L 19 RJ 517/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 RJ 237/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 RJ 517/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.07.1999 abgeändert und in Ziffer I. wie folgt neu gefasst: Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin auf der Grundlage eines am 07.01.1998 eingetretenen Leistungsfalles ab 01.08.1998 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bis 31.03.2000 zu gewähren.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zur Hälfte zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die am 1950 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie war nach ihren Angaben von 1969 bis 1994 (mit Unterbrechungen) zunächst als Prüferin in der industriellen Fertigung bei der Fa. A. und zuletzt als (angelernte) Näherin und Schneiderin versicherungspflichtig beschäftigt. Seit Juli 1994 besteht Arbeitsunfähigkeit bzw Arbeitslosigkeit. Im Oktober 1994 wurde die Klägerin erstmals wegen eines Bandscheibenvorfalls operativ versorgt; danach erfolgten noch mehrere operative Eingriffe.

Auf den Rentenantrag vom 08.01.1996 erteilte die Beklagte zunächst den Ablehnungsbescheid vom 01.02.1996, bewilligte der Klägerin aber im Laufe des Vorverfahrens mit Bescheid vom 18.02.1997 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) für die Zeit vom 27.03.1996 bis 31.03.1997 (Leistungsfall: 11.07.1994).

Am 10.03.1997 beantragte die Klägerin die Weitergewährung der Rente über den 31.03.1997 hinaus. Die Beklagte ließ sie durch den Chirurgen Dr.v.G. untersuchen und lehnte die Weitergewährung mit Bescheid vom 26.05.1997 ab, weil bei der Klägerin über März 1997 hinaus weder EU noch Berufsunfähigkeit (BU) vorliege. Dagegen legte die Klägerin unter Vorlage von Berichten des Krankenhauses Nordstadt in Hannover und der Klinik für Neurochirurgie an der Universität Regensburg Widerspruch ein. Der Chirurg Dr.P. vom Ärztlichen Dienst der Beklagten stellte in seinem Gutachten vom 26.01.1998 folgende Diagnosen: Schmerzsymptomatik und Funktionseinschränkung der Halswirbelsäule nach ventraler Diskektomie C5/6 (im Oktober 1994) und Respondylodese im September 1996, Schmerzsymptomatik und Funktionseinschränkung der Lendenwirbelsäule nach Operation eines Bandscheibenvorfalls L4/5 im November 1995. Zusammenfassend gelangte Dr.P. zu dem Ergebnis, dass der Klägerin leichte Arbeiten in Vollschicht, kurzfristig auch mittelschwere Arbeiten zumutbar seien. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 23.02.1998 zurück. Leichte Tätigkeiten im Wechselrhythmus könne die Klägerin wieder vollschichtig verrichten. Sie habe bis dahin keinen Fachberuf ausgeübt, weshalb es unerheblich sei, ob sie ihre letzte Beschäftigung als Näherin bzw Büglerin wieder aufnehmen könne.

Dagegen hat die Klägerin am 16.03.1998 Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Ihre wesentlichen orthopädischen Beschwerden einschließlich der Schmerzsymptomatik hätten sich weiter verschlechtert. Das SG hat Befundberichte über die Klägerin eingeholt von der Nervenärztin Dr.L. , dem Chirurgen Dr.K. , dem Allgemeinarzt Dr.L. , dem Allgemeinarzt S. , dem Arzt für Anästhesiologie Dr.S. , dem Orthopäden Dr.U. , der Neurologin Dr.B. sowie von der Orthopädischen Klinik Rummelsberg über einen stationären Aufenthalt vom 20.07. bis 13.08.1998. Auf Veranlassung des Gerichts hat der Orthopäde Dr.R. nach ambulanter Untersuchung der Klägerin das Gutachten vom 23.12.1998 erstattet (mit ergänzender Stellungnahme vom 18.06.1999). Ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten erstattete der Nervenarzt Dr.B. unter dem 22.02.1999; er diagnostizierte eine somatoforme Schmerzstörung (Postnucleotomie-Syndrom) mit Neigung zu depressiven Verstimmungszuständen sowie ein HWS- und LWS-Wurzelreiz-Syndrom bei Zustand nach Bandscheibenoperation und Restspondylodese im Bereich der Wirbelkörper C5/6. Von orthopädischer Seite wurde festgestellt, dass sich der Befund an der HWS (im Vergleich zu den Vorgutachten) deutlich verschlechtert und der Befund an der LWS gebessert habe. Neu hinzugetreten sei eine Coxarthrose der Hüftgelenke. Selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes könne die Klägerin seit 01.04.1997 nur noch in zeitlich eingeschränktem Umfang (halb- bis untervollschichtig) verrichten. Mit Urteil vom 29.07.1999 hat das SG die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 26.05.