L 9 EG 41/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
9
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 29 EG 157/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 9 EG 41/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 1. Oktober 2002 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten des zweiten Rechtszuges sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch der Klägerin auf Landeserziehungsgeld (LErzg) für den 16. mit 21. Lebensmonat (13.11.1990 mit 12.05.1991) ihrer Tochter E. streitig.

I.

Die am 1968 geborene Klägerin, eine verheiratete türkische Staatsangehörige, ist die Mutter des am 1989 in F. geborenen Kindes. Sie lebte seither mit diesem und ihrem Ehemann in einem gemeinsamen Haushalt, betreute und erzog E. und übte daneben keine Erwerbstätigkeit aus. Sie war bei der BKK München familienversichert. Unterlagen des Beklagten über den Bezug von BErzg für den 1. mit 15. Lebensmonat des Kindes liegen nicht mehr vor.

Der am 19.02.2002 gestellte Antrag auf Bewilligung von LErzg wurde durch Bescheid vom 04.06.2002 im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, aufgrund der Rechtsprechung des EuGH, Urteil vom 04.05.1999, C 262/96, könnten Ansprüche auf Leistungen für Zeiträume vor dem Erlass dieses Urteils nicht geltend gemacht werden. Der Leistungszeitraum für das am 1989 geborene Kind hätte spätestens am 12.05.1991 geendet, so dass LErzg nicht gewährt werden könne. Der hiergegen erhobene Rechtsbehelf, mit dem unter anderem geltend gemacht wurde, es sei nicht zulässig, gesetzlich zustehende Ansprüche erst ab 1999 zu gewähren, denn der Ausschluss türkischer Staatsangehöriger verstoße gegen das Diskriminierungsverbot des einschlägigen Assoziationsabkommens, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 05.07.2002).

II.

Das angerufene Sozialgericht (SG) München wies die Klage durch Gerichtsbescheid vom 01.10.2002 im Wesentlichen mit der Begründung ab, zwar könnten nach dem Urteil des EuGH vom 04.05.1999 neben Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates der Europäischen Union auch türkische Staatsangehörige LErzg erhalten, wenn sie in den persönlichen Anwendungsbereich des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates (ARB Nr. 3/80) vom 19.09.1980 fallen. Jedoch könne die Klägerin daraus keine Rechte herleiten. Denn der EuGH habe Ansprüche auf Leistungen für die Zeit nach dem Erlass seiner Entscheidung vom 04.05.1999 beschränkt und eine Ausnahme hierfür nur zugelassen, wenn vor diesem Zeitpunkt bereits eine Klage erhoben oder ein gleichwertiger Rechtsbehelf eingelegt worden sei. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor. Außerdem seien Anhaltspunkte dafür nicht ersichtlich, dass der Beklagte das Recht der Klägerin verhindert habe, einen Leistungsantrag zu stellen. Es sei auf den Zugang eines Antrags abzustellen, der nicht verhindert werden könne. Einer gesonderten Entscheidung über die Annahme des Antrags bedürfe es nicht. Darüber hinaus seien die Voraussetzungen einer falschen Beratung durch den Beklagten nicht gegeben.

III.

Mit der rechtzeitig zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegten Berufung wendet die Klägerin im Wesentlichen ein, die landesrechtliche Vorschrift des Art.1 Abs.1 Satz 1 Nr.5 des Bayer. Landeserziehungsgeldgesetzes (BayLErzGG) verstoße gegen das Diskriminierungsverbot des Art.3 des Beschlusses des Assoziationsrates Nr. 3/80, welches unmittelbar auf alle Geburten nach dem 01.07.1989 Anwendung finde. Ungeachtet dessen sei die Klägerin als türkische Antragstellerin durch falsche Informationen daran gehindert worden, einen Antrag zu stellen. Die Abgabe der ausgefüllten Anträge sei verweigert worden. Insoweit habe sie die Voraussetzungen des gerichtlichen Vorverfahrens sowie der Klageerhebung nicht erfüllen können. Es sei ihr also die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Beklagte verweist unter anderem darauf, dass der EuGH in seiner "S."-Entscheidung die Rückwirkung ausdrücklich auf hier nicht einschlägige Fallgestaltungen beschränkt habe. Außerdem liege ein ihm zurechenbares pflichtwidriges Verhalten nicht vor.

Der Senat hat neben der Erziehungsgeldakte des Beklagten die Streitakte des ersten Rechtszuges beigezogen. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter erklärt.

