Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 7 RJ 454/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 6 RJ 307/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 29. März 2000 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf unbefristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Die am 1963 geborene Klägerin beantragte erstmals am 12.02.1986 wegen der Folgen eines am 20.05.1982 privat erlittenen Verkehrsunfalls bei der Beklagten Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte zunächst mit Bescheid vom 25.07.1986 wegen vordringlich durchzuführender Rehabilitationsmaßnahmen vorläufig und sodann mit Bescheid vom 19.01.1987 mangels Erfüllung der Wartezeit und, weil weder Erwerbs- noch Berufsunfähigkeit vorliege, endgültig ab.
Am 17.05.1995 beantragte die Klägerin bei der Beklagten erneut die Zahlung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.08.1995 ab, weil im Zeitpunkt des Rentenantrags die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentenleistung nicht erfüllt seien. Den am 08.09.1995 hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.02.1996 zurück; der Widerspruch sei unzulässig, weil im Bescheid vom 18.08.1995 eine sachliche Prüfung für den Fall zugesagt worden sei, dass - wie nun geschehen - der Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit bereits vor dem Zeitpunkt des Rentenantrags geltend gemacht werde. Der Widerspruchsbescheid wurde von der Beklagten am 06.02.1996 mit eingeschriebenem Brief zur Post gegeben; Klage wurde nicht erhoben.
Mit Bescheid vom 17.07.1996 lehnte nunmehr die Beklagte den Rentenantrag vom 17.05.1995 erneut ab. Zwar liege bei der Klägerin vom 23.10.1995 bis 30.04.1997 Erwerbsunfähigkeit (EU) vor; mangels Vorliegens der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bestehe aber kein Rentenanspruch. Auf den am 09.08.1996 eingelegten Widerspruch erteilte die Beklagte den Bescheid vom 17.10.1996. Der Klägerin stehe vom 01.05.1996 (vom Beginn des siebten Kalendermonats nach Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit am 23.10.1995) bis 30.04.1997 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu. Die Rente sei befristet zu leisten, weil nach den medizinischen Befunden begründete Aussicht auf Besserung der gesundheitlichen Verhältnisse bestehe. Der Bescheid werde nach § 86 SGG Gegenstand des anhängigen Widerspruchsverfahrens. Nachdem die Klägerin erklärt hatte, die Rente sei unbefristet zu leisten, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.03.1997 zurück.
Gesundheitszustand und berufliches Leistungsvermögen der Klägerin hatte die Beklagte umfangreichem Vorbefundmaterial entnommen. Als entscheidend für die vorübergehende Leistungseinschränkung hatte der sozialmedizinische Dienst der Beklagten die Folgen eines am 07.12.1995 operierten schädelbasisnahen Aneurysmas erachtet.
Über einen neben dem Widerspruchsverfahren am 16.01.1997 gestellten Weiterzahlungsantrag hat die Beklagte nicht entschieden.
Mit der am 18.04.1997 zum Sozialgericht Landshut (SG) erhobenen Klage begehrte die Klägerin weiterhin unbefristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Das SG erhob über Gesundheitszustand und berufliches Leistungsvermögen der Klägerin Beweis durch Einholung medizinischer Sachverständigengutachten von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, Sportmedizin Dr.G. (Gutachten vom 26.07.1998), sodann - aufgrund eines entsprechenden Antrags der Klägerin nach § 109 SGG - von dem Arzt für Orthopädie, Sportmedizin und Chirotherapie Dr.H. (Gutachten vom 10.02.1999) und abschließend - auf Anregung der Beklagten und im Hinblick auf die Einwendungen des sozialmedizinischen Dienstes/Arzt für Chirurgie und Unfallchirurgie, Sozialmedizin Dr.L. vom 20.07.1999 - nach § 106 SGG von dem Orthopäden Dr.S. , Chefarzt der Orthopädie/Traumatologie der R.klinik B. (Gutachten vom 19.08.1999 einschließlich einer ergänzenden Stellungnahme vom 22.12.1999 zu der Äußerung des sozialmedizinischen Dienstes/Dr.L. vom 30.11.1999).
