L 18 V 2/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 5 V 8/99 ZVW
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 V 2/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein früherer Verwaltungsbeamter ist nicht nur vom Richteramt ausgeschlossen, wenn er bei dem Erlass des im Streit befindlichen Verwaltungsaktes mitgewirkt hat, sondern auch dann, wenn er den erlassenen Verwaltungsakt als Sitzungsvertreter der Behörde vor Gericht verteidigt und aufrecht erhält.
2. Eine Sachentscheidung auf Grund der vom Sozialgericht (SG) erhobenen Beweise kann das Berufungsgericht dann nicht treffen, wenn die tatsächlichen Feststellungen des SG nicht von einem ordnungsgemäß besetzten Gericht getroffen worden sind. Diese Feststellungen dürfen einer Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden (ebenso für das Revisionsverfahren BSGE 44, 133, 135 und BSGE 9, 153, 158).
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 06.11.2000 aufgehoben. Die Streitsache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Bayreuth zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob eine Lungen-TBC und ein Hüftgelenksleiden links als weitere Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anzuerkennen sind und Rente nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) als 30 vH zu gewähren ist.

Bei dem am 1924 geborenen Kläger sind mit Bescheid vom 22.03.1952 als Schädigungsfolgen mit einer MdE von 30 vH anerkannt: 1. Verwundungsnarben am linken Knie 2. Knochenauswuchs am linken Oberschenkel 3. Narben nach Verwundung und Rippenresektion am Rücken rechts infolge Lungenschussverletzung.

Der Kläger beantragte am 16.02.1994 die Feststellung einer Verschlimmerung der Lungenschussverletzung wegen einer 1993 aufgetretenen Lungen-TBC. Der Beklagte lehnte den Antrag nach Begutachtung mit Bescheid vom 20.07.1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 15.02.1995 ab. Die hiergegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) Bayreuth mit Urteil vom 24.09.1998 nach Einholung von Gutachten der Internisten Dr.K. und Dr.T. vom 06.03.1998 bzw 22.07.1998 ab. Das Bayer.Landessozialgericht (LSG) sah im anschließenden Berufungsverfahren einen Verfahrensfehler des SG darin, dass der Ursachenzusammenhang eines geltend gemachten orthopädischen Leidens mit Kriegsereignissen von Internisten beurteilt worden war, hob das Urteil auf und verwies die Streitsache an das SG zurück (Urteil vom 03.03.1999).

Der zunächst zuständige Vorsitzende der 5. Kammer, Richter am Sozialgericht K. , hat ein Gutachten des Facharztes für Chirurgie und Gynäkologie Dr.G. vom 17.12.1999 zu der Frage eingeholt, ob das Hüftleiden des Klägers auf Kriegsereignisse zurückzuführen sei. Der durch eine Änderung der Geschäftsverteilung zuständig gewordene RiSG U. (U) hat Frau Dr.R.S. (S) als Zeugin schriftlich zum Gesundheitszustand des Klägers im Jahre 1943 vernommen. RiSG U hat die Beteiligten mit Schreiben vom 09.03.2000 darauf hingewiesen, dass er den Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 03.03.1999 vor dem LSG vertreten und die Zurückweisung der Berufung beantragt hatte. Er hat den Beteiligten gegenüber geäußert, allein die Vertretung des Beklagten vor einem Gericht führe nicht zwangsläufig dazu, dass der Richter kraft Gesetzes nach § 60 Abs 2 SGG wegen Mitwirkung an der Verwaltungsentscheidung ausgeschlossen sei, denn diese sei mit Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides abgeschlossen. Er hat den Beteiligten Gelegenheit gegeben, dazu Stellung zu nehmen, ob wegen dieses Sachverhalts die Objektivität des Vorsitzenden in Frage stehe und beabsichtigt sei, einen entsprechenden Befangenheitsantrag zu stellen. Die Beteiligten haben mit Schreiben vom 20.03.2000 und 22.03.2000 erklärt, keine Befangenheitsanträge stellen zu wollen. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 06.11.2000 abgewiesen und sich auf die von ihm gehörten Sachverständigen Dr.K. , Dr.T. und Dr.G. gestützt.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und sich gegen die vom SG eingeholten Sachverständigengutachten gewandt.

