L 16 RJ 209/98

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 4 Ar 666/97 A
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 RJ 209/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 17.09.1997 und der Bescheid der Beklagten vom 05.11.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.02.1997 abgeändert.
II. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 01.12.1998 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zur Hälfte zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am 1943 geborene Kläger ist kroatischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in seinem Heimatland, wo er als gelernter Schneider und Metzger bis Dezember 1988 Versicherungszeiten zurückgelegt hat. Seither erhält er kroatische Invalidenrente. In Deutschland war er von Januar 1967 bis März 1976 angeblich als Buchbinder versicherungspflichtig beschäftigt. Anfragen bei den Arbeitgebern von 1967/73 und 1973/74 blieben wegen unbekannten Empfängers ergebnislos. Der Arbeitgeber in der Zeit von April 1974 bis März 1976, eine Druckerei, teilte mit, der Kläger sei als Falzer nach einer zweimonatigen Anlernzeit beschäftigt worden. Die tarifliche Einstufung sei nicht mehr feststellbar. Der erste Rentenantrag des Klägers vom 14.11.1988 ist am 10.05.1990 nach einer sozialmedizinischen Stellungnahme Dr.D. zum vorgelegten Gutachten aus Jugoslawien vom 04.09.1989 abgelehnt worden. Danach konnte der Kläger wegen der seit 1981 bekannten Zuckerkrankheit mit Spätkomplikationen und Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule ohne wesentliche Funktionsausfälle nur noch leichte und ruhige Arbeiten zu ebener Erde in geschlossenen Räumen, sofern nicht an laufenden Maschinen, verrichten, das aber vollschichtig. Der zweite Versichertenrentenantrag vom 16.01.1996 wurde am 09.05.1996 mit der Begründung abgelehnt, die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien bei einem Versicherungsfall zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht erfüllt. Der Widerspruch wurde am 30.08.1996 zurückgewiesen. Am 11.10.1996 beantragte der Kläger eine Überprüfung dieses rentenablehnenden Bescheids und übersandte eine ausführliche medizinische Dokumentation. Dazu äußerte sich Dr.D. dahingehend, ab der Krankenhausaufnahme am 19.10.1995 sei der Kläger nur noch mit weiteren Einschränkungen halb- bis untervollschichtig einsatzfähig. Die Beklagte lehnte eine Rentengewährung am 05.11.1996 erneut mit der Begründung ab, trotz Erwerbsunfähigkeit auf Zeit seit 19.10.1995 stehe keine Rente zu, da die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Dem hielt der Kläger mit seinem Widerspruch vom 02.12.1996 entgegen, er dürfe freiwillige Beiträge nachentrichten. Im Widerspruchsbescheid vom 19.02.1997 heißt es hingegen, dem ablehnenden Bescheid vom 10.05.1990 habe das Merkblatt über die Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes beigelegen. Mit seiner am 15.05.1997 erhobenen Klage machte der Kläger geltend, aus wirtschaftlichen Gründen außer Stande gewesen zu sein, freiwillige Beiträge zu leisten. Daraufhin wies das Sozialgericht Landshut die Klage am 17.09.1997 ab. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch bestehe nicht, da es an der Kausalität zwischen evtl. fehlender Aufklärung und unterbliebener Zahlung fehle. Gegen das am 13.01.1998 zugestellte Urteil legte der Kläger am 03.04.1998 Berufung ein. Er begründete sie damit, der Versicherungsfall sei bereits 1990 eingetreten, da er seit 1981 Diabetiker sei. Aufgrund finanziellen Unvermögens habe er keine Möglichkeit gehabt, ab 1990 Beiträge zu zahlen. Er legte aktuelle medizinische Unterlagen vor, u.a. einen augenärztlichen Befund vom 02.02.1998 über eine nicht proliferative diabetische Retinopathie und Presbyopie beidseits mit Visus rechts 0,1 und links 0,7. Auf Veranlassung des Gerichts erstellte Dr.B. , Internist im Rotkreuz-Krankenhaus München, am 26.05.2000 ein Gutachten nach ambulanter Untersuchung. Seines Erachtens liegen seit der Antragstellung 1996 ein Diabetes mellitus vor, funktionelle Einäugigkeit links, diabetische Polyneuropathie, arterielle Hypertonie, Nierenzyste links, leichtes degeneratives Wirbelsäulensyndrom, Onichomykose und leichte Unterschenkelvarikosis beidseits. Er hielt leichte Arbeiten aus wechselnder Ausgangsposition vorwiegend in geschlossenen Räumen, ohne psychischen Druck, Akkord, Fließband, Wechselschicht, nicht bei Nacht, ohne Heben und Tragen von Lasten über 10 kg, nicht auf Treppen, Leitern und Gerüsten sowie an laufenden Maschinen, ohne Kälte, Nässe, starke Temperaturschwankungen, ohne Zugluft, Lärm, Staub, Gas, Dampf, Rauch und Reizstoffe und ohne Publikumsverkehr für vollschichtig zumutbar. Trotz verschiedener Einwände von Seiten der Beklagten gegen die qualitativen Einschränkungen hielt der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 07.02.2001 an den genannten Beschränkungen fest.

