L 9 AL 295/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 36 AL 1284/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AL 295/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 29. März 2001 abgeändert und der Entscheidungstenor in Ziffer I wie folgt neu gefasst: Die Bescheide der Beklagten vom 14. Mai 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. August 1997 werden aufgehoben, soweit die Beklagte darin die Bewilligung des Arbeitslosengeldes vom 1. bis 28. Februar 1997 zurückgenommen und Erstattung der Leistungen sowie hinsichtlich des 1. April 1997 der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung verlangt hat. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen, sowie sie nicht nach Ziffer I obsiegt hat.
III. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des ersten und zweiten Rechtszuges zur Hälfte zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Rücknahme und Erstattung des Arbeitslosengeldes sowie die Erstattung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung streitig.

Der am 1972 geborene Kläger reiste am 10.11.1994 als Spätaussiedler aus der Russischen Föderation in das Bundesgebiet ein. Nach den Angaben in seinem Arbeitsbuch hatte er in Russland eine unvollständige Mittelschulausbildung erhalten und war beruflich als Montagearbeiter und Kraftfahrer, zuletzt als "Kraftfahrer der 1. Klasse", beschäftigt gewesen.

Vom Dezember 1994 bis Mai 1995 besuchte er einen ganztägigen Intensivkurs in der deutschen Sprache. Eingliederungshilfe der Beklagten bezog er vom 11.11.1994 bis zur Erschöpfung des Anspruchs am 11.05.1995. Vom 18.07.1995 bis 05.08.1996 stand er als Helfer bei einem Kunststoff-Unternehmen, vom 01.09. bis 31.12.1996 als Kraftfahrer in Arbeit. Das zuletzt genannte Beschäftigungsverhältnis war wegen witterungsbedingter Einstellung des Fuhrbetriebs mit der Zusage oder Möglichkeit der Wiedereinstellung beendet worden.

Am 23.12.1996 meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Als Anschrift gab er an: K. Straße, E ... In Ziffer 7 des Antrags versicherte er unter dem Datum 30.01.1996 unter anderem, dass er Änderungen seiner Angaben unverzüglich anzeigen werde. Das Merkblatt für Arbeitslose "Ihre Rechte, Ihre Pflichten" habe er erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen. Mit Wirkung vom 01.01.1997 bezog er Arbeitslosengeld in Höhe von 361,20 DM wöchentlich (Bewilligungsbescheid vom 06.02.1997). Nachdem zwei Einladungen zur Vorsprache im Arbeitsamt für den 01.04.1997 und 04.04.1997 mit dem Postvermerk "unbekannt verzogen" zurückgekommen waren, erhielt die Beklagte am 07.04.1997 von der Gemeinde E. die Auskunft, dass der Kläger am 01.02.1997 nach I.ring, W. verzogen sei. Ab 01.04.1997 stand der Kläger wieder in Arbeit.

Nach Anhörung des Klägers nahm die Beklagte mit Bescheid vom 14.05.1997 die Entscheidung über die Bewilligung des Arbeitslosengeldes ab 01.02.1997 ganz zurück und verlangte vom Kläger die Erstattung des in der Zeit vom 01.02. bis 01.04.1997 für 51 Tage gezahlten Arbeitslosengeldes in Höhe von 3.070,20 DM, weil der Kläger nicht erreichbar und damit nicht für die Arbeitsvermittlung verfügbar gewesen sei. Mit einem weiteren Bescheid vom 14.05.1997 verlangte sie vom Kläger die Erstattung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung vom 01.02. bis 01.04.1997 in Höhe von 652,12 DM und 80,92 DM.