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.02.1998 verurteilt, der Klägerin über den 31.03.1997 hinaus bis längstens 31.03.2000 Rente wegen EU nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Nach der überzeugenden Leistungsbeurteilung Dr.R. könne die Klägerin schon allein aus orthopädischer Sicht keine Ganztagstätigkeit mehr ausüben. Wegen des zeitlich eingeschränkten Leistungsvermögens stehe ihr aber in Anwendung des § 102 SGB VI eine Zeitrente zu.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 14.10.1999 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung der Beklagten. Vom 24.01. bis 24.02.2000 unterzog sich die Klägerin einem Heilverfahren in der Klinik Herzoghöhe in Bayreuth. Die Entlassung erfolgte aus neurologischer Sicht als nur noch unterhalbschichtig einsetzbar für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Die Beklagte bot hierauf vergleichsweise an, ab 25.02.2000 Rente wegen EU und für die Zeit vom 01.02. bis 24.02.2000 Übergangsgeld zu zahlen (unter Berufung auf Stellungnahmen ihres Prüfarztes Dr.P. vom 01.10.1999 und vom 17.04.2000). Die Klägerin hat dieses Angebot abgelehnt. Zur Begründung legte sie Berichte des Chirurgen Dr.M. vom 30.06.1999 und 03.01.2000 vor (Diagnose: Schwere therapieresistente Lumbalgie und Ischialgie, Postdiskektomiesyndrom, Instabilität und beginnendes Drehwirbelgleiten L4/L5; Stabilisierungsoperation am 25.11.1999). Die Beklagte nahm hierauf nach erneuter Überprüfung bei der Klägerin ein Leistungsvermögen von unterhalbschichtig ab 30.06.1999 an (Untersuchung bei Dr.M.) und erweiterte ihr Vergleichsangebot dahin, dass ab 25.02.2000 Rente wegen EU (wie bisher) und vom 01.07.1999 bis 24.02.2000 Übergangsgeld gezahlt werde. Auch dieses Angebot hat die Klägerin nicht angenommen, sondern weiterhin die Ansicht vertreten, bei ihr liege über den Monat März 1997 hinaus durchgehend EU vor.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.07.1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakte des Sozialgerichts Nürnberg vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 SGG) und auch im Übrigen zulässig.

Das Rechtsmittel der Beklagten erweist sich zum Teil als begründet. Die Klägerin war zwar nicht über den Monat März 1997 hinaus erwerbsunfähig im Sinne des § 44 Abs 2 SGB VI (in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung); sie ist aber im Januar 1998 erneut erwerbsunfähig geworden. Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Rentengewährung gem § 44 Abs 1 SGB VI sind nach den aktenkundigen Feststellungen der Beklagten auch zu diesem Zeitpunkt erfüllt. Die Klägerin ist nach Ablauf der Zeitrente im März 1997 durch den Chirurgen Dr.von G. am 05.05.1997 untersucht und begutachtet worden. Er hat im Wesentlichen eine Schmerzsymptomatik des rechten Armes bei Fehlhaltung und eingeschränkter Beweglichkeit der Halswirbelsäule sowie eine Neigung zu Lumbo- ischialgien bei Zustand nach Bandscheibenoperation L 4/5 im November 1995 (mit computertomografisch nachgewiesener rechtsseitiger Narbenbildung, jedoch ohne Rezidivprolaps) beschrieben. Die Klägerin befand sich in einem guten altersentsprechenden Allgemeinzustand; bei den Alltagsbewegungen waren keine wesentlichen Bewegungseinschränkungen feststellbar. Der Gutachter hat die Klägerin danach für fähig erachtet, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes in Vollschicht zu verrichten. Für mittelschwere und schwere Tätigkeiten sei sie allerdings nicht mehr geeignet; auch sollten generell häufiges Bücken, Arbeiten über Kopf- und Schulterhöhe sowie sonstige Zwangshaltungen der Wirbelsäule vermieden werden. Im Gesamtbefinden der Klägerin war nach der zweiten Bandscheibenoperation (im November 1995) eine Besserung zu verzeichnen, wenn auch mit Restbeschwerden vornehmlich im rechten Arm. Bei einer ambulanten Vorstellung der Klägerin im Krankenhaus Nordstadt in Hannover am 06.06.1997 ergab sich kein akuter Handlungsbedarf für invasive Maßnahmen, es wurde vielmehr die Fortsetzung der konservativen Therapie (mit Krankengymnastik, Fangopackungen und Massagen) empfohlen. Zwar befand sich die Klägerin wegen ihrer Schmerzsymptomatik auch in den Monaten April bis Dezember 1997 bei dem Allgemeinarzt Dr.L. in Behandlung, wie aus dessen Befundbericht vom 12.07.1998 hervorgeht. Während ihres stationären Aufenthalts im Klinikum der Universität Regensburg vom 10.11. bis 13.11.1997 fand sich bei der klinischen Untersuchung jedoch kein neurologisches Defizit; der Befund