Die Klägerin stellt den Antrag, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 01.10. 2002 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 04.06.2002 in der Gestalt des Widerspruchs- bescheides vom 05.07.2002 zu verurteilen, ihr für die am 1989 geborene Tochter E. Landeserziehungsgeld zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 01.10.2002 zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Verfahrensakten beider Rechtszüge sowie die beigezogene Erzg-Akte Bezug genommen, insbesondere auf die Niederschrift der Senatssitzung vom 30.06. 2003. -

Entscheidungsgründe:

Die mangels Vorliegens einer Beschränkung gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) grundsätzlich statthafte, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte, und insgesamt zulässige Berufung der Klägerin, §§ 143 ff. SGG, erweist sich als in der Sache nicht begründet. Zu Recht hat das Erstgericht die zulässig erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage abgewiesen.

Der Senat entscheidet aufgrund der Einverständniserklärungen der Beteiligten durch den Berichterstatter als Einzelrichter, § 155 Abs.4 i.V.m. Abs.3 SGG.

Rechtsgrundlage für die Gewährung bayer. Landeserziehungsgeldes ist das Gesetz zur Gewährung eines LErzg und zur Ausführung des BErzGG (BayLErzGG) vom 12.06.1989 (GVBl.1989 S. 206). Anspruch auf LErzg hatte gemäß Art.1 Abs.1 BayLErzGG in der für Geburten vor dem 01.07.1993 geltenden Fassung (GVBl.1989 S. 206), wer seine Hauptwohnung oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit der Geburt des Kindes, mindestens jedoch 15 Monate in Bayern hatte (Nr. 1), mit einem nach dem 30.06.1989 geborenen Kind, für das ihm die Personensorge zustand, in einem Haushalt lebte (Nr. 2), dieses Kind selbst betreute und erzog (Nr. 3), keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübte (Nr. 4) und schließlich die deutsche Staatsangehörigkeit oder diejenige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union besaß (Nr. 5).

Nach Art.3 des Gesetzes wurde LErzg ab dem in § 4 Abs.1 BErzGG für das Ende des Bezuges von BErzg festgelegten Zeitpunkt bis zur Vollendung von weiteren sechs Lebensmonaten des Kindes gewährt (Abs.1). Vor dem Ende des sechsten Bezugsmonates endete der Anspruch mit dem Ablauf des Lebensmonats, in dem eine der Anspruchsvoraussetzungen entfallen war. Im Fall der Aufnahme einer vollen Erwerbstätigkeit endete der Anspruch mit dem Beginn der Erwerbstätigkeit (Abs.3). Nach Art.5 betrug das LErzg DM 500,00 monatlich. Bei einer Überschreitung der nach §§ 5, 6 BErzGG zu berechnenden Einkommensgrenzen wurde es auf den Betrag von fünf Sechstel des Betrages des maßgeblichen BErzg gekürzt (Abs.1 Satz 1, 2).

In der vorliegenden Streitsache erfüllte die Klägerin im Bewilligungszeitraum unstreitig die Anspruchsvoraussetzungen des Art.1 Abs.1 Satz 1 Nrn.1 mit 4 BayLErzGG, denn sie hatte nach Aktenlage ihren Wohnsitz seit 1988 in Bayern, lebte im Anspruchszeitraum mit ihrer am 1989 in F. geborenen Tochter E., für die ihr die Personensorge zustand, und mit ihrem Mann in einem Haushalt, betreute das Kind selbst und übte daneben keine Erwerbstätigkeit aus. Zur Überzeugung des Senats steht dem Anspruch auch die Nr. 5 der Vorschrift nicht entgegen. Zwar besaß die Klägerin im streitigen Zeitraum weder die deutsche Staatsangehörigkeit noch die eines Mitgliedstaates der EU. Insoweit sind jedoch aufgrund der vorliegenden türkischen Staatsangehörigkeit die Regeln über die seit 1963 bestehende Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei zu beachten, wie der Senat im Einzelnen in seiner Entscheidung vom 20.12.2000 (L 9 EG 7/00) dargelegt hat, vgl. auch BSG vom 29.01.2002, B 10 EG 2/01 R.

