L 20 RJ 239/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 6 RJ 815/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 RJ 239/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 03.02.2000 und die Bescheide der Beklagten vom 13.01.1997 und 28.08.1997 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger ab dem 01.11.1996 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers beider Rechtszüge.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der am 1955 geborene Kläger erlernte vom 01.08.1971 bis 16.07.1975 den Beruf des Starkstromelektrikers und war anschließend bis 20.06.1995 berufsentsprechend bei der Energieversorgung L. und U.GmbH in der Kabelverlegung, beim Bau von Trafostationen und im Bereitschaftsdienst beschäftigt. Er wurde nach Vergütungsgruppe 6 des Manteltarifvertrages der Bayer. Energieversorgungsunternehmen entlohnt. Seit Juli 1995 konnte er seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben und wurde versuchsweise von seinem Arbeitgeber auf eine leichte Lagertätigkeit umgesetzt, die er nach zwei Wochen wegen körperlicher Beschwerden abbrechen musste.

Am 11.11.1996 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit.

Diese ließ ihn im Verwaltungsverfahren von den Internisten Frau Dr.J. und Herrn Dr.S. untersuchen. Unter Stellung der Diagnosen: Vollständige Magen- und Milzentfernung wegen Non-Hodgkinlymphom III b (10/92) mit Chemotherapie von 9/92 bis 11/92, ohne bisher nachgewiesenes Lokalrezidiv oder Metastasen; rezidivierende Verdauungsstörungen mit Neigung zu Durchfällen ohne wesentliche Minderung des Ernährungs- oder Allgemeinzustandes; ausgeprägtes psychovegetatives Syndrom bei asthenischer Konstitution und Haltungsfehler der BWS mit Rundrücken führten die ärztlichen Sachverständigen aus, dass der Kläger zwar nicht mehr den erlernten Beruf des Starkstromelektrikers, jedoch auf Grund seines relativ guten Allgemeinbefundes und der geringen objektivierbaren funktionellen Einschränkungen noch leichte Arbeiten mit zusätzlichen Funktionseinschränkungen vollschichtig verrichten könne.

Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 13.01.1997 die Gewährung einer Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit an den Kläger ab.

Hiergegen erhob dieser am 10.02.1997 Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28.08.1997 zurückwies, da der Kläger insbesondere noch Verweisungstätigkeiten als Kleingerätereparateur, Gerätezusammensetzer, im Verkauf und der Kundenbetreuung sowie als Qualitätsprüfer und Registrator vollschichtig verrichten könne.

Dagegen hat der Kläger am 22.09.1997 Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhoben. Nachdem der gerichtliche Sachverständige Dr.D. die sozialmedizinische Leistungseinschätzung im Verwaltungsverfahren bestätigt und Herr Prof.Dr.A. in seinem internistisch-gastroenterologischen Gutachten vom 15.07.1999 den Kläger noch für vollschichtig einsetzbar für leichte und mittelschwere Tätigkeiten im Sitzen, Stehen, im Freien und in geschlossenen Räumen in wechselnder Stellung gehalten hatte, wobei er die Möglichkeit haben sollte, zeitgerecht die Toilette aufsuchen und sich kurzzeitig ausruhen zu können, hat das SG mit Urteil vom 03.02.2000 die Klage abgewiesen. Unter Berücksichtigung der eingeholten ärztlichen Sachverständigengutachten sei der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch vollschichtig einsetzbar. Insbesondere könne er auf Grund seiner beruflichen Vorkenntnisse und der noch vorhandenen Umstellungsfähigkeit sich innerhalb von drei Monaten auch auf eine Tätigkeit als Hausmeister, Pförtner und Registrator im öffentl. Dienst nach Vergütungsgruppe IX b BAT Bund/Länder umstellen.

Gegen das ihm am 30.03.2000 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 28.04.2000 beim Bayer.Landessozialgericht (BayLSG) eingegangenen Berufung.