Im Widerspruch machte der Kläger im Wesentlichen geltend: Nach der Winterpause sollte er wieder bei seinem Arbeitgeber eingestellt werden. Ihm sei eine Wohnung in W. zugewiesen worden. Als Aussiedler seien nun Möbel zu besorgen gewesen. Das sei mit viel Zeitaufwand verbunden gewesen. Zuvor habe er gerade ein Auto auf Raten gekauft, um überhaupt in die Arbeit zu kommen. Seine Frau habe nicht arbeiten können, weil sie ein kleines zweijähriges Kind hätten. Wegen dieser Sorgen habe er vergessen, dem Arbeitsamt seinen neuen Wohnort mitzuteilen. Außerdem kenne er die deutschen Gesetze und Vorschriften noch nicht so genau, um alles richtig machen zu können. Auf alle Fälle sei es keine böse Absicht von ihm gewesen. Zudem habe er gedacht, dass für B. und W. das gleiche Arbeitsamt zuständig sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 14.08.1997 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.

Am 20.08.1997 erhob der Kläger beim Sozialgericht München Klage und machte geltend, die Rückforderung bedeute für ihn eine unbillige Härte. Sie seien eine junge Familie mit einem Kind und könnten bei Aufrechterhaltung der Entscheidung ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten. Er sei damals an Hepatitis C erkrankt gewesen und habe den Kopf für behördliche Dinge nicht frei gehabt. Er habe nicht gewusst, dass er eine neue Anschrift dem Arbeitsamt mitteilen müsse. Bei seiner erstmaligen Vorsprache bei der Beklagten im November 1994 habe er keine Deutschkenntnisse gehabt. Einen Nachsendeantrag bei der Deutschen Bundespost habe er nicht gestellt, weil der Verwalter des Aussiedlerheimes gesagt habe, dass die Post automatisch nachgesandt werde; dem Verwalter sei seine neue Anschrift bekannt gewesen. Der Kläger legte unter anderem in Ablichtung Schreiben der Gemeinnützigen Baugenossenschaft W. und des Landratsamtes B. vor mit Angaben über die Zuteilung der Wohnung und den Abschluss des Mietvertrages.