Damit hat die Klägerin zwar grundsätzlich unter denselben Voraussetzungen wie Deutsche oder EU-Staatsangehörige Anspruch auf LErzg. Jedoch kann sie sich auf die unmittelbare Wirkung des Art.3 Abs.1 des ARB Nr. 3/80 für den Anspruchszeitraum (13.11. 1990 mit 13.11.1991) nicht berufen, denn dieser liegt weit vor dem Stichtag des 04.05.1999.

Mit der vorgenannten Entscheidung hat der Senat die zum Kindergeld nach dem BKGG ergangenen "S."-Entscheidung des EuGH vom 04.05.1999, C-262/96 in SozR 3-6935 Allg. EWG-Abkommen Türkei, Nr.4, hinsichtlich des Bayer. LErzg umgesetzt. Der Gerichtshof hat in der o.a. Rechtssache zum ersten Mal mit "erga-omnes-Wirkung" (vgl. EuGH, Rechtssache 203/81, Sammlung 1982.3415) im Rahmen seiner Auslegungskompetenz für das Gemeinschaftsrecht gemäß Art.234 EGV den Art.3 Abs.1 des ARB Nr. 3/80 verbindlich ausgelegt, welcher inhaltlich der für die Gemeinschaft im Bereich der sozialen Sicherheit einschlägigen EWG-Verordnung Nr. 1408/71 entspricht. In Abweichung von seiner früheren Entscheidung hinsichtlich der Art.12 und 13 des ARB Nr. 3/80 (vgl. EuGH C-277/94 Sammlung 1996, I-4087 Taflan Met) hat der EuGH unter anderem festgestellt, dass das Diskriminierungsverbot des Art.3 Abs.1 im Geltungsbereich des ARB Nr. 3/80 einen eindeutigen und unbedingten Grundsatz aufstellt, der ausreichend bestimmt ist, so dass er von einem nationalen Gericht angewandt werden kann, und der daher geeignet ist, die Rechtsstellung des Einzelnen zu regeln.

Auslegungsurteile des EuGH gemäß Art.234 EGV haben zwar grundsätzlich rückwirkende Kraft, das heißt sie bestimmen den Inhalt des Gemeinschaftsrechtes mit Wirkung von dem Zeitpunkt an, zu dem letzteres in Kraft getreten ist, vgl. EuGH Rechtssachen 127 und 128/79, Sammlung 1980.1237/1260. Das kann im Einzelfall erhebliche Auswirkungen haben, wenn eine Gemeinschaftsregelung im Sinne des Art.234 EGV, zu der auch Abkommen mit Drittstaaten und Assoziationsratsbeschlüsse zählen (vgl. Borchardt in Maximilian Fuchs, Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 3. Auf- lage 2002, Baden-Baden, S.738 f), in einer von dem bisherigen Verständnis und der bisherigen Praxis abweichenden Weise ausgelegt wird und dadurch weitreichende Folgen entstehen. Insoweit hat der Gerichtshof bereits wiederholt - auch im Sozialrecht - in analoger Anwendung der für Nichtigkeitsangelegenheiten maßgebenden Regelung des Art.231 Abs.2 EGV im Hinblick auf die zeitliche Wirkung seiner Entscheidung eine Ausnahmeregelung getroffen, vgl. Rechtssache 43/75 Defrenne, Sammlung 1976.455, Rechtssache 33/84 Fragd, Sammlung 1985.1605, Rechtssache 24/86 Blaizot, Sammlung 1988.379, Rechtssache 41/84 Pinna, Sammlung 1986, 1/26, Rechtssache 262/88 Barber, Sammlung 1990 I-1889/ 1955).

Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung einer Vorabentscheidung kommt danach beim Vorliegen eines Vertrauenstatbestandes und der Gefahr unerwarteter und erheblicher finanzieller Auswirkungen in Betracht, sie kann allerdings nur angenommen werden, wenn sie in dem jeweiligen Urteil ausdrücklich angesprochen worden ist, vgl. Borchardt, a.a.O., S.755. Insoweit hat der EuGH in der o.a. "S."-Entscheidung vom 04.05.1999, welche einen Anspruch auf Kindergeld betrifft, ausgeführt, dass es zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit ausschließen, Rechtsverhältnisse, die vor dem Erlass des vorliegenden Urteils abschließend geregelt waren, in einer Situation wieder in Frage zu stellen, in der dies die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten rückwirkend erschüttern würde. Die unmittelbare Wirkung des Art.3 Abs.1 des Beschlusses Nr.3/80 kann damit nicht zur Begründung von Ansprüchen auf Leistungen für Zeiten vor dem Erlass dieses Urteils geltend gemacht werden, soweit die Betroffenen nicht vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder einen gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt haben.

