L 4 B 381/02 KR ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 44 KR 871/02 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 B 381/02 KR ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 25. Oktober 2002 wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten auch der Beschwerde zu erstatten.

Gründe:

I.

Der am ...1949 geborene und bei der Antragsgegnerin als Rentner pflichtversicherte Antragsteller leidet nach den Angaben des zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Internisten Dr.L im Attest vom 22.07.2002 an einer fortgeschrittenen HIV-Infektion im Stadium CDC C3. Sämtliche derzeit zugelassenen Medikamente der antiretroviralen Therapie seien bei dem Virus des Antragstellers nicht mehr wirksam. Neben der HIV- Erkrankung bestünden bei ihm ein ausgeprägtes Wasting-Syndrom, ein chronisch rezidiverender Herpes zoster, Mundsoor bzw. Soorösophagitis, chronisch rezidivierende Gastritis und schwere periphere Neuropathien. Es handle sich um einen schweren immunologischen Defekt in Übereinstimmung mit dem klinischen Verlauf. Zur weiteren Behandlung seien eine phänotypische Resistenzbestimmung sowie zur Prophylaxe weiterer bakterieller und viraler Erkrankungen eine hochdosierte intravenöse Immunglobulintherapie erforderlich. Die Situation des Antragstellers sei äußerst kritisch, es bestehe ein sehr hohes zusätzliches Krankheitsrisiko sowie unmittelbare Lebensgefahr.

Der Antragsteller hatte nach Angaben seiner Prozessbevollmächtigten längere Zeit die Therapie mit Immunglobulinen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten, die Prüfungseinrichtungen bei der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns haben einem Aktenvermerk der Antragsgegnerin zufolge jedoch den Anträgen der Antragsgegnerin auf Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Verordnungen stattgegeben.

Die Antragsgegnerin lehnte mit dem bindend gewordenen Bescheid vom 24.04.2002 den Antrag auf Kostenübernahme der phänotypischen Resistenzbestimmung ab.

Am 25.06.2002 beantragte die Prozessbevollmächtigte erneut die Kostenübernahme der phänotypischen Resistenzbestimmung und die Bewilligung einer Immunglobulintherapie unter Beifügung des Attestes von Dr.L vom 22.07.2002. Es entspreche der Lehrmeinung und sei allgemein anerkannt, dass bei der HIV eine erhöhte Infektanfälligkeit gegenüber bakteriellen Infektionen, insbesondere der Atemwege, oder Viren und Pilzen sowie eine erhöhte Anfälligkeit für bösartige Tumoren und Autoimmunerkrankungen auftrete. Nach Ziffer 20 der Arzneimittel-Richtlinien dürften Immunglobulin-Präparate bei Patienten mit Immundefekt verordnet werden.

Die Antragsgegnerin holte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Bayern (MDK, Internistin Dr.B) vom 01.08.2002 ein. Die Gutachterin gelangte unter anderem zu dem Ergebnis, unter Anwendung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu dem "off-label-use" von Arzneimitteln könne die Kostenübernahme für die beantragte Therapie mit Immunglobulinen nicht empfohlen werden. Zur Prophylaxe und Behandlung der bei HIV-Infektionen vor allem in fortgeschrittenen Stadien auftretenden opportunistischen Infektionen stünden wirksame Präparate zur Verfügung, wobei eine bessere Wirksamkeit der Immunglobuline bisher nicht belegt worden sei. Die Immunglobulintherapie der HIV bei Erwachsenen entspreche nicht dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und könne nicht als gesicherter medizinischer Fortschritt gelten. Es fehlten weiterhin aussagekräftige Studien auch für eine so genannte ultima ratio-Therapie mit "IVIG" (intravenöse Immunglobuline) nach Versagen bzw. bei unvertretbaren Nebenwirkungen der inzwischen etablierten antiretroviralen Mehrfachtherapie.

Daraufhin lehnte die Antragsgegnerin mit den Bescheiden vom 02.08. und 29.08.2002 unter anderem die Kostenübernahme für die intravenöse Immunglobulintherapie ab. Hiergegen legte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers am 30.09.2002 Widerspruch ein.

Sie beantragte am 14.10.2002 beim Sozialgericht München (SG), dem Antragsteller die Kostenübernahme der intravenösen Immunglobulintherapie mit sofortiger Wirkung zu gewähren. Dem Antrag- steller stehe bereits von Gesetzes wegen ein Anspruch auf die Sachleistung Immunglobulin zu. Die Antragsgegenerin habe die streitige Therapie über Jahre hinweg erstattet. Die Ansicht der Antragsgegnerin, dass hier ein zulassungsüberschreitender Einsatz der Therapie vorliege, sei überholt; die Immunglobulintherapie habe sich in der ärztlichen Praxis etabliert. Zahlreiche Studien hätten auch den Nutzen der Behandlung mit Immunglobulinen in der HIV-Behandlung Erwachsener belegt. Die Antragsgegnerin verkenne, dass es hier um zwei Behandlungsformen, nämlich die Behandlung der HIV-Infektion sowie die Behandlung opportunistischer Infektionen, mit unterschiedlichen Therapieansätzen gehe. Mit der hochaktiven antiretroviralen Kombina- tionstherapie werde versucht, die Neubildung von HI-Viren zu unterbinden. Mit den Immunglobulinen, bei denen es sich um ein menschliches Blutprodukt handle, würden dem Betroffenen funktionstüchtige Abwehrstoffe übertragen, um so möglichen anderen Infektionen zu begegnen und hiermit den raschen Krankheitsverlauf zu verlangsamen. In der Anlage hat die Prozessbevollmächtigte Befunde des Antragstellers, ein weiteres ärztliches Attest des Internisten Dr.L sowie die Fachinformation des Immunglobulinpräparates "Octagam" (Hersteller Octapharma) beigefügt. Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsatz vom 22.10. 2002 die Kostenübernahme für den Einsatz eines zulassungspflichtigen Arzneimittels außerhalb seines Zulassungsbereiches abgelehnt und den Antragsteller auf die Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers verwiesen (Schriftsatz vom 22.10.2002). Der Antragsteller ist am 24.10.2002 in das Klinikum der Universität stationär aufgenommen worden. Mit Schriftsatz vom 28.10.2002 hat die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers zur Begründung des Widerspruchs ein weiteres Mal darauf hingewiesen, dass die von der Antragsgegnerin herangezogene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im vorliegenden Fall nicht anzuwenden sei.

