L 10 AL 93/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 AL 416/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 10 AL 93/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 10. Februar 1999 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 11.12.1995 bis 14.07.1996 und 12.08.1996 bis 27.10.1996 und die Rückforderung überzahlter Leistungen in Höhe von 4.037,40 DM.

Die am 1944 geborene und verheiratete Klägerin war von 1972 bis 30.11.1995 als Buchhalterin beschäftigt und erzielte zuletzt ein monatliches Arbeitsentgelt von 2.885,-DM brutto bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden. Auf ihrer Lohnsteuerkarte war für 1995 die Steuerklasse III eingetragen. Vom 11.09.1995 bis 10.12.1995 bezog sie Konkursausfallgeld (Kaug). Am 27.11.1995 meldete sie sich arbeitslos und beantragte Alg.

Mit Bescheid vom 11.01.1996 bewilligte die Beklagte mit Wirkung ab 11.12.1995 Alg in Höhe von 388,80 DM und ab 01.01.1996 in Höhe von 414,- DM wöchentlich, jeweils nach Leistungsgruppe C. Der Bewilligung lag ein wöchentliches gerundetes Bruttoarbeitsentgelt von 960,- DM zugrunde. Vom 15.07.1996 bis 10.08.1996 bezog die Klägerin Krankengeld. Anschließend bewilligte ihr die Beklagte nach erneuter Arbeitslosmeldung vom 12.08.1996 bis 26.10.1996 wieder Alg (Bescheid vom 27.08.1996). Ab 02.09.1996 lag der Alg-Bewilligung (423,-DM wöchentlich) ein wöchentliches Arbeitsentgelt von 990,- DM zugrunde (Bescheid vom 16.09.1996).

Nach Anhörung der Klägerin nahm die Beklagte mit Bescheid vom 28.08.1997 die Bewilligung von Alg für die Zeit vom 11.12.1995 bis 14.07.1996 und 12.08.1996 bis 26.10.1996 bezüglich eines Teilbetrages von 4.037,40 DM mit der Begründung zurück, Alg sei irrtümlich nach einem Bemessungsentgelt von 960,- DM statt 670,- DM gezahlt worden (Eingabe eines unzutreffenden Anpassungsstichtages). Auf den Bestand dieser rechtswidrigen Entscheidung habe die Klägerin nicht vertrauen können, weil sie deren Rechtswidrigkeit gekannt habe.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, sie habe bei der Arbeitslosmeldung vollständige Angaben gemacht, sodass sie von der Richtigkeit der bewilligten Leistungen habe ausgehen dürfen. Außerdem sei sie nicht mehr bereichert. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 02.04.1998 zurück. Zur Begründung führte sie aus: Der Klägerin hätte als Buchhalterin bei einfachsten und naheliegenden Überlegungen und im Hinblick auf die Ausführungen zur Berechnung des wöchentlichen Arbeitsentgeltes sowohl auf der Rückseite des Bescheides als auch im Merkblatt für Arbeitslose auffallen müssen, dass das der Bewilligung zugrunde gelegte Bruttoarbeitsentgelt nicht ihrem zuvor erzielten Bruttoarbeitsentgelt entsprochen habe. Sie habe somit die teilweise Rechtswidrigkeit der Bescheide gekannt bzw infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt. Die Rücknahmeentscheidung werde daher auf § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X iVm § 152 Abs 2 AFG gestützt.

Hiergegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, den Bescheid vom 28.08.1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 02.04.1998 aufzuheben.

Mit Urteil vom 10.02.1999 hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben und in den Gründen im Wesentlichen darauf abgestellt, dass die Klägerin die teilweise Rechtswidrigkeit der Leistung weder gekannt noch grob fahrlässig nicht gekannt habe. Sie sei nicht verpflichtet gewesen, die Bewilligungsbescheide anhand des Merkblattes für Arbeitslose zu überprüfen. Wegen der Kompliziertheit der Alg-Berechnung (zB das Abstellen auf Lohnsteuerklasse, Kinderzahl, Umrechnung auf Wochen etc) sei diese von der Klägerin - obwohl kaufmännische Angestellte - nicht nachvollziehbar gewesen. Bei einem monatlichen Bruttoentgelt von 2.885,- DM - netto ca 2.000,-DM - habe für die Klägerin kein Anlass bestanden, die Höhe des Alg (388,80 DM wöchentlich) in Frage zu stellen.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt und vorgetragen: Die Klägerin hätte aufgrund der Hinweise im Merkblatt für Arbeitslose sowie auf der Rückseite des Bewilligungsbescheides durch überschlägige Berechnung feststellen können, dass das im Bescheid genannte wöchentliche Bruttoarbeitsentgelt von 960,- DM nicht einem monatlichen Bruttoentgelt von 2.885,- DM entspreche. Bei einer Differenz von ca 1.000,-DM monatlich hätte es sich der Klägerin geradezu aufdrängen müssen, dass das im Bescheid angegebene Bruttoarbeitsentgelt zu hoch und damit auch das bewilligte Alg überhöht sei. Diese Plausibilitätsprüfung hätte von der Klägerin erwartet werden können. Die Klägerin habe daher einfache und naheliegende Überlegungen außer Acht gelassen und somit grob fahrlässig gehandelt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 10.02.1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 10.02.1999 zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Es habe für sie kein Anlass bestanden, den Alg-Zahlbetrag anzuzweifeln. Bei überschlägiger Berechnung sei dieser - auf den Monat bezogen - mit einer Differenz von ca 440,-DM deutlich niedriger ausgefallen, als das zuletzt bezogene Nettogehalt von 1.996,23 DM. Sie habe darauf vertraut, dass ihr Leistungsantrag von der Beklagten fehlerfrei bearbeitet werde. Bis November 1995 habe sie keinerlei Erfahrungen mit Lohnersatzleistungen der Beklagten gehabt. Als Buchhalterin sei sie über 23 Jahre im Debitorenbereich beschäftigt und mit Lohn- und Gehaltsbuchhaltung nicht befasst gewesen.