Der Kläger, der in der mündlichen Verhandlung am 15.05.2001 nicht erschien, beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Landshut aufzuheben und dem Kläger unter Zugrundelegung einer Minderung der Berufs- oder Erwerbsfähigkeit am 11.05.1990 bzw. 01.12.1990 Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit auf Dauer ab dem 01.02.1996 zu zahlen,
2. die Berufungsbeklagte zu verpflichten, die außergerichtlichen Kosten zu erstatten,
3. die Revision nicht zuzulassen.

In der mündlichen Verhandlung am 15.05.2001 erklärte sich die Beklagte bereit, dem Kläger ab 01.12.1998 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Beklagtenakten, der Akten des Sozialgerichts Landshut, der ärztlichen Unterlagen Dr.B. sowie der Berufungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und teilweise begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 17.09.1997 und der Bescheid der Beklagten vom 05.11.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.02.1997 sind abzuändern. Der Kläger hat Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente ab 01.12.1998. Für die Zeit davor scheitert ein Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit an den besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen.

Erwerbsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das 1/7 der monatlichen Bezugsgröße übersteigt; erwerbsunfähig ist nicht, wer eine selbständige Tätigkeit ausübt (§ 44 Abs.2 in der vom 23.06.1994 bis 08.05.1996 gültigen Fassung). Die Neufassung des Satzes 2, wonach erwerbsunfähig nicht ist, wer eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, ist erst mit Gesetz vom 02.05.1996 (Bundesgesetzblatt I S.659) erfolgt. Unabhängig davon lag und liegt trotz vollschichtiger Einsatzfähigkeit Erwerbsunfähigkeit vor, wenn die Arbeitsfähigkeit durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist und eine konkrete Verweisungstätigkeit nicht benannt werden kann (SozR 2200 § 1246 Nr.75, Nr.90, Nr.104 und Nr.136, SozR 3-2200 § 1246 Nr.50). Das Restleistungsvermögen des Klägers erscheint aufgrund der seit 02.02.1998 nachgewiesenen funktionellen Einäugigkeit soweit eingeschränkt, dass ernstliche Zweifel daran aufkommen, ob er damit in einem Betrieb einsetzbar ist. Es konnte keine Verweisungstätigkeit benannt werden, die für den Kläger unter Berücksichtigung seiner weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen in Betracht käme. Dementsprechend hat die Beklagte den Eintritt des Versicherungsfalls am 02.02.1998 bejaht und sich bereit erklärt, ab 01.12.1998 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer zu gewähren. Insoweit erübrigt sich eine weitere Darstellung der Entscheidungsgründe. Mit In-Kraft-Treten des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kroatien über soziale Sicherheit am 01.12.1998 (Bundesgesetzblatt 1998 II S.2034) sind die im angegriffenen Bescheid zutreffend verneinten besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen worden. Leistungsansprüche entstehen jedoch erst im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Abkommens (Art.40 Abs.1). Dem Kläger ist daher ab 01.12.1998 Erwerbsunfähigkeitsrente zu gewähren. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit entsprechend der ursprünglichen Beurteilung der Beklagten bereits am 19.10.1995 eingetreten ist. Jedenfalls fehlen vor In-Kraft-Treten des deutsch-kroatischen Sozialversicherungsabkommens die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen. Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhalten Versicherte nur, wenn sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (§ 44 Abs.1 Ziffer 2 SGB VI in der ab 01.01.1996 gültigen Fassung). Solche kann der Kläger im maßgeblichen Zeitraum vom 18.10.1990 bis 18.10.1995 nicht vorweisen, nachdem er den letzten Pflichtbeitrag im Dezember 1988 entrichtet hat. Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit sind für Versicherte nicht erforderlich, die vor dem 01.01.1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt haben, wenn jeder Kalendermonat vom 01.01.1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt ist (§ 241 Abs.2 Satz 1 SGB VI). Anwartschaftserhaltungszeiten sind beispielsweise Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (§ 240 Abs.2 Ziffer 5 SGB VI). Der Kläger bezieht seit Dezember 1998 kroatische Invalidenrente. Die Gleichstellung derartiger Renten im Sinne des § 240 Abs.2 Ziffer 5 SGB VI war in dem bis Ende 1998 maßgeblichen deutsch-jugoslawischen Sozialversicherungsabkommen nicht geregelt. Daher war ein Anspruch nicht zu begründen. Freiwillige Beiträge zur Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes ab 1989 - eine weitere Alternative zur Anwartschaftserhaltung gemäß § 240 Abs.2 Ziffer 1 SGB VI - können nicht fingiert werden, nachdem kein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch besteht. Insoweit wird auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des Erstinstanzurteils Bezug genommen (§ 153 Abs.3 SGG). Anhaltspunkte dafür, dass der Versicherungsfall entsprechend der Behauptung des Klägers bereits 1990 eingetreten ist, ergeben sich nicht. Der im strittigen Zeitraum rentenablehnende Bescheid vom 10.05.1990 ist bestandskräftig geworden und der gerichtlich bestellte Sachverständige hat noch im Jahr 2000 ein vollschichtiges Leistungsvermögen bejaht. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen hat vor dem Nachweis der funktionellen Einäugigkeit 1998 nicht vorgelegen. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit im strittigen Zeitraum vom 01.02.1996 bis 30.11.1998. Berufsunfähig ist ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist (§ 43 SGB VI in der bis 31.12.2000 maßgebenden Fassung). Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen in ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 43 Abs.2 Satz 2 SGB VI). Die soziale Zumutbarkeit der Verweisungstätigkeit beurteilt sich nach der sozialen Wertigkeit des bisherigen Berufs. Dabei ist allein auf das Erwerbsleben in der Bundesrepublik Deutschland abzustellen. Den Versicherten ist die Verweisung auf die im Vergleich zu ihrem bisherigen Beruf nächstniedrigere Gruppe zumutbar (ständige Rechtsprechung u.a. in SozR 3-2200 § 1246 RVO Nr.5). Ausgangspunkt für die Bewertung der Berufsunfähigkeit des Klägers ist die in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübte Tätigkeit als Falzer. Nachdem der Kläger selbst keine Angaben zu Dauer und Zeitpunkt der angeblichen Ausbildung als Buchbinder gemacht hat, er kein Zeugnis über eine entsprechende Ausbildung vorlegen konnte und die im Berufungsverfahren eingeholte Arbeitgeberauskunft die zuletzt ausgeübte Beschäftigung als angelernte Tätigkeit nach einer Anlernzeit von 2 Monaten qualifiziert, ist die Einstufung des Klägers als angelernter Arbeiter geboten. Die tatsächliche tarifliche Einstufung war ebenso wenig zu ermitteln wie die Art der Beschäftigung bis April 1974. Da also keine Arbeitsqualität nachgewiesen ist, die über einen Anlernberuf des unteren Bereich hinausgeht, ist der Kläger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Dieser stand dem Kläger trotz seiner zahlreichen Leistungseinschränkungen bis 1998 offen. Ob dem Kläger ein Arbeitsplatz tatsächlich vermittelt hätte werden können, ist rechtlich unerheblich, weil vollschichtig einsatzfähigen Versicherten der Arbeitsmarkt offen steht und das Risiko der Arbeitsplatzvermittlung von der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung und nicht von der gesetzlichen Rentenversicherung getragen wird (vgl. u.a. SozR 3-2200 § 1246 Nr.50). Insoweit muss sich der im Ausland wohnhafte Kläger wie ein der Bundesrepublik Deutschland lebender Versicherter behandeln lassen. Entscheidend ist, dass der Kläger entsprechend dem überzeugenden und ausführlichen Gutachten Dr.B. die vollschichtige Tätigkeit unter betriebsüblichen Bedingungen erbringen konnte, weil zusätzliche Pausen nicht erforderlich waren, und dass die Anmarschwege zur Arbeit problemlos zurückgelegt werden konnten. Wie der ergänzenden Stellungnahme des gerichtlich bestellten Sachverständigen zu entnehmen ist, hielt er trotz unterdurchschnittlicher kognitiver Fähigkeit die Umstellungsfähigkeit auf eine andere als die zuletzt ausgeübte Tätigkeit für gegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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