L 19 RJ 425/96

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 Ar 687/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 RJ 425/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14.08.1996 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der am 1949 geborene Kläger hat nach seinen Angaben den Beruf des Bürokaufmanns erlernt (Prüfung 1970) und war daran anschließend als kaufmännischer Lagerist bis 1979 beschäftigt. Danach hat er bis 1982 als Pförtner bzw Versand- und Lagerarbeiter gearbeitet. Von Juni 1984 bis Juni 1985 war er nach seinen Angaben Museumsaufseher, von Oktober 1990 bis Dezember 1990 Versandarbeiter. Zwischen diesen Beschäftigungen lagen immer wieder größere Unterbrechungen wegen Arbeitslosigkeit.

Den ersten Rentenantrag des Klägers vom 13.11.1991 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 04.02.1992 und Widerspruchsbescheid vom 12.11.1992 ab. Die daran anschließende Klage (Az: S 17 Ar 808/92 SG Nürnberg) hat der Kläger am 17.08.1993 zurückgenommen. Den zweiten Rentenantrag vom 31.01.1994 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24.03.1994 und Widerspruchsbescheid vom 31.08.1994 ebenfalls ab. Das Klageverfahren S 17 Ar 628/94 endete nach Begutachtung durch Dr.G. mit klageabweisendem Urteil vom 14.02.1995. Seinen dritten (und jetzt streitbefangenen) Rentenantrag stellte der Kläger am 27.04.1995. Die Beklagte ließ ihn durch den Internisten Dr.M. untersuchen, der in seinem Gutachten vom 23.06.1995 folgende Diagnosen stellte: Asthma bronchiale, Lungenblähung, toxisch-nutritiver Leberzellschaden, Gallensteinleiden, gutartiger retrobulbärer Tumor rechts, kompensierter Bluthochdruck, Wirbelsäulensyndrom bei Fehlhaltung und degenerativen Veränderungen, Struma nodosa ohne Funktionsstörung. Der Kläger könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin vollschichtig tätig sein, wobei die Arbeiten möglichst im Wechselrhythmus, ohne Nacht-und Wechselschicht, ohne besonderen Zeitdruck sowie ohne Einwirkung von Bronchialreizstoffen stattfinden sollten. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 05.07.1995 ab. Der dagegen gerichtete Widerspruch blieb erfolglos; die Beklagte erteilte den Widerspruchsbescheid vom 23.10.1995.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 02.11.1995 Klage beim SG Nürnberg erhoben und die Meinung vertreten, er sei nicht mehr in der Lage, irgendeiner Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das SG hat Befundberichte über den Kläger von dem Allgemeinarzt Dr.W. , dem Kardiologen Dr.S. , dem Augenarzt Dr.E. und dem Internisten Dr.S. beigezogen. Auf Veranlassung des Gerichts hat der Internist Dr.R. das Gutachten vom 03.07.1996 nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstattet. Er hat darin ausgeführt, der Kläger könne unter Berücksichtigung aller Gesundheitsstörungen zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes leichte Tätigkeiten im Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen sowie in geschlossenen, normal temperierten Räumen noch vollschichtig verrichten. Vermieden werden sollten Tätigkeiten mit besonderer nervlicher oder zeitlicher Belastung, wie Akkord- oder Fließbandarbeit oder unter Gefährdung durch Nässe, Kälte, Zugluft, Staub und Bronchialreizstoffe. Von seiten der Atmungsorgane und des Kreislaufsystems sei das Leistungsvermögen des Klägers zwar beeinträchtigt, was aber nur bedeute, dass schwere und mittelschwere Arbeiten nicht verrichtet werden könnten. Mit Urteil vom 14.08.1996 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat in Übereinstimmung mit der Beurteilung Dr.R. noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen des Klägers für leichte Arbeiten angenommen. Der Anregung des Klägers, eine nervenfachärztliche Begutachtung durchführen zu lassen, ist das SG nicht gefolgt. Dr.R. habe bei der Untersuchung lediglich eine psycho-vegetative Labilität festgestellt, eine echte depressive Verstimmung aber verneint, zumal der Kläger nicht in nervenärztlicher Behandlung stehe. Der Kläger genieße keinen Berufsschutz als Facharbeiter und sei in voller Breite auf das gesamte Tätigkeitsfeld des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 09.09.1996 beim SG Nürnberg eingelegte Berufung des Klägers. Er verlangt weiterhin die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Jede Arbeit nehme ihn so mit, dass er sich nach jeder Stunde für 15 Minuten hinlegen müsse; nach der Rechtsprechung der Sozialgerichte sei er deshalb erwerbsunfähig. Der Senat hat Befundberichte des Augenarztes Dr.E. , des Internisten Dr.S. , des Allgemeinarztes Dr.W. und mehrere Behandlungsberichte des Krankenhauses M. in N. eingeholt. Bei den außerdem angegebenen Ärzten Dr.L. und Dr.P. war der Kläger als Patient nicht bekannt. Der Senat hat den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.Dr.N. , Ltd. Arzt