Der Senat hat die Klägerin gehört. Auf die Sitzungsniederschrift vom 18.12.2001 wird insoweit Bezug genommen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird ergänzend auf die Leistungsakten der Klägerin sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 144, 153 Sozialgerichtsgesetz ) und begründet. Das SG hat die angefochtenen Bescheide zu Unrecht aufgehoben, denn die Klägerin hatte für die Zeit vom 11.12.1995 bis 14.07.1996 und 12.08.1996 bis 26.10.1996 keinen Alg-Anspruch in der von der Beklagten bewilligten Höhe. Die Beklagte war daher berechtigt, die Alg-Bewilligung teilweise zurückzunehmen und die überzahlten Leistungen zurückzufordern.

Grundlage für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit ist § 45 Abs 1 und Abs 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Zutreffend ist die Beklagte in den Bescheiden vom 28.08.1997/ 02.04.1998 von der Rechtswidrigkeit der Bewilligung von Alg der Höhe nach ausgegangen (Bewilligungsbescheide vom 11.01.1996, 27.08.1996 und 16.09.1996). Aufgrund einer fehlerhaften Bearbeitung durch das Arbeitsamt (Eingabe eines unzutreffenden Anpassungsstichtages) bezog die Klägerin Alg nach dem zu hohen wöchentlichen Bemessungsentgelt von 960,00 DM/990,00 DM statt 670,00 DM/690,00 DM. Allerdings eröffnet § 45 Abs 4 SGB X die Rücknahme von begünstigenden Verwaltungsakten für die Vergangenheit nur unter den Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X. Liegen diese Voraussetzungen vor, hat die Beklagte gemäß § 152 Abs 2 AFG die Rücknahme als gebundene Entscheidung vorzunehmen. Ermessenserwägungen hat sie in diesen Fällen nicht anzustellen.

Von den Tatbeständen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X kommt hier lediglich die Nr 3 in Betracht, denn die Klägerin hat den Verwaltungsakt weder durch arglistige Täuschung erwirkt (Nr 1) noch hat sie unrichtige/unvollständige Angaben im Sinne der Nr 2 gemacht. Bei Nr 3 scheidet positive Kenntnis der Klägerin von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes ebenfalls aus. Fraglich war somit lediglich, ob die Unkenntnis der Klägerin von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts auf grober Fahrlässigkeit beruhte.

Nach der Legaldefinition des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 2. Halbsatz SGB X ist grobe Fahrlässigkeit nur gegeben, wenn der Begrünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Masse verletzt hat. Dies ist dann der Fall, wenn er einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt und daher nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (BSGE 42, 184, 187 = SozR 4100 § 152 Nr 3; BSGE 62, 32, 35 = SozR 4100 § 71 Nr 2; BSG vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00R = SozR 3-1300 § 45 Nr 45). Das Maß der Fahrlässigkeit ist nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Begünstigten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen. Voraussetzung für die Annahme grober Fahrlässigkeit bei der Unkenntnis über die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes ist somit, dass die Mängel des Bewilligungsbescheides für den Begrünstigten unter Berücksichtigung seines Einsichtsvermögens ohne weiteres erkennbar waren.