Dr.G. stellte fest, bei der Klägerin liege seit dem am 20.05.1982 erlittenen Unfall ein Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma vor mit einem pseudo-neurasthenischen Syndrom, einer diskreten Residualsymptomatik links (insbesondere auch mit einer Beeinträchtigung der Feinmotorik der linken Hand), einer geringgradigen Peronäusläsion links, Bewegungseinschränkungen im Bereich beider Kniegelenke und einer Migräne. Die Klägerin könne vollschichtig nur noch leichte Tätigkeiten vorwiegend im Sitzen, ohne Akkord- oder Wechselschichtarbeit, ohne Streßbelastung sowie ohne besondere Beanspruchung der linken Hand verrichten. Das Anpassungs- und Umstellungsvermögen sei nicht aufgehoben, zusätzliche Arbeitspausen seien nicht erforderlich, auch könne ein Anmarschweg zur Arbeitsstätte durchaus zurückgelegt werden.
Dr.H. erhob bei der Klägerin folgende Diagnosen: 1. Valgusgonarthrose rechts. 2. Anteriore und posteriore Kniegelenksinstabilität links bei Genu recurvatum. 3. Hallux rigidus rechts bei Zustand nach Hallux-valgus-Operation. 4. Krallenzehenbildung an den Zehen 4 und 5 rechts. 5. Tendomyotische Cervicocephalgie bei beginnender Uncovertebralarthrose. 6. Lumbalgie mit pseudoradiculärer Schmerzausstrahlung bei fortgeschrittener Osteochondrose L5/S1. 7. Zustand nach osteosynthetisch versorgter Oberschenkelfraktur beidseits. 8. Subacromial-Syndrom beidseits. 9. Chronisches Schmerzsyndrom.
Der Sachverständige kam zum Ergebnis, dass die Klägerin keine Arbeiten von wirtschaftlichem Wert mehr verrichten könne; Besserungsaussicht bestehe nicht, auch könnten die üblichen Anmarschwege zur Arbeitsstätte nicht mehr zurückgelegt werden.
Nach Dr.S. liegen bei der Klägerin folgende Gesundheitsstörungen vor: 1. Lumbalsyndrom pseudoradikulär/radikulär mit L 5 Fußheberschwäche links und Zehenheberschwäche links sowie Hypersensibilitätsbereich distal betont L 5. 2. Fortgeschrittene Pangonarthrose des rechten Kniegelenks. 3. Komplexinstabilität Grad I linkes Kniegelenk. 4. Komplexinstabilität Grad I rechtes Kniegelenk. 5. Hallux rigidus rechts mit Großzehengrundgelenksarthrose Grad III, Zustand nach Hallux-valgus-Operation. 6. Krallenzehenbildung D V mit Beugekontraktur, auch nach Operation. 7. Unphysiologische Streckkontraktur Zehe IV rechts nach Operation. 8. Fußwurzelarthrose rechter Fuß. 9. Zustand nach osteosynthetisch versorgter Oberschenkelfraktur beidseits mit spornförmiger Kallushyperreaktion. 10. Geringgradiges Cervicalsyndrom bei beginnender degenerativer Veränderung (Uncovertebralarthrose). 11. Haglund-Ferse links. 12. Neurologisch bedingte Reduktion der Beweglichkeit und Einsatzfähigkeit der linken Hand. 13. Funktionelles schmerzhaftes Knacken beider Schultergelenke bei Schulterhochstand beidseits mit geringfügigem Supraspinatus-outlet-Impingement-Syndrom.
