRG mit seiner Begrenzung auf 25 EP für die Versicherten und 15 EP für die Hinterbliebenenrente. Keineswegs kann daraus aber abgeleitet werden, dass eine Gleichstellung von Witwen mit noch lebenden Ehegatten ungerechtfertigt sein soll. Die Zubilligung eines Bedarfsniveaus im Wert von 40 EP auch für Witwen ist ist dem Gesetzgeber angesichts der ohnehin niedrigen Rentenbeträge nicht verboten. Es ist nicht willkürlich, den Unterhaltsersatz eines Hinterbliebenen nur auf 15 (zusammen mit maximal 25 eigenen EP) und nicht auf noch mehr EP (insgesamt 25 EP) zu begrenzen. Es besteht auch keine unbeabsichtigte Lücke im Regelungskonzept, wenn der Gesetzgeber nur Begrenzungen für Renten aus eigener Versicherung (Abs.1) und Renten für Ehegatten und eheähnliche Gemeinschaften vornimmt, nicht jedoch für Witwen. Denn einerseits sind deren Ansprüche faktisch ohnehin auf 40 EP begrenzt (s. o.) und andererseits müssen Kürzungskonzepte nicht lückenlos sein, zumal der Gesetzgeber die Gelegenheit gehabt hätte, die vermeintliche Lücke zu schließen (s. u.).

Auch ein Rückgriff auf Sinn und Zweck der Regelung der Rechtsfolge in § 22b Abs.1 FRG führt nicht weiter. Die Interpretation der Gesetzesmaterialien ergibt, dass das WFG durch einen Gesetzentwurf der damaligen Regierungsfraktionen auf den Weg gebracht worden ist (BT-Drucks. 13/4610). Danach waren Einschränkungen der Leistung nach dem Fremdrentengesetz für künftig Zureisende geplant. Die Änderung unter Art.3 Nr.4 (Einführung des § 22 b) wurde damit begründet, dass die Rente nach dem FRG höchstens in Orientierung an der Höhe der Eingliederungshilfe geleistet werden soll (BT-Drucks.13/4610 S.19). Einschränkende Regelungen seien auch zur Erhaltung der Akzeptanz der Leistungen nach dem FRG erforderlich. Fünfzig Jahre nach Kriegsende sei eine unveränderte Beibehaltung der für einen Übergangszeitraum konzipierten und ein hohes Rentenniveau sichernden Regelungen sachlich nicht mehr zu rechtfertigen (a. a. O.). Im einzelnen ist zur Einführung von § 22 ausgesagt, dass der FRG- Rentenanteil für Berechtigte an der Höhe der Eingliederungshilfe, bei Ehepaaren am 1,6 fachen der Eingliederungshilfe orientiert sei (a. a. O. S.28). Hierbei ist nichts über die Situation eine Witwe ausgesagt. Sprachlich ist allgemein nur von "Berechtigten" die Rede. Zu der weiteren Änderung, der Einfügung des jetzigen Satzes 3, fehlt jegliche Begründung im Gesetzentwurf zum Rentenreformgesetz (vgl. Ausschussbericht zur BT-Drucksache 13/8011). Eine Interpretation des Gesetzgebers im nachhinein wäre aber ohnehin verfassungsrechtlich bedenklich, denn dadurch wird die oben angeführte Rückwirkungsproblematik aufgeworfen.