Der Kläger hat beantragt,

das Urteil des SG Bayreuth vom 06.11.2000 und den Bescheid vom 20.07.1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 15.02.1995 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm als weitere Schädigungsfolge "Lungen-TBC und Hüftgelenksleiden links" anzuerkennen und die MdE entsprechend zu erhöhen. Außerdem hat er beantragt, die Zeugin R.S. persönlich einzuvernehmen und ein orthopädisches Gutachten einzuholen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Bayreuth vom 06.11.2000 zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben auf einen Hinweis des Berichterstatters (BE), dass der Senat beabsichtige, wegen fehlerhafter Besetzung des SG die Streitsache zurückzuweisen, ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den BE und im schriftlichen Verfahren erklärt.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Beschädigtenakte des Klägers und die Gerichtsakten der ersten und zweiten Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Entscheidung kann durch den BE ergehen, da die Beteiligten mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren und durch den Berichterstatter einverstanden sind (§§ 124 Abs 2, 155 Abs 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz ).

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 153 SGG) ist zulässig und iS der Zurückverweisung an das SG Bayreuth begründet.

Das LSG kann durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 159 Abs 1 Nr 2 SGG).

Das sozialgerichtliche Urteil leidet an einem wesentlichen (absoluten) Verfahrensmangel, da der Kammervorsitzende RiSG U von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen war. Das Urteil des SG beruht auf einem unbedingten Verfahrensfehler (§ 202 SGG iVm § 551 Nr 2 Zivilprozessordnung ). RiSG U hätte an dieser Entscheidung nicht mitwirken dürfen, da er von der Ausübung des Richteramtes in diesem Rechtsstreit kraft Gesetzes ausgeschlossen war (§ 60 Abs 2 SGG; § 1 Deutsches Richtergesetz). Er hatte nämlich im Verwaltungsverfahren mitgewirkt, in dem er als Sitzungsvertreter des Beklagten im Berufungsverfahren vor dem LSG den angefochtenen Verwaltungsakt aufrecht erhalten und die Zurückweisung der Berufung beantragt hat.

Gemäß § 60 Abs 2 SGG ist von der Ausübung des Amtes als Richter ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat. Dabei ist nicht erforderlich, dass der Richter den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, vielmehr genügt jede amtliche Tätigkeit im Verwaltungsverfahren (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 6.Aufl § 60 RdNr 5). Hierunter fällt auch die Vertretung des Beklagten im Streit um die Rechtmäßigkeit des erlassenen Verwaltungsaktes vor dem SG. Der Verwaltungsbeamte tritt vor Gericht als Behördenvertreter auf. Seine Tätigkeit stellt sich als Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens dar. Ein Verwaltungsbeamter ist deshalb nicht nur vom Richteramt ausgeschlossen, wenn er bei dem Erlass des im Streit befindlichen Verwaltungsaktes mitgewirkt hat, sondern auch dann, wenn er den erlassenen Verwaltungsakt als Sitzungsvertreter der Behörde vor Gericht verteidigt und aufrecht erhält. Bei dieser Auslegung des Begriffs der Mitwirkung iS des § 60 Abs 2 SGG handelt es sich nicht um eine (unzulässige) Erweiterung der gesetzlich aufgezählten Gründe für den Ausschluss des Richters von der Ausübung des Richteramts im Wege der Interpretation. Die Gründe für die Ausschließung vom Richteramt sind abschließend aufgezählt und in einer analogen Anwendung auf ähnlich liegende Fälle nicht zugänglich (so BSG-Urteil vom 23.09.1997 Az: 2 BU 31/97). Ein (früherer) Beamter des Beklagten ist aber nur dann nicht von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen, wenn er an einem Bescheid mitgewirkt hat, der rechtskräftig geworden ist und n i c h t im Streit steht (so BSG SozEntsch § 60 Nr 7). Der Normzweck des § 60 Abs 2 SGG verbietet die Ausübung des Richteramtes, wenn der Richter auf das Ergebnis der von ihm überprüften Verwaltungsentscheidung als Verwaltungsbeamter Einfluss nehmen konnte (ebenso Bundesverwaltungsgericht in DÖV 1983 S 552).

Der Ausschlussgrund des § 60 Abs 2 SGG ist nicht deshalb unbeachtlich, weil sich die Beteiligten auf die mündliche Verhandlung vor dem nicht richtig besetzten SG eingelassen und dort Anträge gestellt haben, ohne den Ausschlussgrund geltend zu machen. Dies gilt nach der gemäß § 60 Abs 1 Satz 2 SGG entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 43 Zivilprozessordnung (ZPO) allein für die Ablehnung wegen eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit nach § 42 ZPO, aber nicht für die Ausschließungsgründe nach § 41 ZPO und damit auch nicht für den speziell in § 60 Abs 2 SGG geregelten Ausschlussgrund der Mitwirkung am vorausgegangenen Verwaltungsverfahren (so auch BSG, Urteil vom 24.04.1991 Az: 9 a RV 1/91).