Mit Urteil vom 29.03.2001, der Beklagten zugestellt nicht vor dem 02.07.2001, hob das Sozialgericht die Bescheide vom 14.05.1997 und 14.08.1997 auf. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei es neuerliche Praxis der Beklagten, grobfahrlässige Unkenntnis nicht anzunehmen, wenn der Arbeitslose einen Postnachsendeantrag gestellt habe und die alte und neue Anschrift in demselben Arbeitsamtsbezirk lägen. Im Hinblick auf die geographische Lage von E. und W. liege ein Umzug im Nahbereich vor, zumal beide Orte im Arbeitsamtsbezirk Rosenheim lägen. Dass sich der Kläger auf die Zusage des Verwalters des Aussiedlerheimes verlassen habe, die Post werde automatisch nachgeschickt, entspreche einem Postnachsendeantrag. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass dem Kläger der Bewilligungsbescheid offensichtlich zugegangen sei und er deswegen darauf habe vertrauen dürfen, dass ihn auch die weitere Post der Beklagten unverzüglich erreiche. Im Hinblick auf den maßgeblichen subjektiven Sorgfaltsmaßstab seien in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen das Alter des Klägers, seine mangelnden Sprachkenntnisse bei der erstmaligen Einreise in die Bundesrepublik, die Tatsache, dass er nicht in seiner Muttersprache belehrt worden sei, sein gleichzeitiger Umzug mit der Notwendigkeit, die erforderliche Einrichtung zu besorgen sowie seine glaubhafte Erkrankung. Grobe Fahrlässigkeit des Klägers liege daher nicht vor.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 30.07.2001 eingelegte Berufung der Beklagten. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts entfalle die Rücknahmevoraussetzung nach § 45 Abs.2 Satz 3 Nr.2 SGB X nicht deswegen, weil der Kläger bei der Arbeitslosmeldung seine damals noch gültige Anschrift richtig angegeben habe. Es bestehe auch die Verpflichtung, Änderungen anzuzeigen, die nach der Antragstellung, aber vor der Entscheidung eingetreten seien. Den hier anzulegenden subjektiven Sorgfaltsmaßstab habe der Kläger eindeutig verletzt, denn er habe entgegen der eigenen Versicherung im Antrag die für den Leistungsanspruch maßgebliche Änderung des Wohnorts nicht angezeigt. Auch die Rücknahmevoraussetzungen nach § 45 Abs.2 Satz 3 Nr.3 SGB X lägen vor. Der Kläger habe das Merkblatt für Arbeitslose erhalten und nach seiner Erklärung im Antrag von dessen Inhalt Kenntnis genommen. Tatsächlich habe er aber eingeräumt, dass er das Merkblatt nicht gelesen habe. Entsprechend dazu habe der Kläger in seiner Klagebegründung ausgeführt, er habe nicht gewusst, dass er eine neue Anschrift unverzüglich mitteilen müsse. Weshalb das Alter des Klägers hier eine Rolle spielen solle, habe das Sozialgericht nicht weiter ausgeführt. Der im streitigen Zeitraum 24 Jahre alte Kläger habe weder das erste Mal im Leistungsbezug gestanden, noch sei ansonsten ersichtlich, dass eine besondere Unerfahrenheit vorliegen könnte. Für den Fall, dass seine Sprachkenntnisse nicht ausgereicht haben sollten, habe der Kläger die Pflicht gehabt, sich der Hilfe eines Dolmetschers zu bedienen. Die Anschaffung von Einrichtungsgegenständen habe den Kläger nicht von den ihm obliegenden Pflichten entbunden und sei nicht geeignet, den Vorwurf grober Fahrlässigkeit zu entkräften. Ebensowenig könne der Kläger sich darauf berufen, dass er wegen seiner Erkrankung gehindert gewesen sei, seinen Mitteilungspflichten nachzukommen. Unter anderem könne die Erkrankung nicht so schwerwiegend gewesen sein, dass sie den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit entkräften würde. Anhaltspunkte für das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit bestünden nicht. Ferner dürfe bezweifelt werden, dass die mit einer Vielzahl von Aufgaben betraute Verwaltung eines Aussiedlerheimes es auf sich nehme, die für ehemalige Bewohner noch eingehende Post personal- und kostenintensiv weiter zu leiten, wenn diese Nachsendung, wie allgemein üblich, allein durch einen Nachsendeauftrag an die Post geregelt werden könne. Seinen Pflichten könne sich der Kläger nicht durch Bezugnahme auf Dritte entziehen; soweit er dennnoch Dritte einschalte, müsse er deren Versäumnisse gegen sich gelten lassen. Ein Ermessensspielraum habe für die Beklagte nach § 330 Abs.2 SGB III nicht bestanden.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Auf Anfrage des Senats hat der behandelnde Arzt Dr.Ullrich in einem Schreiben vom 28.01.2002 mitgeteilt, dass der Kläger von März 1995 bis Januar 1997 in seiner Behandlung gestanden habe. Am 16.09.1996 habe er einen Ikterus (Gelbsucht) bei Verdacht auf chronische Hepatitis C festgestellt. Der Kläger sei bis 09.10.1996 arbeitsunfähig gewesen. Die Gelbsucht sei nach vier Wochen abgeklungen gewesen. Die Laborwerte hätten sich innerhalb von vier Monaten normalisiert, was bei einer Kontrolle am 22.01.1997 festgestellt worden sei. Innerhalb des Zeitraums Dezember 1996 bis April 1997 sei der Kläger am 09.12.1996 wegen eines Rezeptes für Reizhusten und am 22.01.1997 zur Kontrolle der Laborwerte in seine Sprechstunde gekommen.

Der Senat hat eine Auskunft der Caritas Beratungsstelle für Aussiedler vom 09.10.2002 eingeholt, auf die im Einzelnen verwiesen wird.

Dem Senat haben bei seiner Entscheidung die Akten der Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge vorgelegen. Wegen des Vortrags der Beteiligten im Einzelnen wird auf die eingereichten Schriftsätze und die gerichtlichen Niederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Gegenstand des Verfahrens ist der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 14.05.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.08.1997; ferner auch der die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung betreffende Bescheid vom 14.05.1997, der gesondert erlassen wurde. Der Widerspruchsbescheid und das Urteil des Sozialgerichts sind dahin auszulegen, dass auch über diesen Beitragsbescheid entschieden wurde. Während des Sozialgerichtsverfahrens ist die Beklagte mit Schriftsatz vom 20.11.2000 sinngemäß davon ausgegangen, dass der Beitragsbescheid Gegenstand des Verfahrens ist.