der Klinik für Psychiatrie am Klinikum N. , zum ärztlichen Sachverständigen ernannt. Dieser hat im Gutachten vom 25.05.1998 nach mehrmaliger ambulanter Untersuchung des Klägers folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: Einschränkung der Augenbeweglichkeit, vor allem auf dem rechten Auge; neurasthenische, selbstunsichere Persönlichkeit; Neigung zu Rückenschmerzen. Der Kläger sei durchaus noch in der Lage, regelmäßig einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Hinsichtlich der körperlichen Beanspruchung seien leichte Männerarbeiten in Vollschicht zumutbar. Dabei sollten extreme physikalische Reize (Kälte, Nässe, Zugluft, Hitze, Lärm, chemische Einwirkungen) vermieden werden. Er könne im Sitzen, Stehen und Gehen arbeiten; eine Schonhaltung sei nicht zwingend geboten. Wegen der seelischen Störung sollten Arbeiten am Fließband oder an laufenden Maschinen sowie in Wechsel- oder Nachtschicht unterbleiben. Es dürften schließlich keine besonderen Anforderungen an das Sehvermögen oder an die Augenbeweglichkeit gestellt werden. Die formal-logische und sprachgebundene Auffassungsgabe und Artikulationsfähigkeit sowie die Fähigkeit, sich auf neue Tätigkeiten und Arbeitsmilieus umzustellen, sei gering. Zumutbar seien unter diesen Aspekten einfache Pförtnertätigkeiten ohne höhere Verantwortung oder einfache Bürohilfs- oder Archivarbeiten, Lager- oder Botentätigkeiten. Bezüglich der Arbeitspausen seien keine Besonderheiten zu beachten. Die Wegefähigkeit des Klägers sei nicht wesentlich eingeschränkt. Bei seiner Leistungsbeurteilung hat der Sachverständige auch das psychologische Zusatzgutachten des Dr.G. vom 19.01.1998 berücksichtigt. Anschließend hat der Senat einen ergänzenden Befundbericht des Hausarztes Dr.W. vom 09.11.1998 und weitere Behandlungsberichte des Krankenhauses M. vom 19.11.1998 und vom 22.12.1998 beigezogen. Vom Kläger selbst wurden ein Attest des Internisten Dr.G. vom 27.08.1999 und ein Bericht des Krankenhauses S. über seine ambulante Vorstellung am 17.08.1999 (Fistelrezidiv) vorgelegt. Ein weiteres Gutachten (vom 08.11.2000) hat im Auftrag des Senats der Internist und Arbeitsmedizinier Dr.K. erstattet. Er hat den Kläger - auf der Grundlage der im Einzelnen beschriebenen Gesundheitsstörungen - für fähig erachtet, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ganztags, mittelschwere Arbeiten bis zu vier Stnden täglich zu verrichten. Tätigkeiten, die mit häufigem Bücken verbunden oder unter atemwegsreizenden Bedingungen zu erbringen sind, sollten nicht abverlangt werden; weitere Einsatzbeschränkungen seien aus arbeitsmedizinischer Sicht nicht erforderlich. Die seit Rentenantragstellung hinzugekommenen Leiden (Reizdarm, Analfisteln, Pilonidalcyste, Polyposis der Nase) seien sozialmedizinisch ohne Auswirkungen. Seit der Begutachtung vom 23.06.1995 (Dr.M.) habe sich der Gesundheitszustand des Klägers und damit sein Leistungsvermögen im Erwerbsleben nicht relevant verschlechtert.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des SG Nürnberg vom 14.08.1996 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 05.07.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.10.1995 zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 01.05.1995 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten und die Prozessakten des SG Nürnberg sowie die Schwerbehinderten-Akte des Versorgungsamtes Nürnberg (GdB = 50) und die Leistungsakte des Arbeitsamtes Nürnberg vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und auch im Übrigen zulässig. In der Sache erweist sich das Rechtsmittel jedoch als unbegründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Kläger weder berufsunfähig im Sinne des § 43 Abs 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) noch erwerbsunfähig nach § 44 Abs 2 SGB VI ist. Die vom SG getroffene Feststellung, dass der Kläger leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung gewisser qualitativer Einschränkungen noch ganztags und regelmäßig verrichten kann, ist durch das Ergebnis der Beweisaufnahme im Berufungsverfahren in vollem Umfange bestätigt worden. Aus dem psychologischen Gutachten des Dr.G. vom 19.01.1998 in Verbindung mit dem nervenärztlichen Hauptgutachten des Dr.Dr.N. vom 25.05.1998 und aus dem Gutachten des Arbeitsmediziners Dr.K. vom 08.11.2000 ergibt sich auch zur Überzeugung des Senats, dass der Kläger durch gesundheitliche Gründe nicht gehindert ist, eine von körperlich leichteren Arbeiten charakterisierte Berufstätigkeit noch über die betriebsübliche Arbeitszeit von täglich acht Stunden zu verrichten. Zwar leidet der Kläger an einer neurasthenen selbstunsicheren Persönlichkeit und einer Schielstellung mit Hervortreten des rechten Auges ohne wesentliche Visusminderung; ferner besteht bei ihm eine Neigung zu Schmerzzuständen im Bereich des Achsenorgans ohne