L 10 AL 382/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 AL 469/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 10 AL 382/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 20.09.1999 aufgehoben, der Bescheid vom 17.07.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.10.1996 abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 26.09.1994 bis 05.07.1996 dem Grunde nach Alhi zu gewähren.
II. Die Beklagte erstattet der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 26.09.1994 bis 05.07.1996.

Die am 1957 geborene Klägerin erhielt von der Beklagten Anschluss-Arbeitslosenhilfe (AAlhi). Ab 07.02.1994 nahm sie an einer von der Beklagten geförderten beruflichen Bildungsmaßnahme (Teilfeldausbildung Metall) teil und bezog bis 23.09.1994 Unterhaltsgeld (Uhg) bzw zuletzt wegen arbeitsunfähiger Erkrankung (09.09.1994 bis 23.09.1994) Leistungen gem § 105 b Arbeitsförderungsgesetz (AFG).

Am 26.09.1994 meldete sich die Klägerin bei der Arbeitsamtsdienststelle M. arbeitslos und beantragte die Wiederbewilligung der Alhi. Für die Rückgabe des von der Klägerin auszufüllenden Antragsformulars war von der Beklagten der 28.09.1994 als unverbindlicher Termin vorgesehen. Das ausgefüllte Antragsformular - von der Klägerin am 06.10.1994 unterzeichnet - ging erst am 19.01.1995 wieder beim Arbeitsamt ein (Eingangsstempel). Am 23.01.1995 sandte die Beklagte das Formular an die Klägerin zurück mit dem Bemerken, dass über den Antrag erst entschieden werden könne, wenn diese eine Bescheinigung der Krankenkasse über die Dauer der ab 24.09.1994 bestehenden Arbeitsunfähigkeit auf einem beigefügten Vordruck vorgelegt habe. Beim Beratungsgespräch (Dienststelle M.) am 02.02.1996 informierte die Klägerin das Amt darüber, dass sie das Antragsformular noch nicht wieder zurückgegeben habe. Sie wolle dieses lieber beim Arbeitsamt in Aschaffenburg abgeben. Am 16.02.1995 - bei der Beklagten eingegangen am 07.05.1996 - erklärte die Klägerin unterschriftlich, sie sei nur bis 23.09.1994 arbeitsunfähig gewesen. Gleichzeitig legte sie eine von der AOK Aschaffenburg am 16.02.1995 ausgestellte Bescheinigung vor, auf der die Frage nach dem Bezug von Lohnersatzleistungen gestrichen war und die sonst keine weiteren Einträge enthielt. Am 17.05.1996 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass zur Entscheidung über den Antrag eine Prüfung durch den Außendienst erforderlich sei.

Nach Vorliegen des Ermittlungsberichts vom 05.07.1996 bewilligte die Beklagte mit Bescheiden vom 17.07.1996/19.07.1996 Alhi ab 06.07.1996. Im Übrigen lehnte sie den Alhi-Antrag vom 26.09.1994 mit der Begründung ab, in der Zeit vom 26.09.1994 bis 05.07.1996 sei der Lebensunterhalt durch die Mutter sichergestellt gewesen, so dass Bedürftigkeit nicht vorgelegen habe.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, die Mutter habe ihren Lebensunterhalt nicht sicherstellen können, weil sie wegen der weit unter jeder Selbstbehaltungsgrenze liegenden Einkünfte zum Unterhalt rechtlich nicht verpflichtet gewesen sei. Auch habe sie die Beträge nur vorgestreckt. Mit Widerspruchsbescheiden vom 16.10.1996 wies die Beklagte die Widersprüche zurück. Die Finanzierung des Lebensunterhalts durch die Mutter sei von dieser bestätigt worden. Nachweise über Vorleistungen der Mutter lägen nicht vor.

Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhoben und beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.07.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.10.1996 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 26.09.1994 bis 05.07.1996 Alhi zu gewähren. Zur Begründung hat sie vorgetragen: Schon nach dem Wortlaut des § 137 Abs 2 AFG verbiete sich die Inanspruchnahme ihrer Mutter. Diese lebe selbst am Rande des Existenzminimums. Mutter und Bruder hätten in Erwartung der Alhi-Zahlung Leistungen in Höhe von 14.007,00 DM bzw 1.820,00 DM lediglich darlehensweise erbracht.

Das SG hat Frau E. G. , Mutter der Klägerin, als Zeugin uneidlich vernommen. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift vom 20.09.1999 Bezug genommen.