Rechtsgrundlage für die Rücknahme des am 06.02.1997 ergangenen Bescheides über die Bewilligung von Arbeitslosengeld bezüglich der Zeit vom 01.02. bis 31.03.1997 kann nur § 45 SGB X sein. War die Bewilligung der Leistung nämlich wegen des Umzugs vom 01.02.1997 ab diesem Zeitpunkt rechtswidrig, so war sie es von Anfang an.

Nach § 45 Abs.1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Abs.2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Gemäß § 45 Abs.2 Satz 1 darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Nach Abs.2 Satz 3 dieser Vorschrift kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen, soweit (1.) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, (2.) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat oder (3.) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

In der hier vorliegenden Streitsache ist die Bewilligung des Arbeitslosengeldes deswegen ab 01.02.1997 rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 100 in Verbindung mit § 103 Abs.1 Satz 1 Nr.3 AFG für die Leistungsgewährung nicht mehr vorgelegen haben. Danach stand der Arbeitslose der Arbeitsvermittlung unter anderem nur zur Verfügung, wenn er das Arbeitsamt täglich aufsuchen konnte und für das Arbeitsamt erreichbar war. In Verbindung mit § 1 Satz 1 der Aufenthalts-Anordnung der Bundesanstalt für Arbeit vom 03.10.1979, ANBA S.1388, lag Erreichbarkeit nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur vor, wenn der Arbeitslose unter der Wohnanschrift, die er im Leistungsantrag der Beklagten bekannt gegeben hat, von dieser und deren Bediensteten täglich zumindest während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost tatsächlich dort angetroffen werden konnte. Eine irgendwie geartete anderweitige Erreichbarkeit genügte grundsätzlich nicht, hinsichtlich der postalischen Erreichbarkeit auch nicht die Stellung eines Nachsendeantrags bei der Post. Die Briefpost musste dem Arbeitslosen unmittelbar, d.h. ohne Verzögerungen durch Nachforschungen, ohne Einschaltung dritter Personen und ohne Abhängigkeit von Zufällen zugestellt werden können (BSG 29.11.1989 SozR 4100 § 103 Nr.47 insbesondere S.132, 133; Urteil vom 14.03.1996 SozR 3-4100 § 103 Nr.16 insbesondere S.64; Urteil vom 02.03.2000 SozR 3-4100 § 103 Nr.22 insbesondere S.86). Das BSG hat die Erreichbarkeit des Arbeitslosen auch dann verneint, wenn die Wohnung lediglich innerhalb des bisherigen Wohnortes in eine andere Straße verlegt worden ist; denn es sei nicht gewährleistet, dass der Arbeitslose für das Arbeitsamt jederzeit unter der neuen Wohnanschrift erreichbar sei (vgl. Urteil vom 24.04.1997 - 11 RAr 89/96 Juris-Nr. KSRE 018850907). Aus dieser Rechtsprechung folgt, dass der Kläger der Arbeitsvermittlung ab seinem unstreitig am 01.02.1997 erfolgten Umzug nach W. nicht mehr zur Verfügung stand.

Es kann hier dahingestellt bleiben, ob dieser Rechtsprechung weiter zu folgen ist, wenn bei einem gestellten Nachsendeantrag die Zustellung der Briefpost gleichwohl ohne Verzögerung stattfinden konnte, etwa durch Berücksichtigung des Nachsendeantrags im Voraus durch denselben Postzusteller. Die Beklagte ging auch für das bis zum 31.12.1997 geltende Recht bei Umzug innerhalb einer Wohngemeinde und sogar einer Nachbargemeinde davon aus und verneinte "weitgehend" eine Rücknahmemöglichkeit (Runderlass vom 25.11.1998). Doch ist hier zu berücksichtigen, dass der Kläger zwar in eine nahegelegene Gemeinde verzogen ist, aber keinen Nachsendeantrag bei der Post gestellt hat. Selbst wenn man hier die vom Kläger vorgetragene Bereitschaft des Wohnheimverwalters in E. zur Nachsendung der Post unterstellt, konnten Postsendungen den Kläger nicht ohne wesentliche Verzögerung erreichen; denn sie kamen erst bei dem Wohnheim in B. an und mussten sodann an die neue Anschrift weiter gesandt werden.