Diese Voraussetzungen einer rückwirkenden Leistung erfüllt die Klägerin nicht. Denn sie hat vor dem 04.05.1999 weder einen Antrag auf LErzg gestellt noch einen Rechtsbehelf, insbesondere eine Klage, eingelegt. Der EuGH sieht den Anlass für die Beschränkung der Rückwirkung in dem der Gemeinschaftsrechtsordnung innewohnenden allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit.

Die analoge Anwendung der Vorschrift des § 231 Abs.2 EGV, welcher die Folgen regelt, die eintreten, wenn eine Norm für verfassungswidrig erklärt wird, entspricht den Grundsätzen der in § 79 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) niedergelegten Rechtsgedanken, vgl. BVerfGG 7.194 (195 ff.), 20.230 (235). Wie der Senat in seinem Urteil vom 24.07.2003, L 9 EG 16/03, im Einzelnen dargelegt hat, hat sich der Gesetzgeber darin in dem Konflikt zwischen zwei Elementen des Rechtsstaats- prinzips, nämlich der Einzelfallgerechtigkeit und dem Rechtsfrieden, wozu die Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen gehört, mit bestimmten Ausnahmen für den letzteren Grundsatz entschieden, vgl. BVerfG 7.194 (196). Akte der öffentlichen Gewalt, deren Rechtsgrundlage mit der Verfassung nicht vereinbar sind, bleiben danach prinzipiell unangetastet, wenn sie im Rechtsweg nicht mehr angefochten werden können. § 79 BVerfGG enthält dem BVerfG zufolge einen allgemeinen Rechtsgedanken, vgl. BVerfGE 37.217 (263); 97.35 (48). Dieser beruht letztlich auf der Einsicht, dass der Rechtsgemeinschaft nicht damit gedient ist, wenn deren Mittel und Kapazitäten von der Bearbeitung abgeschlossener oder nicht in Gang gesetzter Rechtsfälle aus der Vergangenheit mit der Folge beansprucht würden, dass hierdurch die Erfüllung gegenwärtiger und zukünftiger Aufgaben erheblich beeinträchtigt wäre, vgl. zum ange- messenen Verwaltungsaufwand BVerfGE 97.35 (48). Insoweit wird dem Bürger daher eine Anfechtungslast aufgebürdet. Wer eine Entscheidung akzeptiert, muss sich grundsätzlich auch bei späterer Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Rechtsgrund- lage hieran festhalten lassen, vgl. Bethge in Mainz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 79 Rdnr.2, 5, 9, Urteil des Senats vom 24.07.2003, a.a.O., S.9 f.

Ungeachtet der beim Kindergeld nach dem BKGG gegebenen länge- ren Anspruchsdauer sind die Grundsätze des "S."-Urteils auf das BErzg und LErzg anzuwenden, denn einerseits hat der EuGH das Erziehungsgeld einer Familienleistung nach der EWG-Verordnung 1408/71 gleichgestellt, vgl. Rechtssache C-245/94 und 312/94 Hoever und Zachow. Andererseits gelten die Darlegungen zur Rechtssicherheit im Rahmen des Art.231 Abs.2 EGV und des § 79 Abs.1 BVerfGG entsprechend. Der EuGH hat sich auf die im dortigen Verfahren angehörten Regierungen bezogen, welche "schwerwiegende finanzielle Konsequenzen" für die Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten befürchteten. Unter diesem Aspekt ist die Äußerung des Gerichtshofs auf Seite 52 der Entscheidung zu verstehen, auf der von einer Erschütterung der sozialen Sicherungssysteme die Rede ist. Schwerwiegende finanzielle Folgen träten im vorliegenden Fall ein, wenn die EuGH-Entscheidung unbegrenzt in die Vergangheit zurückwirken würde. Insbesondere ist nämlich einerseits die hohe Anzahl von Personen zu berücksichtigen, welche einen Anspruch auf LErzg geltend machen können, vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 24.07.2003, a.a.O., andererseits die Aufbringung erheblicher Haushaltsmittel durch die Steuerzahler des Freistaates Bayern. Ferner ist insoweit der nicht unerhebliche Verwaltungsaufwand zu nennen, den die Verwaltung zusätzlich neben den laufenden Aufgaben zu bewältigen hätte, und der dadurch noch wesentlich gesteigert würde, dass lange zurückliegende Sachverhalte auf- zuklären wären.