Dr.S. führte aus, bei der Klägerin fänden sich orthopädischerseits vor allem schmerzhafte Einschränkungen der unteren Extremitäten. In beiden Kniegelenken lägen Abnutzungserscheinungen fortgeschrittenen Ausmaßes vor, und zwar überwiegend rechts mit gleichzeitiger Instabilität beidseits. Hierdurch werde die Stabilität beider Kniegelenke deutlich beeinflußt; dies mache sich bei Arbeiten auf unebenem Terrain und insbesondere bei Startphasen nach längeren abgewinkelten Haltungen der Kniegelenke bemerkbar. Am rechten Kniegelenk bestehe annähernd eine Indikation für eine Prothesenimplantation. Desweiteren bestehe - vermutlich als Restsymptomatik eines Schädelhirntraumas - eine Fußheber- und Großzehenheber- sowie Zehenheberschwäche links mit Gangdyskoordination links bei zusätzlich deutlich geschädigtem rechten Vorfuß. Der rechte Fuß werde weniger belastet als der linke Fuß, was sich auch in der Fußsohlenbeschwielung darstelle. Es bestehe außerdem von seiten der oberen Extremitäten eine vermutlich zentral bedingte Dyskoordination der linken Hand mit deutlich reduzierter Einsatzfähigkeit nicht nur hinsichtlich des Fein- und Spitzgriffs, sondern auch der groben Kraft, so dass von einer verminderten Gebrauchsfähigkeit der linken Hand ausgegangen werden müsse. Wenn Dr.G. vom Fehlen umschriebener Paresen ausgehe und vom Fehlen von Atrophien, so müsse dem widersprochen werden. Es finde sich nämlich eine Fußheber- und eine Großzehenheber- sowie Zehenheberparese links, Kraftgrad III bis IV/V. Die Daumenmuskulatur sei links abgeflacht im Vergleich zu rechts, insofern liege auch eine Atrophie vor. Die grobe Kraft und die feineren Bewegungen seien nicht seitengleich regelrecht, sondern es bestünden deutliche Unterschiede hinsichtlich der linken und rechten Hand. Die linke Hand sei im Vergleich zur rechten Hand deutlich dyskoordinierter und schwächer, dies gebe auch Dr.G. zu, wenn er schreibe, dass eine Bradydysdiadochokinese bestehe. Die Klägerin könne nach ihrem festgestellten Gesundheitszustand täglich nur noch zwei Stunden bis unter halbschichtig arbeiten, wobei die Betonung auf zwei Stunden liege. Die Störungen der Klägerin seien eindeutig nachvollziehbar. Das Vorgutachten von Dr.H. habe nicht dramatisiert sondern entspreche den Tatsachen, wie die intensive Nachuntersuchung der Klägerin ergeben habe. Es liege ein polytopes und multiorganes Defektsyndrom vor, das mehr Liegephasen als Steh- und Gehphasen im Sinne der Belastungsphasen zuläßt. Dekompensationsmechanismen kämen sofort zum Tragen. Eine größere Belastbarkeit erscheine nicht zumutbar. Mit Sicherheit benötige die Klägerin unübliche zusätzliche Arbeitspausen von mehr als zweimal einer Viertelstunde täglich. Ein Anmarschweg zur Arbeitsstätte von 500 Metern viermal täglich könne auf keinen Fall mehr zurückgelegt werden. Der jetzt festzustellende Gesundheitszustand habe im großen und ganzen bereits im Mai 1995 bestanden. Die Tätigkeit, die zum damaligen Zeitpunkt durchgeführt worden sei, sei nur unter Aufbringung der maximalen körperlichen Kräfte und unter dem Risiko einer massiven körperlichen Verschlechterung verrichtet worden. Besserungsaussicht bestehe nicht.
Zu der vom sozialmedizinischen Dienst der Beklagten/Dr.L. unter dem 30.11.1999 vorgebrachten Kritik nahm Dr.S. am 22.12.1999 im einzelnen Stellung, wobei er auch auf die im vorliegenden Fall bestehende besondere Bedeutung des persönlichen Eindrucks von der Klägerin in der Untersuchungssituation hinwies; es bleibe eindeutig bei der Schlussfolgerung in seinem Gutachten.
Der sozialmedizinische Dienst der Beklagten/Dr.L. äußerte hierzu unter dem 12.01.2000, er sehe keine Veranlassung, von seiner bisherigen Auffassung abzuweichen.
Das SG verpflichtete hierauf die Beklagte mit Urteil vom 29.03.2000, der Klägerin ab 01.06.1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (ohne zeitliche Befristung) zu gewähren. Das Urteil wurde der Beklagten am 02.05.2000 zugestellt.