Auf Grund seiner schweren Leistungseinschränkungen sei ihm die Tätigkeit eines Hausmeisters trotz handwerklicher Kenntnisse nicht zumutbar. Nach den Ausführungen von Herrn Prof.Dr.A. müsse er jederzeit die Toilette erreichen können. Darüberhinaus sollte auch eine zwischenzeitliche körperliche Schonung in einem Liegeraum möglich sein. Zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes sei er daher nicht mehr einsetzbar, so dass die Voraussetzung für die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente bei ihm vorlägen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des SG Würzburg vom 03.02.2000 und den Bescheid der Beklagten vom 13.01.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.08.1997 aufzuheben und ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit bei einem Leistungsfall vom 20.06.1995 ab 01.11.1996 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 03.02.2000 zurückzuweisen.

Beim Kläger seien keine betriebsunüblichen Pausen zu beachten. Die notwendigen 1/4 bis 1/2-stündigen Ruhepausen lägen im Bereich der ihm zugestandenen persönlichen Verteilzeit, so dass ihm auch weiterhin eine vollschichtige Tätigkeit zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zumutbar sei.

Der Senat hat ein Gutachten des Internisten und Arbeitsmediziners Dr.S. vom 08.11.2000 eingeholt, in dem der ärztliche Sachverständige die bereits bekannten Diagnosen bestätigte und ebenfalls noch von einem vollschichtigen Einsatzvermögen des Klägers ausging. Tätigkeiten mit besonderem Zeitdruck, häufigem Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 15 kg, mit Absturzgefahr und erhöhter Unfallgefährdung solle er jedoch vermeiden. Auf Grund der beim Dumping-Syndrom eintretenden Beschwerden nach dem Essen mit einer Früh- und Spätsymptomatik in Form von Übelkeit, Brechreiz oder Erbrechen, geblähtem Leib mit Bauchschmerzen, Schwächezuständen, Heißhunger und Kreislaufbeschwerden mit Schwindel, die in ausgeprägter Form etwa drei bis viermal pro Woche nach dem Frühstück mit starken Einschränkungen der beruflichen Einsatzfähigkeit für etwa eineinhalb Stunden aufträten, sei mit einer weiteren Einschränkung der Verwendungsfähigkeit des Klägers zu rechnen. Er müsse deshalb die Möglichkeit haben, beim morgentlichen Arbeitsbeginn, dh nach dem Frühstück und nach dem Mittagessen die Arbeit etwa eineinhalb Stunden zu unterbrechen und sich auf einer Liege auszuruhen. Insbesondere bei den von der Beklagten genannten Verweisungstätigkeiten im Verkauf seien diese Einschränkungen unter den üblichen betrieblichen Verhältnissen als ungewöhnlich anzusehen.

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 14.12.2000 hat Herr Dr.S. ausgeführt, dass bei einer etwa achtstündigen täglichen Arbeitszeit beim Kläger ungünstigstenfalls durchschnittlich vier Stuhlentleerungen anfielen. Da unter den üblichen Arbeitsbedingungen in Innenräumen von Betrieben Toiletten hinreichend rasch erreichbar seien, werde dadurch keine ausgeprägte Störung des Arbeitsablaufes bedingt, jedoch durch die etwa zwei bis viermal wöchentlich auftretenden hypoglykämischen Schwächezustände des Klägers durch Absinken der Blutkonzentration im Rahmen eines therapieresistenten Dumping-Syndroms. Eine Ausübung der Verweisungstätigkeiten unter den üblichen Arbeitsplatzverhältnissen erscheine somit problematisch und ein vollschichtiges Leistungsvermögen nur unter günstigen Arbeitsplatzverhältnissen möglich. Erforderlich wäre insbesondere eine außergewöhnlich große Freizügigkeit bezüglich der Arbeitszeit auf Grund der durch die hypoglykämischen Anfälle bedingten Ausfallzeiten des Klägers.

Auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und des SG wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes = SGG) ist auch im Übrigen zulässig (§ 144 SGG).

Das Rechtsmittel erweist sich auch als begründet, denn entgegen der Auffassung der Beklagten im angefochtenen Bescheid vom 13.01.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.08.1997 und des SG im Urteil vom 03.02.2000 hat der Kläger Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).