einer lumbalen Myelografie war insgesamt unauffällig, weshalb auch von hier aus weiterhin konservative Therapie mit Krankengymnastik, Fangopackungen und Bewegungsbädern empfohlen wurde. Eine deutliche Zunahme der Schmerzsymptomatik (mit der Notwendigkeit des Beginns einer intensiven schmerztherapeutischen Behandlung) ist bei der Klägerin nach Aktenlage im ersten Quartal des Jahres 1998 eingetreten. Der Chirurg Dr.K. hat in seinem Bericht vom 09.07.1998 mitgeteilt, dass die Klägerin seit 04.12.1997 bei ihm ambulant behandelt wurde (mit weiteren Behandlungsterminen im Dezember 1997). Wegen der chronischen Schmerzzustände hat er die Klägerin nach dem 07.01.1998 an den Anästhesisten Dr.S. zur Einleitung einer Schmerztherapie überwiesen. Dr.S. hat in seinem Bericht vom 27.07.1998 Behandlungszeiten ab dem ersten Quartal 1998 mitgeteilt und einen chronifizierten, nicht radikulären Rückenschmerz im LWS-Bereich beschrieben. Der Versuch, die Klägerin rein medikamentös unter krankengymnastischer Unterstützung schmerztherapeutisch einzustellen, hat nach deren subjektiven Empfinden aber nur zu einer unzureichenden Symptomverbesserung geführt. Insgesamt wurde von Dr.S. festgehalten, dass es bis Juli 1998 zu keinen Veränderungen der Symptomatik (im Sinne einer Besserung) gekommen war. Von Beginn des Jahres 1998 an und in der Folgezeit ist damit durch zahlreiche ärztliche Unterlagen bei der Klägerin eine erhebliche Schmerzsymptomatik dokumentiert. Der Orthopäde Dr.U. hat am 10.08.1998 über den Behandlungszeitraum von März bis Juni 1998 berichtet; eine Besserung der Beschwerden im Bereich der HWS und LWS bei Zustand nach mehrfachen Bandscheiben-Operationen sei nicht erzielt worden. Bei der Nervenärztin Dr.B. war die Klägerin im April und Mai 1998 zur ambulanten Behandlung, ohne dass in diesem Zeitraum eine Besserung der chronischen Lumboischialgien erreicht werden konnte (Bericht vom 19.08.1998). Vom 20.07. bis 13.08.1998 befand sich die Klägerin zur stationären neurologischen Behandlung im Krankenhaus Rummelsberg. Dort wurde ein Postnukleotomie-Syndrom (chronisches Schmerzsyndrom) mit depressiver Verstimmung diagnostiziert. Weder die medikamentöse noch die physikalische Schmerzbehandlung hat nach dem Bericht vom 19.08.1998 zu einer deutlichen Beschwerdebesserung geführt. Auch der Orthopäde Dr.R. hat im Gutachten vom 23.12.1998 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 19.08.1999 gegenüber den massiven Einwendungen des Ärztlichen Dienstes der Beklagten mit insoweit nachvollziehbaren Erwägungen darauf hingewiesen, dass die Klägerin trotz der seit Beginn des Jahres 1998 intensivierten Schmerzbehandlung für berufliche Tätigkeiten zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes kein vollschichtiges Leistungsvermögen mehr erreichen konnte. Zur Überzeugung des Senats ist der gesamten Krankengeschichte und den zahlreich vorhandenen medizinischen Unterlagen und Berichten zu entnehmen, dass die Klägerin zwar nach Ablauf der Zeitrente im März 1997 noch über ein Leistungsvermögen verfügte, das ausreichte, leichte Frauenarbeiten (unter Beachtung der von Dr.von G. beschriebenen qualitativen Einsatzbeschränkungen) ganztägig zu verrichten. Dieses Leistungsvermögen ist aber Anfang des Jahres 1998 wieder in den Bereich "halb- bis untervollschichtig" abgesunken. Der Senat nimmt als Zeitpunkt der entsprechenden Befund- bzw Symptomverschlechterung den 07.01.1998 an (Beginn der Behandlung bei dem Anästhesisten Dr.S ... Bei untervollschichtigem Leistungsvermögen steht der Klägerin, die keinen leistungsgerechten Teilzeitarbeitsplatz inne hatte, nach der Rechtsprechung des BSG Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu, die gemäß § 102 Abs 2 Nr 2 SGB VI lediglich auf Zeit zu gewähren ist. Das Urteil des SG musste deshalb auf die Berufung der Beklagten dahin abgeändert werden, dass der Rentenbeginn auf Grund des (nach Wegfall der ersten Zeitrente) am 07.01.1998 erneut eingetretenen Leistungsfalles mit dem 01.08.1998 festzustellen war. Bezüglich des Wegfalls der (weiteren) Zeitrente zum 31.03.2000 muss es bei der vom SG getroffenen Entscheidung verbleiben, da die Klägerin keine Anschlussberufung eingelegt hat. Da die Berufung der Beklagten nur zum Teil erfolgreich war, hat sie der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zur Hälfte zu erstatten. Gründe für die Zulassung der Revision gem § 160 Abs 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved