L 6 RJ 127/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 RJ 613/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 6 RJ 127/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 16. September 1999 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der am ...1948 geborenen Kläger besitzt keine abgeschlossene Berufsausbildung. Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung hat er ab 1.9.1964 mit nur wenigen Unterbrechungen zunächst bis 28.2.1984 zurückgelegt. Der Zeitraum 1.3.1981 bis 28.2.1984 (3 Jahre) ist mit Pflichtbeiträgen voll belegt. Anschließend ist der Kläger vom 5.3.1984 bis 1.9.1984 arbeitslos gemeldet gewesen. Der folgende Zeitraum bis 30.4.1990 enthält keine rentenrechtlichen Zeiten. In den Jahren 1990, 1991 und 1992 ist der Kläger nochmals in relativ kurzfristigen Arbeitsverhältnissen gestanden, und zwar vom 11.7.bis 15.11.1990 bei der Firma H ... GmbH & Co. Bauunternehmung (Fa.H ...), vom 24.6. bis 20.9.1991 bei der Firma M ... Modell- und Formenbau (Fa.M ...) und vom 18.5.1992 bis 7.9.1992 nochmals bei der Fa.H ...

Den Antrag des Klägers auf Zahlung von Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit vom 8.12.1994 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13.4.1995 und Widerspruchsbescheid vom 26.9.1996 ab. Der Versicherte sei zwar seit 22.12.1989 erwerbsunfähig; die für einen Rentenanspruch erforderlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien aber nicht erfüllt.

Am 17.10.1996 erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Augsburg mit dem Begehren, die Beklagte ab 1.12.1994 zur Zahlung von Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit zu verpflichten.

Das SG zog die Verwaltungsakten der Beklagten bei, es erholte Befundberichte und Unterlagen über ärztliche Behandlungen des Klägers (Nervenarzt Dr.P ..., Befundbericht vom 18.2.1997 und Schreiben vom 2.12.1997; Arzt für Allgemeinmedizin Dr.R ..., Bruder des Klägers, Befundbericht vom 11.3.1997 und Schreiben vom 7.1.1998) und holte Auskünfte von den Arbeitgebern ein, bei denen der Kläger im Zeitraum 1990 bis 1992 beschäftigt gewesen war (Auskunft der Fa.M ... vom 12.1.1998; Auskunft der Fa.H ... vom 3.2.1998).

Weiterhin veranlaßte das SG eine Begutachtung des ab 1984 vorliegenden Gesundheitszustands und beruflichen Leistungsvermögens des Klägers durch die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie Sozialmedizin Dr.Pa ... In ihrem Gutachten vom 4.8.1997 und in den ergänzenden Stellungnahmen dazu vom 20.3.1998 und 26.5.1998, die sie aufgrund von Einwendungen des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten vom 17.11.1997, 26.2.1998 und 10.3.1998 abfaßte, führte die Sachverständige abschließend aus (vgl. insbesondere Blatt 5/6 der Stellungnahme vom 26.5.1998), sie selbst habe keine vernünftigen Zweifel daran, daß der Kläger ab August 1984 aufgrund der chronisch verlaufenden Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis nicht mehr vollschichtig belastbar gewesen sei; nur sei es nicht auszuschließen, daß es zwischen 1984 und 1989 zumindest kürzere Zeiten gegeben haben könne, in denen der Kläger vollschichtig habe arbeiten können, dies dürfte aber nicht über einen längeren Zeitraum der Fall gewesen sein. Nach der gesamten medizinischen Beurteilung des bisherigen Verlaufs würde es an einen Zufall grenzen, wenn der Kläger nach 1984 über einen längeren Zeitraum für eine geregelte Erwerbstätigkeit in der Lage gewesen wäre.

Dem vermochte sich der sozialmedizinische Dienst der Beklagten/Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.K ... (Stellungnahme vom 4.8.1998) nicht anzuschließen. Eine dauernde Minderung des Leistungsvermögens in zeitlicher Hinsicht sei erst für Ende 1989 mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit feststellbar.

Auf Antrag des Klägers erholte das SG sodann von Prof. Dr.N ..., dem Leiter der Forensischen Psychiatrie im Klinikum Innenstadt der Psychiatrischen Klinik Großhadern der Ludwig-Maximilians-Universität München, ein weiteres psychiatrisches Gutachten (vom 8.4.1999). Der Sachverständige äußerte sich wie folgt: Fasse man die Anamnese - so, wie sie vom Kläger selbst und seinen Verwandten berichtet worden sei und wie sie sich aus den Unterlagen ergebe - zusammen, so ergäben sich kaum Zweifel, daß die Krankheit mit größter Wahrscheinlichkeit 1984 begonnen und einen progredient chronischen Verlauf mit Exazerbationen genommen habe. Eine Beurteilung der Leistungsfähigkeit von an Schizophrenie erkrankten Personen könne nicht generell erfolgen, jedoch führten Negativsymptome in Form von Antriebsminderung und mangelndem Durchhaltevermögen, wie sie beim Kläger vorgelegen hätten, zu einer massiven und dauerhaften Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit. Die Psychose habe sich mit größter Wahrscheinlichkeit 1984 manifestiert und habe einen chronischen Verlauf gezeigt, der in einen Residualzustand übergegangen sei, so daß aus psychiatrischer Sicht keine vernünftigen Zweifel vorgelegen hätten, daß beim Kläger seit 1984 ein unter vollschichtiges Leistungsvermögen bestanden habe.

Mit Schreiben vom 9.8.1999 trug die Beklagte vor, da der Kläger in den Jahren 1990 bis 1992 in längerem Umfang tatsächlich versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei, könne nicht seit 1984 durchgehend Erwerbsunfähigkeit vorgelegen haben. Ein Rentenanspruch bestehe daher nicht. Dem Schreiben vom 9.8.1999 war eine Stellungnahme von Dr.K ... vom 28.7.1999 beigefügt, in der dieser ausführte, gegen die Überlegungen von Prof.Dr.N ... sei von der Sache her nichts grundlegendes mehr einzuwenden, wenngleich auch hier die Gewichtung der Entscheidung zugunsten des Klägers auf einem begründeten Ermessen bestehe. Das Gutachten sei schlüssig.

Mit Urteil vom 16.9.1999 gab das SG der Klage statt. Der Kläger habe ab 1.12.1994 Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 44 Abs. 2 SGB VI, da er nach dem Ergebnis der Begutachtung durch Frau Dr.Pa ... und Prof.Dr.N ... seit August 1984 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr vollschichtig arbeiten könne; vernünftige Zweifel daran bestünden nicht.

Am 2.3.2000 ging die Berufung der Beklagten gegen dieses ihr am 12.2.2000 zugestellte Urteil beim Bayer. Landessozialgericht ein. Zur Begründung trug sie vor, aus ihrer Sicht habe das SG dem Kläger mehr oder weniger aus Mitleid und/oder Sympathie Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung zuerkannt. Der Nachweis der verminderten Erwerbsfähigkeit bereits seit 1984 sei nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erbracht. Die tatsächlich in den Jahren 1990 bis 1992 ausgeübte Erwerbstätigkeit schließe Erwerbsunfähigkeit aus. Ein entsprechende Stellungnahme Dr.K ... vom 4.5.2000 wurde vorgelegt.

Der Senat zog die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Klageakten des SG Augsburg bei und holte von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.Ki ... ein medizinisches Sachverständigengutachten ein (vom 29.9.2000).

Dr.Ki ... resümierte, beim Kläger bestünden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit seit September 1984 Symptome im Sinne einer schizophrenen Prozeßpsychose. Seither könne der Kläger wegen der krankheitsbedingten Reduzierung des energetischen Potentials unter betriebsüblichen Bedingungen auch körperlich leichte und geistig einfache Arbeiten nur noch zwei bis drei Stunden täglich verrichten. Aus den von den Arbeitgebern erteilten Auskünften ergebe sich eindeutig, daß es sich hierbei nicht um "normale" Arbeitsverhältnisse gehandelt habe.

Die Beklagte blieb bei ihrer Auffassung (Schreiben vom 14.12.2000 in Verbindung mit einer Stellungnahme Dr.K ... vom 12.12.2000), erklärte mit Schreiben vom 11.1.2000, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sei und den Antrag aus der Berufungsbegründungsschrift vom 4.4.2000 aufrechterhalte.

Auch der Kläger erklärte sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (Schreiben vom 1.2.2001).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Augsburg vom 16.9.1999 aufzuheben und die Klage gegen ihren Bescheid vom 13.4.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.9.1996 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Augsburg vom 16.9.1999 zurückzuweisen.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen und zur Ergänzung des Tatbestands wird im übrigen auf den Inhalt der beigezogenen Akten und der Akte des Bayer. Landessozialgerichts sowie auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Urteil des SG Augsburg vom 16.9.1999 ist nicht zu beanstanden, da der Kläger gegen die Beklagte ab 1.12.1994 gemäß §§ 44 Abs. 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat. Der Kläger ist nämlich jedenfalls seit September 1984 erwerbsunfähig im Sinn des § 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI in Verbindung mit Absatz 2 der Vorschrift (hierüber streiten die Beteiligten), und er hat in diesem Zeitpunkt (unstreitig) die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 SGB VI erfüllt. Der Rentenbeginn (Beginn des Antragsmonats; Antrag am 8.12.1994) ergibt sich aus § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI.

Der Kläger ist seit September 1984 erwerbsunfähig gemäß § 44 Abs. 2 SGB VI, da er seit diesem Zeitpunkt unter den üblichen Bedingungen eines Arbeitsverhältnisses auch körperlich leichte und geistig einfache Arbeiten nur noch zwei bis drei Stunden täglich verrichten kann. Dieses berufliche Leistungsvermögen des Klägers ergibt sich vor allem aus dem im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr.Ki ... Der Senat schließt sich den Aussagen dieses schlüssigen und überzeugenden Gutachtens an. Dr.Ki ... wird im übrigen in seinen wesentlichen Ergebnissen durch die im erstinstanzlichen Verfahren erholten Gutachten von Frau Dr.Pa ... und Prof.Dr.N ... bestätigt. Unter diesen Umständen erscheint die Auffassung der Beklagten als ausgesprochene Mindermeinung.

Die wesentlichen Einwände Dr.K ... (Stellungnahme vom 12.12.2000) sind bereits im erstinstanzlichen Verfahren gebracht worden, sind somit nicht neu: das Fehlen von Befunden in der Zeit zwischen 1984 und 1989 sowie die Beschäftigung des Klägers in den Jahren 1990 bis 1992 sind von Dr.Ki ... aufgrund der vom Senat detailliert gestellten Beweisfragen eingehenst und überzeugend erörtert worden; auf die entsprechenden Darlegungen Dr.Ki ... wird daher zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Nicht nachvollziehbar erscheint im übrigen das weitere Beharren der Beklagten auf ihrer Berufung, nachdem Dr.K ... schon in seiner Stellungnahme vom 28.7.1999 zum Gutachten von Prof.Dr.N ... ausgeführt hatte, gegen dessen Überlegungen sei von der Sache her nichts Grundlegendes mehr einzuwenden, wenngleich auch hier die Gewichtung der Entscheidung zugunsten des Klägers auf einem begründeten Ermessen bestehe. Um so mehr erscheinen die Ausführungen von Dr.Ki ... durchaus als diejenigen eines vernünftigen Nervenarztes; die gegenteiligen Äußerungen der Beklagten in ihrem Schreiben vom 14.12.2000 (Blatt 2 am Ende) sind unverständlich und wegen ihrer ansonsten beleidigenden Art wohl auch nicht ernst zu nehmen.

Die sonstigen Ausführungen der Beklagten machen deutlich, daß sie den Begriff der "an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" in Richtung der - nicht erforderlichen - "absoluten Gewißheit" überspannt. Denn die von ihr letztlich geforderte mehr oder weniger lückenlose Dokumentation würde eine solche absolute Gewißheit verschaffen; es bedürfte des Begriffs der "an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit", der ja einen gewissen Rest an Unsicherheit grundsätzlich zuläßt (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, § 128 Rdnr. 3), nicht mehr. Das Gericht darf und muß sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, der den Zweifeln Einhalt gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (so BGH-Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 = BGHZ 53, 245, 256); es muß für den Richter das Gefühl des Zweifels beseitigt sein (zu dieser Formulierung vgl. BSG-Urteil vom 27.03.1958 - 8 RV 387/55 = BSGE 7, 103, 106; vgl. auch BSG-Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92 = Breith 1994, 46,47). Dieses Maß an Überzeugung ist vorliegend für den Senat auf der Grundlage des Gutachtens von Dr.K ... (und auch unter Berücksichtigung der Gutachten von Frau Dr.Pa ... und Prof.Dr.N ...) ohne Einschränkung gegeben.

Die Beschäftigung des Klägers in den Jahren 1990 bis 1992 hat die Erwerbsunfähigkeit nicht beseitigt (vgl. zum folgenden KassKomm-Niesel § 44 SGB VI Rdnr. 13 ff. mit weiteren Nachweisen). Nach den Auskünften der Fa.M ... und der Fa.H ... ist es nämlich offensichtlich nicht gelungen, die gesundheitlich bedingten Leistungsdefizite des Klägers durch entsprechende Hilfestellung zu überbrücken (vgl. BSG-Urteil vom 25.4.1990 - 5 RJ 68/88 = SozR 3-2200 § 1247 RVO Nr. 3). Das Fehlen der notwendigen personalen Hilfe bei der Fa.M ... ergibt sich schon aus der Kürze der Beschäftigung, die bezeichnenderweise noch während der Einarbeitungsphase geendet hat. Die Fa.H ... hat bestätigt, daß die beiden letzten Arbeitsverhältnissen also 1990 und 1992 nur aus sozialen Gründen zustande gekommen seien und daß dem Kläger damals die für die Arbeit auf dem Bau notwendige Leistungsfähigkeit und Kraft bereits gefehlt habe; das vom Kläger bezogene Entgelt war also in dieser Zeit nicht mehr Ausdruck einer echten beruflichen Leistungsfähigkeit, sondern wurde vergönnungsweise gezahlt. Auch hier konnten die gesundheitlichen Defizite nicht ausgeglichen werden. Wenn die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 5.5.2000 zum Beweis einer echten beruflichen Leistungsfähigkeit die spätere Angabe des Klägers anführt, er habe die fraglichen Arbeitsverhältnisse aus "innerer Lustlosigkeit" gekündigt, so übersieht sie, daß dies eben auch ein Ausdruck seiner Krankheit ist.

Da der Kläger somit seit September 1984 erwerbsunfähig ist und ab 1.12.1994 Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat, war die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Augsburg vom 16.9.1999 zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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