Die Rücknehmbarkeit der Bewilligung des Arbeitslosengeldes beruhte ferner, soweit sie aus dem Umzug des Klägers folgt, auf Angaben, die der Kläger in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig im Sinne von § 45 Abs.2 Satz 3 Nr.2 SGB X gemacht hat. Die Angabe der Adresse im Antrag auf Arbeitslosengeld war zwar zunächst zutreffend, wurde aber mit dem Umzug am 01.02.1997 unrichtig. Der Kläger war aufgrund seiner Mitwirkungspflicht nach § 60 Abs.1 Satz 1 Nr.2 SGB I gehalten, diese Änderung unverzüglich der Beklagten mitzuteilen (s. auch BSG Urteil vom 29.04.1997 - 5 RJ 46/96 - Juris-Nr. KSRE 023510908 S.5). Die Unterlassung dieser Verpflichtung ist, wie auch sonst und allgemein, der aktiven Falschangabe im Sinne des § 45 Abs.2 Satz 3 Nr.2 SGB X gleichzustellen (so wohl auch Wiesner in: von Wulffen, SGB X, § 45 Rdnr.22).

Die weitere, hier allein in Betracht kommende Voraussetzung des § 45 Abs.2 Satz 3 Nr.2 SGB X, dass die falsche Angabe grob fahrlässig erfolgt ist, hängt davon ab, ob der Kläger die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Es müssen ganz naheliegende und einfache Überlegungen nicht angestellt worden sein. Maßgeblich sind nach dem hier anzuwendenden subjektiven Fahrlässigkeitsbegriff die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit sowie das Einsichtsvermögen des Betroffenen (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG SozR 3-1300 § 45 SGB X Nr.45 S.152, 153 mit weiteren Nachweisen).

Dass der Kläger ferner den Wechsel seiner Wohnadresse melden musste, ergibt sich hinreichend klar aus dem Merkblatt für Arbeitslose, das der Kläger nach seinen Angaben im Antrag erhalten und von dessen Inhalt er Kenntnis genommen hat (Merkblatt für Arbeitslose Stand 1996 S.10, 17, 51). Da das Außerachtlassen der Hinweise eines Merkblatts in der Regel grob fahrlässig ist (vgl. BSG, Urteil vom 24.04.1997 - 11 RAr 89/96, Juris-Nr. KSRE 018850907 S.6 mit weiteren Nachweisen) spricht dies für das Vorliegen der Rücknahmevoraussetzungen.

Doch gilt dies ausnahmsweise aus besonderen Gründen nicht für die Zeit bis zum 28.02.1997.