Anhaltspunkte für eine rückwirkende Anwendung des Gleichheitsgebots im Sinne des Art.3 Abs.1 des ARB Nr. 3/80 sind auch anderweitig nicht ersichtlich. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Bezug auf die zeitlichen Grenzen der EuGH- Entscheidung vom 04.05.1999 kommt nicht in Betracht. Bei der zeitlichen Beschränkung der Wirkungen des EuGH-Urteils liegt nämlich keine gesetzliche Frist im Sinne des § 27 SGB X vor, worunter nur Verfahrens- und materiellrechtliche Fristen zu verstehen sind, vgl. Krasney in Kasseler Kommentar, § 27 SGB X Rdnr.3.

Auch unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes von Treu und Glauben (unzulässige Rechtsausübung) ergibt sich insoweit nichts anderes. Vor der Klarstellung durch die EuGH-Entscheidung vom 04.05.1999 ist die Vereinbarkeit von Landesrecht (BayLErzGG) mit europäischem Assoziationsrecht durch die höchstrichterliche Rechtsprechung bestätigt worden, vgl. BSG vom 03.11.1993, SozR 3-6935 Allg. EWG-Abkommen Nr. 1, und Bundesverwaltungsgerichts-Urteil vom 18.12.1992 zu der gleichgelagerten Regelung für Baden-Württemberg in DVBl. 1993, S.787. Bekanntlich hat das Bundesverfassungsgericht noch am 28.03.1995 (Az.: 2 BvR 368/93) eine Verfassungsbeschwerde gegen letztgenannte Entscheidung nicht angenommen. Bei bestehenden Bedenken gegen diese höchstrichterliche Rechtsprechung wäre es der Klägerin zumutbar gewesen, vorsorglich LErzg zu beantragen und den Rechtsweg zu beschreiten.

Anhaltspunkte für eine nachweislich entgegen einem klar geäußerten Willen der Antragstellerin und unter Verstoß gegen Grundsätze des Verwaltungsverfahrensrechts vorliegende Nicht- annahme oder Nichtverbescheidung von Leistungsanträgen sind weder schlüssig vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Weiterhin lässt sich ein Leistungsanspruch aus dem von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entwickelten Rechtsinstitut des Herstellungsanspruchs nicht ableiten. Die dafür erforderliche Pflichtverletzung des Beklagten kann nämlich nicht in einer bloßen Beratung oder Auskunftserteilung entsprechend den Vorgaben eines formellen Gesetzes (BayLErzGG) und der höchst- richterlichen Rechtsprechung gesehen werden, selbst wenn letztere aus späterer Sicht unrichtig gewesen ist. Denn andernfalls würden die zeitlichen Begrenzungen unterlaufen, die der EuGH entsprechend Art.231 Abs.2 EGV für geboten erachtet hat, vgl. Urteil des Senats vom 24.07.2003, a.a.O., S.13. Insoweit kommt es auf die 4-Jahresgrenze im Sinne des § 44 Abs.4 SGB X nicht mehr an, die für den Herstellungsanspruch entsprechend gilt, vgl. BSG SozR 3-1300 § 44 Nr.25, S.60.

Dem Sachverhalt zufolge ist vor dem 19.02.2002 ein Antrag auf LErzG nicht gestellt worden, so dass auch die Voraussetzungen für einen Zugunstenbescheid im Sinne des § 44 SGB X nicht erfüllt sind.

Insgesamt hat der Beklagte daher zu Recht LErzg versagt.

Die Kostenfolge ergibt sich aus den Vorschriften der §§ 183, 193 SGG. Im Hinblick auf den Verfahrensausgang war der Beklagte, der für das Berufungsverfahren keine Veranlassung gegeben hat, nicht zur Erstattung der notwendigen Aufwendungen zu verpflichten, die der Klägerin im Berufungsverfahren zu ihrer Rechtsverfolgung entstanden sind.

Der Senat hat die Revision zugelassen, § 160 Abs.2 Nr.1 SGG. Die höchstrichterliche Klärung der maßgeblichen Rechtsfragen erscheint nämlich angesichts der Vielzahl der vor der bayerischen Sozialgerichtsbarkeit anhängigen gleichgelagerten Fälle zweckmäßig, vgl. BSGE 2.129 (132).
Rechtskraft
Aus
Saved