radikuläre Ausfälle. Es fanden sich aber keine Hinweise auf das Vorliegen einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, einer Affektpsychose oder auf ein hirnorganisches Syndrom. Im Rahmen der Diskussion der psychopathologischen Befunde hat Dr.N. seine eigenen Vorbehalte artikuliert, die Störung in der Persönlichkeitsentwicklung des Klägers als "Diagnose" zu formulieren, von der tatsächlich leistungsmindernde Einflüsse ausgehen. Dies sei bei Persönlichkeitsstörungen eigentlich nur der Fall, wenn sie von vorne- herein schwer ausgeprägt sind oder wenn sich durch altersbedingte Veränderungen primär angelegte Persönlichkeitszüge in einer Weise verstärken, dass sie hohes Leiden verursachen bzw hohe Schwierigkeiten bei der sozialen Anpassung erzeugen (wie zB anankastische Entwicklungen bei primär zwanghaften Persönlichkeiten oder schwere Störungen der Impulskontrolle bei dissozialen Patienten). Von all dem kann nach den Ausführungen Dr.N. beim Kläger nicht die Rede sein, weshalb die Diagnose "einer selbstunsicheren abhängigen Persönlichkeit mit Neigung zu neurasthener Beschwerdebildung" nicht mit dem Vorliegen eines leistungsmindernden Leidens verwechselt werden dürfe, auch wenn die leistungsschwachen Züge des Klägers seine Wiedereingliederung in das Arbeitsleben und die Erfolgsaussichten eventueller Reha-Bemühungen zweifelhaft erscheinen ließen. Gleichwohl attestiert Dr.N. dem Kläger ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte Männerarbeiten mit der auch subjektiv gegebenen (dh nicht durch eine krankhafte Störung des Arbeitswillens beeinträchtigten) Möglichkeit, regelmäßig einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Hierbei sind gewisse qualitative Einschränkungen zu machen, die dem Kläger aber keinesfalls den Zugang zum Arbeitsmarkt verwehren. So sollte er in der konkreten Arbeitsumgebung extreme physikalische Reize ebenso vermeiden können wie Arbeiten am Fließband, an laufenden Maschinen und in Wechsel- oder Nachtschicht. Längerdauerndes Hocken, Knien, Bücken und Arbeiten über Kopf sollten ihm wegen der degenerativen Wirbelsäulenerkrankung nicht abverlangt werden; eine Schonhaltung ist jedoch nicht zwingend geboten. Wegen der seelischen Störung können keine erhöhten Anforderungen an Reaktionsvermögen, Hörfähigkeit, Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer gestellt werden. Der Kläger ist jedoch in der Lage, leichte Tätigkeiten unter Anleitung zu leisten. Dies gilt insbesondere für einfache körperliche Tätigkeiten wie Bürohilfs- oder Botentätigkeiten, Lager- oder Archivarbeiten. Dabei sind betriebsübliche Pausen ausreichend. Nach der Einschätzung des nervenärztlichen Sachverständigen ist der Kläger auch in der Lage, mit den verfügbaren Mitteln seines Willens seine seelischen Hemmungen, die aus der asthenischen Persönlichkeitsentwicklung resultieren, zu überwinden. Sonach verfügt der Kläger auch zur Überzeugung des Senats über das von Dr.N. eingehend beschriebene Leistungsvermögen. Die Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen, auf dessen Fachgebiet eindeutig der Schwerpunkt der das Einsatzvermögen des Klägers bestimmenden Leistungsfaktoren liegt, sind in sich schlüssig und in der Begründung überzeugend. Aus arbeitsmedizinischer Sicht hat Dr.K. keine weitergehenden Leistungseinschränkungen feststellen können.

Nach seinem Berufsweg ist der Kläger sozial zumutbar in voller Breite auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verweisbar. Er hat zwar nach seinen Angaben den Beruf eines Bürokaufmanns erlernt, hat sich aber frühzeitig von diesem Beruf gelöst, ohne dass dafür gesundheitlich bedingte Gründe maßgeblich oder ersichtlich gewesen wären. Die an zustandsangemessenen Arbeitsplätzen zu Gunsten des Klägers zu beachtenden qualitativen Einsatzbeschränkungen bedeuten keine Summierung ungewöhnlicher Arbeitsplatzbedingungen oder eine schwere spezifische Behinderung nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, die dem Kläger den Zugang zum Arbeitsmarkt in ungewöhnlicher Weise erschweren könnten. Sofern extreme Arbeitsanforderungen (zB physikalische Umgebungseinflüsse, hohes Konzentrationsvermögen oder überdurchschnittliche Gedächtnisleistungen) verlangt bzw ausgeschlossen werden sollen, betreffen diese definitionsgemäß bei weitem nicht die Mehrzahl der betriebsüblichen Arbeiten. Hinsichtlich der Einschränkungen von Seiten des Bewegungsapparats sollen nur längerdauernde Zwangshaltungen vermieden werden. Bei weiterhin bestehendem vollschichtigen Leistungsvermögen ist der Kläger weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig. Seine Berufung gegen das Urteil des SG Nürnberg war deshalb zurückzuweisen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten, § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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