Bei seiner persönlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung hat der Senat den Eindruck gewonnen, dass dem Kläger nach seiner persönlichen Beurteilungsfähigkeit der Einblick in administrativ-rechtliche Vorgänge nicht leicht fällt. Dieser Umstand mag durch die ohnehin schwierige Eingewöhnung in Strukturen und Bedingungen des Lebens in der Bundesrepublik verstärkt worden sein. Davon ausgehend kann für einen gewissen Zeitraum nach dem Umzug nur das Vorliegen eines geringeren Fahrlässigkeitsgrades, nicht aber von grober Fahrlässigkeit bejaht werden (zum möglichen Entfallen der groben Fahrlässigkeit bei Stellung eines Nachsendeantrags vgl. BSG Urteil vom 24.04.1997 - 11 RAr 89/96, Juris-Nr.KSRE 018850907 S.7 m.w.N.). Die von der Caritas-Beratungsstelle im Aussiedlerheim eingeholte Auskunft hat im Wesentlichen ergeben, dass die Hausverwaltung eine Liste der neuen Adressen ausziehender Aussiedler führt. Hat der Aussiedler trotz Aufforderung keinen Nachsendeantrag bei der Post gestellt, so nimmt der Postzusteller die Sendung wieder mit, nachdem ihm der Verwalter die neue Anschrift des Aussiedlers bekannt gegeben hat. Unmittelbar durch das Heim oder durch die Caritas-Beratungsstelle werden solche Sendungen nicht weitergeschickt. Ungeachtet möglicher Missverständnisse zwischen Kläger und Verwalter ist mit der vom Kläger vorgetragenen Zusage der Heimverwaltung, Sendungen nachzuschicken, der in der Auskunft der Caritas-Beratungsstelle beschriebene Vorgang gemeint, wonach die Post nach Mitteilung der neuen Anschrift die Sendung weiterleiten konnte. Der Irrtum des Klägers, dass dies ausreiche, ist teilweise nachvollziehbar, weil die neue Wohnanschrift sich in einer nahegelegenen Gemeinde und innerhalb desselben Arbeitsamtsbezirkes befand. Der Kläger konnte sich darin ferner bestätigt fühlen, weil ihn der Bewilligungsbescheid vom 06.02.1997 erreichte. Allerdings musste der Kläger mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit entsprechend der auch ihm bekannten Aufgabe der Beklagten mit Einladungen zu Vermittlungsgesprächen rechnen. Erhielt er derartige Einladungen nicht, so war ihm eine höhere Aufmerksamkeit abverlangt. Der Senat hält dafür in der vorliegenden Streitsache einen Zeitraum von einem Monat für angemessen, nach dessen Ablauf die Voraussetzungen einer Rücknahme gemäß § 45 Abs.2 Satz 3 Nr.2 SGB X gegeben waren. Die vom Kläger angeführte Erkrankung war zu dieser Zeit bereits abgeklungen. Auch die mit einem Umzug verbundenen Belastungen entbanden den Kläger nicht von seiner Verpflichtung, seinen Umzug der Beklagten mitzuteilen.

Die weiteren Voraussetzungen des § 45 SGB X liegen vor; insbesondere wurde die Jahresfrist des Abs.4 Satz 2 eingehalten.

In Bezug auf den 01.04.1997 beruht die Aufhebung der Leistungsbewilligung auf § 48 Abs.1 Satz 1, 2 Nr.2 und 4 SGB X. Der Kläger stand nach seinen Angaben und der Arbeitsbescheinigung wieder in einem nicht nur kurzzeitigen Beschäftigungsverhältnis und war damit nicht mehr arbeitslos (§§ 100, 101 AFG). Auch wenn er nur ganz einfache und naheliegende Überlegungen anstellte, musste ihm klar sein, dass er die Aufnahme der Arbeit der Beklagten rechtzeitig zu melden hatte und keinesfalls Arbeitslosengeld beziehen durfte.

Ermessen musste die Beklagte nicht ausüben (§ 152 Abs.2, 3 AFG).

Soweit die Bewilligung des Arbeitslosengeldes nach alledem zu Recht zurückgenommen worden ist, durfte die Beklagte auch gemäß § 50 Abs.1 Satz 1 SGB X das Arbeitslosengeld für die entsprechende Zeit zurückverlangen.

Nach § 157 Abs.3a Satz 1 in Verbindung mit § 166c Satz 2 AFG konnte die Beklagte ab 01.03.1997 die Erstattung der Beiträge für Kranken- und Pflegeversicherung verlangen, da insoweit die Bewilligung des Arbeitslosengeldes zu Recht rückwirkend aufgehoben und die Leistung zurückgefordert worden ist. Allerdings hat für den Kläger am 01.04.1997 aufgrund seiner Beschäftigung ein weiteres Krankenversicherungs-Verhältnis nach § 5 Abs.1 Nr.1 SGB V bei der AOK bestanden Daher ist der Kläger für den 01.04.1997 in jedem Fall von der Erstattungspflicht befreit (§ 157 Abs.3a Satz 2 Halbsatz 2 AFG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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