Mit Urteil vom 20.09.1999 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Für den streitigen Zeitraum habe Bedürftigkeit der Klägerin nicht bestanden, da die Mutter den Lebensunterhalt durch die Gewährung von Unterkunft und Verpflegung sichergestellt habe und eine Rechtspflicht zum nachträglichen Ausgleich entgegen der gesetzlichen Vermutung des § 1360 b Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nicht gegeben sei. Eine schriftliche Darlehensabrede vor oder während der Unterhaltsleistung fehle. Der tatsächliche Unterhaltsbezug sei als ein die Bedürftigkeit ausschließendes Einkommen zu berücksichtigen.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt und vorgetragen: Entscheidend sei, dass ihre Mutter nicht unterhaltspflichtig gewesen sei. § 1360 b BGB - diese Bestimmung beziehe sich nur auf den Ehegattenunterhalt - sei vorliegend nicht anwendbar. Ihre Mutter habe ausgesagt, dass sie ihre Leistungen nur vorgestreckt habe. Dies sei als Darlehensabrede zu werten, die auch in mündlicher Form wirksam sei. Auch von ihrem Bruder habe sie die Leistungen nur darlehensweise erhalten.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 20.09.1999 aufzuheben, den Bescheid vom 17.07.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.10.1996 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr auch für die Zeit vom 26.09.1994 bis 05.07.1996 dem Grunde nach Alhi zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 20.09.1999 zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. In erster Linie komme es vorliegend nicht auf das Bestehen eines Unterhaltsanspruchs, sondern auf die tatsächlichen Verhältnisse an. Die Klägerin habe ihren Lebensunterhalt im streitigen Zeitraum auf andere Weise bestritten. Das Vorbringen der Klägerin, es sei mit der Mutter vorab eine Darlehensabrede getroffen worden, sei nicht glaubwürdig. Am 05.07.1996 habe die Klägerin eine Darlehensaufnahme nicht erwähnt. Hierfür habe auch keine Veranlassung bestanden, denn die Klägerin hätte durch die Abgabe des Leistungsantrags Alhi beziehen können und damit eine Darlehensaufnahme entbehrlich gemacht.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Leistungsakten der Beklagten (Stamm-Nr 173988) sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Sie ist auch begründet, denn die Klägerin hat für die Zeit vom 26.09.1994 bis 05.07.1996 dem Grunde nach Anspruch auf Alhi.

Gem § 134 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) hat Anspruch auf Alhi nur, wer bedürftig ist. Bedürftig iS des § 134 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG ist der Arbeitslose, soweit er seinen Lebensunterhalt nicht auf andere Weise als durch Alhi bestreitet oder bestreiten kann und das Einkommen, das nach § 138 AFG zu berücksichtigen ist, die Alhi nach § 136 AFG nicht erreicht (§ 137 Abs 1 AFG in der ab 01.01.1994 geltenden Fassung des Gesetzes vom 21.12.1993 BGBl I 2353). Der Arbeitslose ist nicht bedürftig iS des § 134 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG solange mit Rücksicht auf sein Vermögen, das Vermögen seines nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten oder das Vermögen der Eltern eines minderjährigen unverheirateten Arbeitslosen die Gewährung von Alhi offenbar nicht gerechtfertigt ist. Unter welchen Voraussetzungen die Gewährung von Alhi nicht gerechtfertigt ist, konkretisieren die §§ 6 ff der auf der Grundlage der Ermächtigung in § 137 Abs 3 AFG erlassenen Arbeitslosenhilfe-Verordnung (AlhiV) vom 07.08.1974 (BGBl I 1929). Ob Bedürftigkeit gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse des Arbeitslosen zum Zeitpunkt der Antragstellung zu entscheiden (BSG vom 02.11.2000 - B 11 AL 35/99 R; Epsen in Gagel SGB III § 193 Rz 77 bis 82). Für die Gewährung von Alhi ist ein Antrag erforderlich (§ 134 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG). Einen wirksamen Leistungs-Antrag hat die Klägerin bereits am 26.09.1994 gestellt (§ 105 AFG). Der Antrag bedurfte keiner besonderen Form (Brand in Niesel, AFG, 3.Aufl, § 100 RdNr 11). Die am 23.01.1995 erfolgte Rückgabe des spätestens am 19.01.1995 eingegangenen Antragformulars durch das Arbeitsamt war rechtswidrig (Hessisches LSG, Urteil vom 07.12.1988 - L 6/Ar 849/87; Brand in Niesel, AFG, 3.Aufl, aaO Anm 11; Niesel, SGB III, § 323 Nr 7). Mithin bleibt die Rückgabe des Antragformulars an die Klägerin und die Rücksendung durch diese erst am 07.05.1996 ohne Auswirkungen auf den Zeitpunkt der Antragstellung. Es ist somit von einem wirksam am 26.09.1994 gestellten Antrag auf Alhi auszugehen.

Da nach der Rechtsprechung für die Beurteilung der Bedürftigkeit als eine der Voraussetzungen der Alhi-Gewährung auf die Vermögensverhältnisse zum Zeitpunkt der Antragsstellung abzustellen ist, kann die Dauer der Antragsbearbeitung nicht dazu führen, den Alhi-Anspruch mit der Begründung zu verneinen, der Antragssteller habe bis zur Verwaltungsentscheidung seinen Lebensunterhalt anderweitig bestreiten können. Wie in Fällen zögerlicher bzw fehlender Mitwirkung des Leistungsberechtigten zu verfahren ist, regelt § 66 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil (SGB I). Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60-62, 65 SGB I nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zu Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind (§ 66 Abs 1 S 1 SGB I).