Anlässlich ihrer Anhörung durch den Senat hat die Klägerin angegeben, die Bewilligungsbescheide vom 11.01.1996, 27.08.1996 und 16.09.1996 gelesen zu haben. Damit ist sie - ihr Vorbringen als zutreffend unterstellt - einer nach der Rechtsprechung des BSG für Leistungsempfänger bestehenden Obliegenheit nachgekommen. Das BSG leitet die Pflicht zum Lesen und zur Kenntnisnahme von Bewilligungsbescheiden aus dem Sozialrechtsverhältnis her (BSGE 34, 124, 127; BSGE 77, 175, 180; BSG vom 08.02.2001 aaO). Allerdings ist der Klägerin nach ihren Angaben hierbei nichts Fehlerhaftes aufgefallen.

Die Bescheide hätten jedoch Anlass für Richtigkeitsüberlegungen sein müssen. Von der Klägerin, die bei Antragstellung zutreffende Angaben gemacht hat, konnte zwar nicht verlangt werden, Bewilligungsbescheide des näheren auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen (BSG vom 08.02.2001 aaO). Es ist nämlich Aufgabe der Beklagten, wahrheitsgemäße tatsächliche Angaben von Antragsstellern rechtlich einwandfrei umzusetzen. Der Klägerin sprang die fehlerhafte Höhe des wöchentlichen Algs (388,80 DM statt 303,60 DM) auch nicht "ins Auge". Ein wöchentliches Alg von 388,80 DM bei einem Monatslohn von 2.885,OO DM brutto (entspricht 670,00 DM wöchentlich) steht nach Ansicht des Senats nicht offensichtlich außer Verhältnis. So hat auch das BSG entschieden, dass zB ein Zahlbetrag von 545,40 DM wöchentlich bei einem wöchentlichen Bruttoarbeitsentgelt von 1.240,00 DM ohne nähere Kenntnis von Bemessungsvorschriften nicht auf eine fehlerhafte Bemessung der Leistung hindeutet (BSG vom 08.02.2001 aaO).

Allerdings hätte der Klägerin das von der Beklagten herangezogene und in den Bescheiden angegebene gerundete wöchentliche Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 960,00/990,00 DM als zu hoch auffallen müssen. Ihr war bekannt, dass sie monatlich nur 2.885,00 DM brutto verdient hatte, was einem wöchentlichen Bruttoarbeitsentgelt von (gerundet) 670,00 DM entspricht. Bereits eine im Kopf durchgeführte überschlägige Multiplikation des von der Beklagten im Bescheid ausgewiesenen wöchentlichen Bruttoarbeitsentgelts von 960,00 DM mit dem Faktor 4 - hierzu war die Klägerin zur Überzeugung des Senats als ehemalige Buchhalterin und aufgrund des von ihr in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks in der Lage - hätte ihr deutlich gemacht, dass die Beklagte bei der Bemessung des Alg irrig von einem monatlichen Bruttoarbeitsentgelt von etwa 4.000,- DM ausgegangen ist.

Das Vorbringen der Klägerin, sie habe zwar den gesamten Bescheidinhalt zur Kenntnis genommen, aber nur den Alg-Zahlbetrag gewürdigt, führt zu keiner anderen Entscheidung. Es ist nämlich zu bedenken, dass die Klägerin das fehlerhafte Bruttoarbeitsentgelt unmittelbar dem Bescheid entnehmen konnte und ihr somit ein allgemeiner Bezug zwischen der Höhe des Arbeitsentgelts und der Höhe des Arbeitslosengeldes möglich war.

Da sich mithin die Fehlerhaftigkeit der Bewilligungsbescheide direkt aus den Bescheiden selbst ergab, hätte es für die Klägerin nahe gelegen, das in den Bescheiden angegebene Arbeitsentgelt anhand der auf der Rückseite der Bescheide abgedruckten Erläuterung zum Bruttoarbeitsentgelt zu überprüfen. Dies hätte auch bei der mit der Rechtsmaterie nicht vertrauten Klägerin zur Erkenntnis geführt, dass die Bewilligungsbescheide nicht in Ordnung sind. Der Klägerin ist daher grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen (BSG vom 08.02.2001 aaO), sodass die Beklagte zur teilweisen Rücknahme der Leistungsbewilligung berechtigt war. Insoweit sind von der Klägerin die bereits erbrachten Leistungen gemäß § 50 Abs 1 Satz 1 SGB X zu erstatten.

Eine Berufung auf den Wegfall der Bereicherung nach § 818 Abs 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist der Klägerin nicht möglich. Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch nach § 50 SGB X ist nämlich kein Bereicherungsanspruch. Auch besteht neben ihm kein Raum für die ergänzende Heranziehung bürgerlich-rechtlicher Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung (BSGE 16, 157; BSGE 54, 250 = SozR 1500 § 51 Nr 28; Wiesner in von Wulffen, SGB X, 4. Auflage, § 50 RdNrn 1, 16; Steinwedel in Kass. Komm. SGB X, § 50 RdNrn 2, 3; Hauck, Komm. zum SGB X, § 50 RdNr 6).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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