Damit kann bei der Suche nach Sinn und Zweck nur auf das eingehend vom BSG (Urteil vom 30.08.2001, B 4 RA 118/00 R) gewürdigte unterschiedliche Sicherungsziel von Versicherten- und Hinterbliebenenrenten zurückgegriffen werden. Wie das BSG zu Recht ausführt, hat eine Hinterbliebenenrente einen völlig anderen dogmatischen und rechtspolitischen Hintergrund als eine Rente, die auf eigener Versicherung beruht. Dies verkennt die Beklagte, wenn sie die Klägerin mit anderen Einzelpersonen vergleicht, die nicht verwitwet sind. Solange noch das bisherige Recht der Hinterbliebenenversorgung (gegenüber dem optionalen Ehegattensplitting) anwendbar ist, muss die Wertung des Gesetzgebers respektiert werden, dass ein durch den Tod eines Versicherten verlorener Unterhalt ausgeglichen wird. Dies kann durchaus neben dem durch § 22 b Abs.1 Satz 1 FRG erfolgten Systemwechsel gelten. Durch die lückenhaften Regelungen im FRG zeigt der Gesetzgeber, dass er nicht völlig auf ein System der bloßen Existenzsicherung umgestellt hat. Die Neufassung des FRG trifft nur für Einzelpersonen und für Ehegatten bzw. Lebensgemeinschaften Regelungen. Der Bedarf einer Witwe ist durchaus anders gelagert als der von Einzelpersonen oder Ehegatten und stellt damit einen sachlichen Differenzierungsgrund dar. Gerade Witwen wie die Klägerin, deren Ehemänner bereits vor über 20 Jahre verstorben sind, haben im Regelfall ihr wirtschaftliches Auskommen mit einer eigenen Rente und einer Hinterbliebenenrente eingerichtet.

Somit ist zusammenfassend festzustellen, dass eine Auslegung von § 22 b FRG nicht zu der von der Beklagten praktizierten Verwaltungsübung führt. Die soziale Auslegungsmaxime (§ 2 SGB I) sowie Sinn und Zweck von Witwenrenten legen die vom SG und BSG vorgenommene Auslegung nahe. Liegt eine derart offen interpretierbare Rechtslage vor, kann bei einer anspruchsverkürzenden Praxis nicht davon ausgegangen werden, dass sie dem Vorbehalt des Gesetzes genügt. Rechtshindernde Einwendungen im öffentlichen Recht bedürfen einer genauen gesetzlichen Grundlage. Es muss für den Rechtsanwender klar ersichtlich ist, wann die Rechtsfolge der Anspruchsverkürzung eintritt. Der Gesetzgeber hätte insoweit genau den personellen Anwendungsbereich der in § 22 b Abs.1 FRG vorgesehenen Rechtsfolge regeln müssen, z. B. dass für alle Renten eines einzelnen Berechtigten nur insgesamt höchstens ein Wert von 25 EP an FRG- Zeiten zugrundegelegt werden darf. Dies hat der Gesetzgeber bereits bei Erlass der involvierten Norm durch das WFG nicht getan, aber auch nicht im Rentenreformgesetz 1999 mit Einführung des § 22 b Abs.1 Satz 3 FRG und nicht im Zusammenhang mit der Einführung von § 14 a FRG (AVmEG vom 21.03.2001), wo zwar für Hinterbliebene auch der Begriff "Berechtigte" verwendet wird, aber Hinterbliebenenrente für den nichtdeutschen Ehegatten völlig ausgeschlossen wird. Auch die Rechtsprechung des 4. Senats des BSG vom 30.08.2001 hat der Gesetzgeber nicht zum Anlass eine Änderung genommen.

Die Berufung der Beklagten ist daher zurückzuweisen.

Der Klägerin sind ihre außergerichtlichen Kosten von der unterlegenen Beklagten in vollem Umfang zu erstatten (§ 193 SGG).

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 160 Abs.2 Nr.1 SGG). Er folgt mit seiner Entscheidung zwar der höchstrichterlichen Rechsprechung.

Dennoch gibt es bei nicht eindeutiger Rechtslage eine erhebliche Anzahl von Gegenmeinungen in der Literatur (vgl. Göhde, Zur Anwendung der Begrenzung auf 25 Entgeltpunkte nach § 22 b Abs.1 FRG bei mehreren Renten eines Berechtigten, in: Mitteilungen der LVA Rheinprovinz 2002, 313; VDR-Kommentar Anhang 2.1 Anm.4.1 zu § 22 b FRG; Becker, Nachrichtenblatt der LVA Baden 1997,151; Stockhaus, Mitteilungen der LVA Rheinprovinz, 1997 325-328; Moser, Kompaß 1996, 500; Polster, DRV 1998, 99).
Rechtskraft
Aus
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