Durch ihr zögerliches Verhalten hat die Klägerin die Aufklärung des Sachverhalts erschwert. Nicht nachgewiesen war nämlich die Dauer ihrer Erkrankung und der eventuelle Bezug von Krankengeld. Da die Klägerin im Antragsformular unter Abschnitt 2 "noch AU-krank" angegeben hatte, stand nicht fest, wie lange die Klägerin nach dem 23.09.1994 noch arbeitsunfähig war und wie lange sie Lohnersatzleistungen (Krankengeld) bezogen hatte. Dies war aber für die Leistungsgewährung durch die Beklagte von Bedeutung iS von § 66 Abs 1 Satz 1 SGB I. Zur Beschaffung der entsprechenden Bescheinigung der Krankenkasse war die Klägerin auch verpflichtet (§ 60 Abs 1 Nr 3 SGB I). Gem § 66 Abs 3 SGB I hätte die Beklagte Alhi wegen fehlender Mitwirkung aber nur dann versagen dürfen, wenn die Klägerin auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden wäre und sie trotzdem ihrer Mitwirkungspflicht innerhalb einer ihr gesetzten Frist nicht erfüllt hätte.

Zwar hat die Beklagte die Klägerin über die Folgen fehlender Mitwirkung mit Schreiben vom 23.01.1995 aufgeklärt. Jedoch hat sie die zwingend vorgeschriebene Frist zur Nachholung der Mitwirkung (Seewald in Kasseler Kommentar § 66 SGB I RdNr 12) nicht gesetzt. Somit konnten die in § 66 Abs 1 SGB I erwähnten Folgen nicht eintreten. Am 07.05.1996 - also noch vor der angefochtenen Entscheidung vom 17.07.1996 - hat die Klägerin die Mitwirkung nachgeholt. Jetzt wäre so zu entscheiden gewesen, als ob die Klägerin ihre Mitwirkungspflicht nie verletzt gehabt hätte (Seewald aaO RdNr 30). Im Ergebnis bedeutet dies die Bewilligung von Alhi ab Antragsstellung. Zwar wird Alhi grundsätzlich nicht rückwirkend gewährt. Abzustellen ist aber auf den Zeitpunkt der Antragsstellung, Zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin bedürftig. Hiervon ging (für die Zeit ab 06.07.1996) auch die Beklagte bei der Bewilligung von Alhi aus, ohne eine Notwendigkeit für ergänzende Ermittlungen zu sehen. Die Klägerin selbst hatte kein verwertbares Vermögen und eventuelles Vermögen ihrer Mutter - für Vermögen der Mutter gibt es allerdings keine Anhaltspunkte - wäre bei der volljährigen Klägerin ohnehin nicht zu berücksichtigen gewesen (§ 137 Abs 2 AFG, § 6 Abs 1 AlhiV). Ferner erzielte die Klägerin kein eigenes Einkommen iSd § 138 AFG. Seit dem 1. Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1.SKWPG) vom 21.12.1993 mWv 01.01.1994 (BGBl I 2353) gilt insbesondere ein nicht geltend gemachter Unterhaltsanspruch eines volljährigen Arbeitslosen gegenüber Verwandten nicht als Einkommen mit der Folge, dass die Beklagte praktisch gänzlich der Prüfung enthoben ist, ob ausnahmsweise einmal ein erwachsener Arbeitsloser alle Voraussetzungen erfüllt, um nach Familienrecht unterhaltsberechtigt zu sein (Ebsen in Gagel, AFG, § 138 Rdnr 120; Diederichsen in Palandt, Bürgerl. Gesetzbuch, 61.Aufl, § 1602 RdZiff 12). Folglich hat die Beklagte im Merkblatt 1 für Arbeitslose darauf hingewiesen, dass Unterhaltsansprüche gegen die Eltern in der Regel nur bestehen, falls der Arbeitslose noch minderjährig ist (Merkblatt Stand April 1995 S 13).

Die tatsächliche Unterhaltsgewährung durch die Mutter an die Klägerin zur Überbrückung der Zeit zwischen Antragstellung und Entscheidung durch die Beklagte kann die im Zeitpunkt der Antragstellung bestehende Bedürftigkeit - auf die abzustellen ist - jedoch nicht mehr beeinflussen. In der Zeit bis zur Entscheidung der Beklagten ist der Arbeitslose regelmäßig auf die Hilfe Dritter angewiesen, ohne dass dadurch die zum Zeitpunkt der Antragstellung vorhandene Bedürftigkeit entfiele. Zwar hat sich die Klägerin vorliegend zur Erfüllung ihrer Mitwirkungspflicht außerordentlich lange Zeit gelassen. Eine Beschleunigung des Entscheidungsprozesses hätte die Beklagte aber in Anwendung der §§ 60 ff SGB I erreichen können. Hiervon hat sie jedoch keinen Gebrauch gemacht.

Da die Klägerin somit ab Antragsstellung die Voraussetzungen für eine Alhi-Gewährung erfüllte, war das Urteil des SG Würzburg aufzuheben und der Bescheid vom 17.07.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.10.1996 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, für die Zeit vom 26.09.1994 bis 05.07.1996 dem Grunde nach Alhi zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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