Am 29.05.2000 ging die Berufung der Beklagten beim Bayer. Landessozialgericht ein. Sie legte zwei Stellungnahmen von Dr.L. vor (vom 18.05.2000 und vom 31.07.2001), in denen inhaltlich auf die erste Äußerung vom 30.11.1999 Bezug genommen wurde. Das Erstgericht habe sich nicht mit den Argumenten der Beklagten auseinandergesetzt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Landshut vom 29.03.2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen und zur Ergänzung des Tatbestands wird im Übrigen auf den Inhalt der beigezogenen Akten (Rentenakten der Beklagten; Klageakten des SG Landshut) und der Akte des Bayer. Landessozialgerichts sowie auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Urteil des SG Landshut vom 29.03.2000 ist nicht zu beanstanden, da die Klägerin gegen die Beklagte ab 01.06.1995 unbefristeten Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat. Der Senat folgt diesbezüglich in vollem Umfang den Gründen des angefochtenen Urteils und sieht daher gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Ergänzend ist lediglich auszuführen:
Der Vorwurf der Beklagten, das Erstgericht habe sich nicht mit den Einwendungen Dr.L. gegen das Gutachten von Dr.S. auseinandergesetzt, geht fehl. Im Hinblick auf die erforderliche medizinische Sachkunde hat das SG in verfahrensrechtlich nicht zu beanstandender Weise von Dr.S. eine ergänzende Stellungnahme (vom 22.12.1999) eingeholt, in der sich dieser mit der von Dr.L. gesehenen Problematik eingehend und überzeugend auseinandergesetzt hat. Gegenüber dieser Stellungnahme Dr.S. hat Dr.L. in seinen weiteren Äußerungen (vom 12.01.2000, 18.05.2000 und 31.07.2001) keine Sachargumente mehr vorgetragen, die für das SG oder den Senat hätten Veranlassung bieten können, an der Richtigkeit des Gutachtens von Dr.S. zu zweifeln. Im vorliegenden Fall sollte auch nicht übersehen werden, dass die Klägerin von zwei medizinischen Sachverständigen auf orthopädischem Fachgebiet nach persönlicher Untersuchung für nur noch unter halbschichtig einsatzfähig beurteilt worden ist. Dies zeigt, dass offensichtlich die Beurteilung nach Aktenlage, worauf auch Dr.S. besonders hinweist, dem konkreten Fall nicht gerecht werden kann.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Landshut vom 29.03.2000 war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf unbefristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Die am 1963 geborene Klägerin beantragte erstmals am 12.02.1986 wegen der Folgen eines am 20.05.1982 privat erlittenen Verkehrsunfalls bei der Beklagten Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte zunächst mit Bescheid vom 25.07.1986 wegen vordringlich durchzuführender Rehabilitationsmaßnahmen vorläufig und sodann mit Bescheid vom 19.01.1987 mangels Erfüllung der Wartezeit und, weil weder Erwerbs- noch Berufsunfähigkeit vorliege, endgültig ab.
Am 17.05.1995 beantragte die Klägerin bei der Beklagten erneut die Zahlung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.08.1995 ab, weil im Zeitpunkt des Rentenantrags die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentenleistung nicht erfüllt seien. Den am 08.09.1995 hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.02.1996 zurück; der Widerspruch sei unzulässig, weil im Bescheid vom 18.08.1995 eine sachliche Prüfung für den Fall zugesagt worden sei, dass - wie nun geschehen - der Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit bereits vor dem Zeitpunkt des Rentenantrags geltend gemacht werde. Der Widerspruchsbescheid wurde von der Beklagten am 06.02.1996 mit eingeschriebenem Brief zur Post gegeben; Klage wurde nicht erhoben.
Mit Bescheid vom 17.07.1996 lehnte nunmehr die Beklagte den Rentenantrag vom 17.05.1995 erneut ab. Zwar liege bei der Klägerin vom 23.10.1995 bis 30.04.1997 Erwerbsunfähigkeit (EU) vor; mangels Vorliegens der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bestehe aber kein Rentenanspruch. Auf den am 09.08.1996 eingelegten Widerspruch erteilte die Beklagte den Bescheid vom 17.10.1996. Der Klägerin stehe vom 01.05.1996 (vom Beginn des siebten Kalendermonats nach Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit am 23.10.1995) bis 30.04.1997 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu. Die Rente sei befristet zu leisten, weil nach den medizinischen Befunden begründete Aussicht auf Besserung der gesundheitlichen Verhältnisse bestehe. Der Bescheid werde nach § 86 SGG Gegenstand des anhängigen Widerspruchsverfahrens. Nachdem die Klägerin erklärt hatte, die Rente sei unbefristet zu leisten, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.03.1997 zurück.