Das SG hat nach Einholung einer telefonischen Auskunft des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen mit Beschluss vom 25.10.2002 die Antragsgegnerin verpflichtet, die Kosten für die beantragte intravenöse Immunglobulintherapie für den Antragsteller bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens mit sofortiger Wirkung zu übernehmen. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage erachte es die Erfolgsaussichten des Antrags zumindest für offen. Darüber hinaus genieße im Rahmen der Interessenabwägung das Individualinteresse des Antragstellers offenkundig Vorrang vor dem Interesse der Antragsgegenerin, die Hauptsache abzuwarten. Es handle sich im vorliegenden Fall um einen so genannten "off-label-use", das heißt um die Anwendung eines Arzneimittels außerhalb seiner zugelassenen Indikation. Die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsbereich komme nach höchstrichterlicher Rechtsprechung in Betracht, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden, lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung gehe, keine andere Therapie verfügbar sei und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden könne. Damit letzteres angenommen werden könne, müssten Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden könne. Im Falle des Antragstellers liege offensichtlich eine lebensbedrohliche Erkrankung vor; gemäß ärztlichem Attest sei auch hinreichend glaubhaft gemacht, dass eine andere Therapie nicht mehr verfügbar sei. Inwieweit aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass die beantragten Immunglobuline zumindest palliativ beim Antragsteller einen Erfolg bewirken könnten, sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch offen. Die von der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vorgelegten Studien könnten den Nutzen der Behandlung belegen. Auch die Tatsache, dass sich der Zustand des Antragstellers nach Absetzen der Immunglobuline im Februar 2002 massiv verschlechtert habe, spreche für einen möglichen Behandlungserfolg. Da glaubhaft gemacht worden sei, dass beim Antragsteller eine offensichtlich lebensbedrohliche Situation vorliege, sei ein Abwarten der Hauptsache völlig unzumutbar. Der Antragsteller könne auch nicht auf die Sozialhilfe verwiesen werden, da dies zu einem weiteren unnötigen Zeitverlust führen würde.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 06.11.2002, der das SG nicht abgeholfen hat. Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, entgegen der Behauptung des behandelnden Arztes, der ein erhebliches Eigeninteresse am Ausgang des Rechtsstreits habe, gebe es Behandlungsalternativen, zum Beispiel die Verabreichung von Antibiotika. Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Studie der Phase III lägen nicht vor; auch seien keine Erkenntnisse veröffentlicht, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zuließen und aufgrund derer in einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen bestehe. Soweit die von ihr eingeholte Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 30.10.2002 feststelle, dass die Entscheidung über die Anwendung von Immunglobulin in der nicht zugelassenen Indikation Aids-Erkrankung bei Erwachsenen eine Einzelfallentscheidung sein solle, die in die Therapiefreiheit des behandelnden Arztes falle, ergebe sich hieraus nicht eine Leistungsverpflichtung der Krankenkasse. Das SG habe im Rahmen der Interessenabwägung nicht das öffentliche Interesse an der weiteren Funktionsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung berücksichtigt. Der Antragsteller solle nach dem Attest des behandelnden Arztes zweimal monatlich hochdosiert mit Immunglobulin behandelt werden; nach der als Anlage beigefügten Fachinformation aus dem gängigen Arzneimittelverzeichnis "Rote Liste" koste allein eine Infusionsflasche "Octagam" 200 ml 10 g EUR 893,56.

Die Antragsgegnerin beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts München vom 25.10.2002 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß, die Beschwerde zurückzuweisen.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

Beigezogen wurden die Akten des SG und der Antragsgegnerin, auf deren Inhalt im Übrigen Bezug genommen wird.

II.

Die frist- und formgerecht eingelegte Beschwerde, der das SG nicht abgeholfen hat, ist zulässig (§§ 171, 173, 174 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Beschwerde ist unbegründet.

Gemäß § 86b Abs.2 SGG in der Fassung des 6. SGGÄndG vom 17.08. 2001 (BGBl.I S.2144) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwerst werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund gegeben sind. Anordnungsanspruch ist der materielle Anspruch, für den der Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz sucht. Er ist identisch mit dem auch im Hauptsacheverfahren geltend zu machenden materiellen Anspruch. Anordnungsgrund ist die Eilbedürftigkeit (Dringlichkeit) der begehrten Sicherung oder Regelung. Aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zulässigen summarischen und pauschalen Prüfung der Sach- und Rechtslage kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass der Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung begründet ist, das heißt die Antragsgegnerin in dem vom SG festgestellten Umfang verpflichtet ist, auch weiterhin die Kosten der Immunglobulintherapie bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu übernehmen.

Die Anspruchsgrundlage hierfür ergibt sich aus §§ 27, 31 Abs.1 Sozialgesetzbuch V (SGB V), wonach Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst unter anderem die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs.1 Satz 1, 2 Nr.3 SGB V). § 31 Abs.1 Satz 1 SGB V präzisiert dieses Recht insoweit, als Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln haben, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V ausgeschlossen sind. Dieser Anspruch ist gemäß § 2 Abs.2 SGB V als Sachleistungsanspruch ausgestaltet, das heißt die Versicherten erhalten die Leistungen grundsätzlich als Sach- und Dienstleistungen (§ 2 Abs.2 Satz 1 SGB V), ohne sich diese Therapie selbst beschaffen zu müssen. Welche Therapie, gegebenenfalls mit welchen Arzneimitteln, im Einzelfall in Frage kommt, entscheidet der Vertragsarzt im Rahmen seiner Therapiefreiheit nach den Regeln der ärztlichen Kunst und unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse sowie des medizinischen Fortschritts (§§ 2 Abs.1 Satz 3, Abs.4, 28 Abs.1 Satz 1 SGB V). Er ist hierbei auch an das Wirtschaftlichkeitsgebot gebunden, das ihn verpflichtet, eine Krankenbehandlung zu gewähren, die einerseits ausreichend und zweckmäßig ist, andererseits wirtschaftlich sein muss und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf (§§ 12 Abs.1 Satz 1, 70 Abs.1 Satz 2 SGB V).