Nach § 44 Abs 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen EU, wenn sie 1. erwerbsunfähig sind, 2. die letzten fünf Jahre vor Eintritt der EU drei Jahre Pflichtbeitragszeiten haben und 3. vor Eintritt der EU die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Erwerbsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das 1/7 der monatlichen Bezugsgröße übersteigt (§ 44 Abs 2 Satz 2 Halbs 1 SGB VI).

Im Rahmen des § 44 SGB VI muss sich ein Versicherter zwar uneingeschränkt auf alle seinem Leistungsvermögen entspechenden Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) ist die konkrete Bezeichnung von Verweisungstätigkeiten entbehrlich, wenn der Versicherte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes noch regelmäßig über die betriebsübliche Vollschichtarbeitszeit verrichten kann (vgl BSG vom 24.02.1999 - B 5 RJ 30/98 R und vom 11.05.1999 - B 13 RJ 71/97 R).

Um jedoch zu verhindern, dass soziale Wirklichkeit und soziales Leistungsrecht in realitätsfremder Weise auseinanderfallen, fordert das BSG als Ausnahme von diesem Grundsatz die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit, wenn die im Einzelfall vorliegenden Einsatzbeschränkungen so erheblich sind, dass von vornherein ernste Zweifel aufkommen müssen, ob ein Versicherter mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen noch in den üblichen Betriebsablauf eingegliedert werden kann (vgl BSG aaO mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).

Zur Überzeugung des Senates kann der Kläger nicht mehr unter betriebsüblichen Bedingungen vollschichtig und regelmäßig Erwerbsarbeit leisten. Auf Grund des bei ihm vorliegenden Dumping-Syndroms und der in diesem Zusammenhang auftretenden Beschwerden nach dem Essen mit Übelkeit, Brechreiz, Erbrechen, geblähtem Leib, Schwächezuständen, Kreislaufbeschwerden und Schwindel, die in ausgeprägter Form etwa drei bis viermal pro Woche bereits nach dem Frühstück auftreten, kommt es zu starken Einschränkungen seiner beruflichen Einsatzfähigkeit. Nach den überzeugenden Ausführungen des Internisten und Gastroenterologen Prof.Dr.A. und des Arbeitsmediziners Dr.S. in ihren Gutachten vom 15.07.1999 bzw 08.11.2000 muss der Kläger - bedingt durch die hypoglykämisch bedingten Zustände und die in diesem Zusammenhang auftretenden Schwächezustände - dann bereits nach dem Frühstück zum morgentlichen Arbeitsbeginn und erneut nach dem Mittagessen die Möglichkeit haben, die Arbeit etwa eineinhalb bis zwei Stunden zu unterbrechen und sich auf einer Liege ausruhen zu können. Bei den benannten Verweisungstätigkeiten im Verkauf, als Hausmeister und Pförtner ist jedoch die Einlegung derartig langer Pausen unter den üblichen betrieblich Verhältnissen nicht möglich.

Entgegen der Auffassung der Beklagten geht der Senat davon aus, dass diese Zeiten vom Kläger aber auch an einem betriebsüblichen Arbeitsplatz als Kleingerätereparateur und Gerätezusammensetzer sowie bei den genannten Kontrolltätigkeiten - unabhängig davon, ob der Kläger auf solche Tätigkeiten zumutbar verweisbar ist - nicht im Rahmen der normalen Verteilzeiten kompensiert werden können, da sie mit einem normalen Betriebsablauf nicht vereinbar sind. Vielmehr stellen diese Arbeitszeitgestaltungen unübliche Arbeitsbedingungen dar. Weitere dem Kläger noch zumutbare Verweisungstätigkeiten sind nicht ersichtlich.

Da die Notwendigkeit größerer Pausen beim Kläger auf Grund des bei ihm vorliegenden Dumping-Syndroms bereits seit seiner Magenoperation im Dezember 1992 besteht, hat er ab Beginn des Antragsmonats (01.11.1996) Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 99 Abs 1 S 2 SGB VI), denn er erfüllt sowohl die allgemeine Wartezeit des § 50 SGB VI als auch die Vorversicherungszeit des § 44 Abs 1 Nr 2 SGB VI.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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