Gesundheitszustand und berufliches Leistungsvermögen der Klägerin hatte die Beklagte umfangreichem Vorbefundmaterial entnommen. Als entscheidend für die vorübergehende Leistungseinschränkung hatte der sozialmedizinische Dienst der Beklagten die Folgen eines am 07.12.1995 operierten schädelbasisnahen Aneurysmas erachtet.
Über einen neben dem Widerspruchsverfahren am 16.01.1997 gestellten Weiterzahlungsantrag hat die Beklagte nicht entschieden.
Mit der am 18.04.1997 zum Sozialgericht Landshut (SG) erhobenen Klage begehrte die Klägerin weiterhin unbefristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Das SG erhob über Gesundheitszustand und berufliches Leistungsvermögen der Klägerin Beweis durch Einholung medizinischer Sachverständigengutachten von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, Sportmedizin Dr.G. (Gutachten vom 26.07.1998), sodann - aufgrund eines entsprechenden Antrags der Klägerin nach § 109 SGG - von dem Arzt für Orthopädie, Sportmedizin und Chirotherapie Dr.H. (Gutachten vom 10.02.1999) und abschließend - auf Anregung der Beklagten und im Hinblick auf die Einwendungen des sozialmedizinischen Dienstes/Arzt für Chirurgie und Unfallchirurgie, Sozialmedizin Dr.L. vom 20.07.1999 - nach § 106 SGG von dem Orthopäden Dr.S. , Chefarzt der Orthopädie/Traumatologie der R.klinik B. (Gutachten vom 19.08.1999 einschließlich einer ergänzenden Stellungnahme vom 22.12.1999 zu der Äußerung des sozialmedizinischen Dienstes/Dr.L. vom 30.11.1999).
Dr.G. stellte fest, bei der Klägerin liege seit dem am 20.05.1982 erlittenen Unfall ein Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma vor mit einem pseudo-neurasthenischen Syndrom, einer diskreten Residualsymptomatik links (insbesondere auch mit einer Beeinträchtigung der Feinmotorik der linken Hand), einer geringgradigen Peronäusläsion links, Bewegungseinschränkungen im Bereich beider Kniegelenke und einer Migräne. Die Klägerin könne vollschichtig nur noch leichte Tätigkeiten vorwiegend im Sitzen, ohne Akkord- oder Wechselschichtarbeit, ohne Streßbelastung sowie ohne besondere Beanspruchung der linken Hand verrichten. Das Anpassungs- und Umstellungsvermögen sei nicht aufgehoben, zusätzliche Arbeitspausen seien nicht erforderlich, auch könne ein Anmarschweg zur Arbeitsstätte durchaus zurückgelegt werden.
Dr.H. erhob bei der Klägerin folgende Diagnosen: 1. Valgusgonarthrose rechts. 2. Anteriore und posteriore Kniegelenksinstabilität links bei Genu recurvatum. 3. Hallux rigidus rechts bei Zustand nach Hallux-valgus-Operation. 4. Krallenzehenbildung an den Zehen 4 und 5 rechts. 5. Tendomyotische Cervicocephalgie bei beginnender Uncovertebralarthrose. 6. Lumbalgie mit pseudoradiculärer Schmerzausstrahlung bei fortgeschrittener Osteochondrose L5/S1. 7. Zustand nach osteosynthetisch versorgter Oberschenkelfraktur beidseits. 8. Subacromial-Syndrom beidseits. 9. Chronisches Schmerzsyndrom.
Der Sachverständige kam zum Ergebnis, dass die Klägerin keine Arbeiten von wirtschaftlichem Wert mehr verrichten könne; Besserungsaussicht bestehe nicht, auch könnten die üblichen Anmarschwege zur Arbeitsstätte nicht mehr zurückgelegt werden.
Nach Dr.S. liegen bei der Klägerin folgende Gesundheitsstörungen vor: 1. Lumbalsyndrom pseudoradikulär/radikulär mit L 5 Fußheberschwäche links und Zehenheberschwäche links sowie Hypersensibilitätsbereich distal betont L 5. 2. Fortgeschrittene Pangonarthrose des rechten Kniegelenks. 3. Komplexinstabilität Grad I linkes Kniegelenk. 4. Komplexinstabilität Grad I rechtes Kniegelenk. 5. Hallux rigidus rechts mit Großzehengrundgelenksarthrose Grad III, Zustand nach Hallux-valgus-Operation. 6. Krallenzehenbildung D V mit Beugekontraktur, auch nach Operation. 7. Unphysiologische Streckkontraktur Zehe IV rechts nach Operation. 8. Fußwurzelarthrose rechter Fuß. 9. Zustand nach osteosynthetisch versorgter Oberschenkelfraktur beidseits mit spornförmiger Kallushyperreaktion. 10. Geringgradiges Cervicalsyndrom bei beginnender degenerativer Veränderung (Uncovertebralarthrose). 11. Haglund-Ferse links. 12. Neurologisch bedingte Reduktion der Beweglichkeit und Einsatzfähigkeit der linken Hand. 13. Funktionelles schmerzhaftes Knacken beider Schultergelenke bei Schulterhochstand beidseits mit geringfügigem Supraspinatus-outlet-Impingement-Syndrom.
Dr.S. führte aus, bei der Klägerin fänden sich orthopädischerseits vor allem schmerzhafte Einschränkungen der unteren Extremitäten. In beiden Kniegelenken lägen Abnutzungserscheinungen fortgeschrittenen Ausmaßes vor, und zwar überwiegend rechts mit gleichzeitiger Instabilität beidseits. Hierdurch werde die Stabilität beider Kniegelenke deutlich beeinflußt; dies mache sich bei Arbeiten auf unebenem Terrain und insbesondere bei Startphasen nach längeren abgewinkelten Haltungen der Kniegelenke bemerkbar. Am rechten Kniegelenk bestehe annähernd eine Indikation für eine Prothesenimplantation. Desweiteren bestehe - vermutlich als Restsymptomatik eines Schädelhirntraumas - eine Fußheber- und Großzehenheber- sowie Zehenheberschwäche links mit Gangdyskoordination links bei zusätzlich deutlich geschädigtem rechten Vorfuß. Der rechte Fuß werde weniger belastet als der linke Fuß, was sich auch in der Fußsohlenbeschwielung darstelle. Es bestehe außerdem von seiten der oberen Extremitäten eine vermutlich zentral bedingte Dyskoordination der linken Hand mit deutlich reduzierter Einsatzfähigkeit nicht nur hinsichtlich des Fein- und Spitzgriffs, sondern auch der groben Kraft, so dass von einer verminderten Gebrauchsfähigkeit der linken Hand ausgegangen werden müsse. Wenn Dr.G. vom Fehlen umschriebener Paresen ausgehe und vom Fehlen von Atrophien, so müsse dem widersprochen werden. Es finde sich nämlich eine Fußheber- und eine Großzehenheber- sowie Zehenheberparese links, Kraftgrad III bis IV/V. Die Daumenmuskulatur sei links abgeflacht im Vergleich zu rechts, insofern liege auch eine Atrophie vor. Die grobe Kraft und die feineren Bewegungen seien nicht seitengleich regelrecht, sondern es bestünden deutliche Unterschiede hinsichtlich der linken und rechten Hand. Die linke Hand sei im Vergleich zur rechten Hand deutlich dyskoordinierter und schwächer, dies gebe auch Dr.G. zu, wenn er schreibe, dass eine Bradydysdiadochokinese bestehe. Die Klägerin könne nach ihrem festgestellten Gesundheitszustand täglich nur noch zwei Stunden bis unter halbschichtig arbeiten, wobei die Betonung auf zwei Stunden liege. Die Störungen der Klägerin seien eindeutig nachvollziehbar. Das Vorgutachten von Dr.H. habe nicht dramatisiert sondern entspreche den Tatsachen, wie die intensive Nachuntersuchung der Klägerin ergeben habe. Es liege ein polytopes und multiorganes Defektsyndrom vor, das mehr Liegephasen als Steh- und Gehphasen im Sinne der Belastungsphasen zuläßt. Dekompensationsmechanismen kämen sofort zum Tragen. Eine größere Belastbarkeit erscheine nicht zumutbar. Mit Sicherheit benötige die Klägerin unübliche zusätzliche Arbeitspausen von mehr als zweimal einer Viertelstunde täglich. Ein Anmarschweg zur Arbeitsstätte von 500 Metern viermal täglich könne auf keinen Fall mehr zurückgelegt werden. Der jetzt festzustellende Gesundheitszustand habe im großen und ganzen bereits im Mai 1995 bestanden. Die Tätigkeit, die zum damaligen Zeitpunkt durchgeführt worden sei, sei nur unter Aufbringung der maximalen körperlichen Kräfte und unter dem Risiko einer massiven körperlichen Verschlechterung verrichtet worden. Besserungsaussicht bestehe nicht.
Zu der vom sozialmedizinischen Dienst der Beklagten/Dr.L. unter dem 30.11.1999 vorgebrachten Kritik nahm Dr.S. am 22.12.1999 im einzelnen Stellung, wobei er auch auf die im vorliegenden Fall bestehende besondere Bedeutung des persönlichen Eindrucks von der Klägerin in der Untersuchungssituation hinwies; es bleibe eindeutig bei der Schlussfolgerung in seinem Gutachten.
Der sozialmedizinische Dienst der Beklagten/Dr.L. äußerte hierzu unter dem 12.01.2000, er sehe keine Veranlassung, von seiner bisherigen Auffassung abzuweichen.
Das SG verpflichtete hierauf die Beklagte mit Urteil vom 29.03.2000, der Klägerin ab 01.06.1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (ohne zeitliche Befristung) zu gewähren. Das Urteil wurde der Beklagten am 02.05.2000 zugestellt.
Am 29.05.2000 ging die Berufung der Beklagten beim Bayer. Landessozialgericht ein. Sie legte zwei Stellungnahmen von Dr.L. vor (vom 18.05.2000 und vom 31.07.2001), in denen inhaltlich auf die erste Äußerung vom 30.11.1999 Bezug genommen wurde. Das Erstgericht habe sich nicht mit den Argumenten der Beklagten auseinandergesetzt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Landshut vom 29.03.2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen und zur Ergänzung des Tatbestands wird im Übrigen auf den Inhalt der beigezogenen Akten (Rentenakten der Beklagten; Klageakten des SG Landshut) und der Akte des Bayer. Landessozialgerichts sowie auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Urteil des SG Landshut vom 29.03.2000 ist nicht zu beanstanden, da die Klägerin gegen die Beklagte ab 01.06.1995 unbefristeten Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat. Der Senat folgt diesbezüglich in vollem Umfang den Gründen des angefochtenen Urteils und sieht daher gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Ergänzend ist lediglich auszuführen:
Der Vorwurf der Beklagten, das Erstgericht habe sich nicht mit den Einwendungen Dr.L. gegen das Gutachten von Dr.S. auseinandergesetzt, geht fehl. Im Hinblick auf die erforderliche medizinische Sachkunde hat das SG in verfahrensrechtlich nicht zu beanstandender Weise von Dr.S. eine ergänzende Stellungnahme (vom 22.12.1999) eingeholt, in der sich dieser mit der von Dr.L. gesehenen Problematik eingehend und überzeugend auseinandergesetzt hat. Gegenüber dieser Stellungnahme Dr.S. hat Dr.L. in seinen weiteren Äußerungen (vom 12.01.2000, 18.05.2000 und 31.07.2001) keine Sachargumente mehr vorgetragen, die für das SG oder den Senat hätten Veranlassung bieten können, an der Richtigkeit des Gutachtens von Dr.S. zu zweifeln. Im vorliegenden Fall sollte auch nicht übersehen werden, dass die Klägerin von zwei medizinischen Sachverständigen auf orthopädischem Fachgebiet nach persönlicher Untersuchung für nur noch unter halbschichtig einsatzfähig beurteilt worden ist. Dies zeigt, dass offensichtlich die Beurteilung nach Aktenlage, worauf auch Dr.S. besonders hinweist, dem konkreten Fall nicht gerecht werden kann.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Landshut vom 29.03.2000 war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Login
NRW
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