Nach der neuen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist der Anspruch auf Krankenbehandlung als subjektiv-öffentlich-rechtliches Rahmenrecht ausgestaltet. Die Konkretisierung und Erfüllung des Rechts auf Krankenbehandlung ist grundsätzlich der vertragsärztlichen Versorgung übertragen (§§ 72, 73, 75, 92 SGB V). Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen sind dazu bestellt, durch Richtlinien zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung Maßstäbe zur Beurteilung dessen aufzustellen, was im Einzelfall zweckmäßig, erforderlich und wirtschaftlich ist, und fortzuschreiben bzw. zu korrigieren (§ 92 Abs.1 Satz 2, Abs.8 SGB V). Innerhalb dieser Grenzen hat der Vertragsarzt die Kompetenz, das Recht des Versicherten zu konkretisieren. Derartige Konkretisierungsmaßstäbe enthalten die im vorliegenden Fall einschlägigen Richtlinien des Bundesaus- schusses der Ärzte und Krankenkassen, die nach ständiger höchst- richterlicher Rechtsprechung auch unmittelbare Rechtswirkung für das Verhältnis des Versicherten zu seiner Krankenkasse haben und über die Konkretisierung der Leistungsverpflichtung des Vertragsarztes den Anspruch des Versicherten auf Krankenbehandlung ausgestalten (siehe Jörg in Schnapp/Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, 2002, § 10, Rdnr.15 f, 21 f mit weiteren Nachweisen auf die Rechtsprechung des BSG).

Im vorliegenden Fall wird die beantragte Therapie von den Arzneimittel-Richtlinien umfasst (Richtlinien über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinien/AMR) vom 31.08.1993 in der Fassung der Bekanntmachung vom 23.08.2001 (Bundesanzeiger Nr.157 S.18423). Nach Nummer 20 dieser Richtlinien dürfen Impfstoffe und/oder Immunglobulin-Präparate insbesondere bei immunsupprimierten Patienten und bei Patienten mit Immundefekt verordnet werden, wenn nach wissenschaftlicher Erkenntnis hierdurch ein Krankheitsausbruch mit großer Wahrscheinlichkeit verhindert werden kann. Die medizinische Notwendigkeit dieser Behandlung ist im vorliegenden Fall durch die Atteste des behandelnden Arztes vom 22.07.2002 und 20.09.2002 ausreichend belegt. Daraus ergibt sich, dass der Antragsteller neben der fortgeschrittenen HIV-Infektion an anderen Erkrankungen leidet und zur Prophylaxe dieser bakteriellen und viralen Erkrankungen eine zweimalige Immunglobulintherapie je Monat erforderlich ist. Das vom behandelnden Arzt zum Einsatz bestimmte Arzneimittel "Octagam" enthält den Wirkstoff Immunglobulin G und ist zur intravenösen Infusion bestimmt.

Der Senat kann sich der Ansicht der Antragsgegnerin nicht anschließen, dass im vorliegenden Fall dem Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln das Urteil des BSG vom 19.03. 2002 (B 1 KR 37/00 R) entgegensteht. Danach kann ein zugelassenes Arzneimittel grundsätzlich nicht zu Lasten der Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt; insoweit wird die frühere Rechtsprechung (BSG vom 05.07.1995 BSGE 76, 194) modifiziert. Von dieser indikationsbezogenen Arzneimittelversorgung kann ausnahmsweise abgewichen werden, wenn es bei einer schweren Krankheit keine Behandlungsalternative gibt und nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis die begründete Aussicht besteht, dass mit dem Medikament ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.