Bei dem hier vorliegenden absoluten Revisionsgrund des § 551 Nr 2 ZPO beruht die Entscheidung des SG stets auf dem Verfahrensmangel (Meyer-Ladewig aaO § 159 RdNr 3 a).

Es liegt im Ermessen des Senats, ob er in der Sache selbst entscheidet oder zurückverweisen will. Die Zurückverweisung soll die Ausnahme sein (aaO § 159 Anm 5 mwN). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer Sachentscheidung sowie dem Grundsatz der Prozessökonomie und dem Verlust einer Instanz hält der Senat wegen der Schwere des Verfahrensverstoßes und der noch notwendigen umfangreichen medizinischen Beweisaufnahme und einer evtl Zeugeneinvernahme eine (erneute) Zurückverweisung für geboten.

Bei Vorliegen eines absoluten Verfahrensmangels ist die Bestätigung des angefochtenen Urteils grundsätzlich nicht möglich (BSGE 75, 74 mwN). Die Rechtsprechung hat aber seit jeher Ausnahmen von diesem Grundsatz gekannt, wenn trotz des Verfahrensverstoßes ein Erfolg der Sache ausgeschlossen erschien. Ein solcher Ausnahmefall liegt trotz der vom SG eingeholten Gutachten nicht vor. Zum einen könnte eine erneute medizinische Beweisaufnahme vor dem Senat zu einem abweichenden Ergebnis führen, insbesondere auf internistischem Gebiet, da die Sachverständigen des SG den Ursachenzusammenhang der Lungen-TBC mit der Kriegsverletzung mit unterschiedlicher Begründung abgelehnt haben, mit der Folge, dass die Gutachten möglicherweise in sich nicht widerspruchsfrei sind. Zum anderen kann der Senat die Sachverständigengutachten weder im Wege des Sachverständigenbeweises noch des Urkundenbeweises verwerten. Eine Sachentscheidung aufgrund der vom SG erhobenen Beweise (Sachverständigengutachten) kann der Senat deshalb nicht treffen, weil die tatsächlichen Feststellungen des SG nicht von einem ordnungsgemäß besetzten Gericht getroffen worden sind. Diese Feststellungen dürfen einer Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden (so für das Revisionsverfahren BSGE 44, 133, 135 und BSGE 9, 153, 158). Die Sachverständigengutachten können auch nicht etwa deshalb als Sachverständigenbeweis vom Senat herangezogen werden, weil ein anderer Kammervorsitzender die entsprechenden Beweisanordnungen erlassen hat. Für die Beweiserhebung gilt nämlich der Grundsatz der Unmittelbarkeit, dh die Beweisaufnahme hat grundsätzlich vor dem erkennenden Gericht stattzufinden (Meyer-Ladewig aaO vor § 60 RdNr 7). Zwar wird dieser Grundsatz häufig - wie auch hier - durch die Einholung von Sachverständigengutachten nach § 106 Abs 3 Nr 5 SGG durch den Vorsitzenden durchbrochen (aaO § 117 RdNr 3). Gleichwohl handelt es sich bei der Verwertung solcher medizinischen Sachverständigengutachten um eine Beweisaufnahme des erkennenden Gerichts. Dieses hat gemäß § 103 SGG den medizinischen Sachverhalt festzustellen, den es seinem Urteil zugrunde liegt. Es kann sich hierzu medizinischer Sachverständiger bedienen, die dem Gericht ihr Fachwissen zur Beurteilung von Tatsachen vermitteln (Thomas/Putzo vor § 402 RdNr 1). Der Vorsitzende hat die erstatteten Gutachten auf seine Vollständigkeit zu prüfen und ggfs für eine Ergänzung oder Klarstellung zu sorgen. Diese umfassende Einflussnahme des erkennenden Gerichts auf die Tatsachenfeststellung rechtfertigt es, die erhobenen Beweise nicht zu verwerten. Die Sachverständigengutachten können auch nicht im Wege des Urkundenbeweises herangezogen werden. Es muss für den Rechtsuchenden bereits der Anschein vermieden werden, dass die Entscheidung durch Beweise beeinflusst wird, die von einem unzuständigen Richter erhoben worden sind. Bei einem Absehen von einer Zurückverweisung wäre der Senat als Tatsacheninstanz gehalten, in eine erneute umfangreiche Beweiserhebung einzutreten. Von dieser Möglichkeit macht er in Ausübung des ihm zustehenden Ermessens keinen Gebrauch.

Das SG wird nach alledem erneut Beweis zu erheben haben. Dabei ist auch die Aussage der Zeugin S - ggfs nach ihrer persönlichen Einvernahme - in die medizinische Sachverhaltsermittlung mit einzubeziehen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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