Gegen die Anwendung dieser Entscheidung im vorliegenden Fall spricht schon, dass nach den von den Beteiligten vorgelegten Fachinformationen über das Präparat Octagam dieses Arzneimittel angewendet wird "zur Substitutionstherapie bei primären und sekundären Antikörpermangelzuständen sowie zur Vorbeugung und Behandlung von Infektionen, die bei diesen Krankheiten auftreten. Zusätzlich werden Immunglobuline zur Modulation und Kontrolle der individuellen Immunantwort verabreicht zum Beispiel bei ... 4. kongenitale HIV-Infektion bei Kindern mit rezidivierenden bakteriellen Infekten." Damit ist der Einsatz der Immunglobulintherapie im vorliegenden Fall, der der Behandlung der neben der HIV-Infektion vorhandenen anderen Infektionen dient, im Rahmen des von der Zulassung erfassten Anwendungsbereichs glaubhaft (§§ 86b Abs.2 SGG, 920 Abs.2 Zivilprozessordnung) gemacht. Sie dient nämlich der Therapie von Infektionen, die bei Antikörpermangelzuständen auftreten.

Selbst wenn im vorliegenden Fall ein "off-label"-Gebrauch des Präparates "Octagam" vorliegen sollte, wäre eine zulassungsüberschreitende Verordnung nicht ausgeschlossen. Nach dem oben genannten Urteil des BSG ist die Verordnung eines Medikamentes in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet möglich, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn keine andere Therapie verfügbar ist und wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Pla- cebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit bzw. einen klinischen relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlich sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.

Im Rahmen der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes anzustellenden summarischen und pauschalen Prüfung der Sach- und Rechtslage hat der Senat keine Bedenken, dass die ersten beiden Kriterien erfüllt sind, da der Antragsteller an einer schwerwiegenden Erkrankung leidet und sich nach den ärztlichen Attesten in einem lebensbedrohlichen Zustand befindet. In diesem Fall, in dem dringende Behandlungsbedürftigkeit besteht, wäre es nicht sachgerecht, zur Bekämpfung der opportunistischen Erkrankungen andere Therapien einzusetzen, deren Erfolg abzuwarten oder wissenschaftlich kontrollierte Studien durchzuführen, zumal der Antragsteller bisher mit der Immunglobulintherapie behandelt worden ist. Auch das dritte von der Rechtsprechung herangezogene Kriterium, nämlich ein nach den Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft zu erwartende Behandlungserfolg ist hier anzunehmen. Denn der Senat muss davon ausgehen, dass in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über den Nutzen der Therapie besteht. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen hat nämlich in Nr.20 AMR den Einsatz der Immunglobulinpräparate bei Patienten mit Immundefekt für verordnungsfähig gehalten. Damit wird auch festgestellt, dass diese Therapie grundsätzlich im Einklang steht mit der Verpflichtung zu einer Arzneimittelversorgung auf der Grundlage des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse im Umfange einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung (Nr.3 AMR).

Auch ein Anordnungsgrund ist zu bejahen, da sich der Antragsteller nach den Angaben des behandelnden Arztes in einem lebensbedrohlichen Zustand befindet und daher höchste Eile geboten ist. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG vom 25.10.1988 in NJW 1989, 827) sind die Gerichte bei den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gehalten, der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen. Einstweiliger Rechtsschutz ist danach zu gewähren, wenn anders dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann. In diesem Sinne ist es entgegen der Antragsgegnerin auch nicht hinzunehmen, dass ein pflichtversichertes Mitglied einer Krankenkasse zur Beschaffung einer medizinisch dringend notwendigen Krankenbehandlung auf die Sozialhilfe verwiesen wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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