L 20 RJ 630/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 11 RJ 912/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 RJ 630/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 RJ 61/02 B
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 10.11.1999 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Berücksichtigung einer Anrechnungszeit vom 01.09.1959 bis 30.06.1973 bei der Rente des Klägers.

Der am 1941 geborene Kläger hat den Beruf des Stahlformenbauers erlernt. Er begann am 01.08.1955 eine Schlosserlehre bei der Firma K. in F. und wechselte anschließend am 09.04.1956 zur Firma F ... Noch vor Abschluss seiner Ausbildung wurde er vom 16.07.1958 bis 11.09.1958 wegen einer akuten schizophrenen Psychose im Nervenkrankenhaus Bayreuth (NKH) stationär behandelt. Dort befand er sich auch zu weiteren Aufenthalten vom 15.09.1958 bis 18.12.1958, vom 27.02.1959 bis 28.04.1959 und durchgehend vom 22.05.1959 bis 12.01.1975. Von 1959 bis 1967 war er dabei auf einer geschlossenen Langzeitstation untergebracht. Im Jahre 1972 legte er die Gesellenprüfung ab, wobei ihm die vor seiner Einweisung in das NKH zurückgelegte Ausbildungszeit angerechnet wurde, so dass er nur eine berufspraktische und berufstheoretische Prüfung ablegen musste. Ab Februar 1973 arbeitete der Kläger im Rahmen einer außerhalb der Anstalt verlaufenden Arbeitstherapie in einem Industriebetrieb. Ab Juli 1973 wurden für ihn wieder Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung entrichtet. Im Januar 1975 wurde er aus der Nervenklinik entlassen. Er nahm eine abhängige Beschäftigung auf, die er bis Ende Juni 1996 durchführte und dann wegen einer erneut auftretenden schizophrenen Erkrankung aufgeben musste. Vom 05.07. bis 10.09.1996 war er erneut stationär im NKH.

Seit 01.12.1996 bezieht er Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf unbestimmte Zeit, die mit Bescheid vom 04.06.1997 festgestellt wurde. Der Versicherungsverlauf weist eine Lücke vom 01.09.1959 bis 30.06.1973 auf.

Im Rahmen eines im Jahre 1980 eingeleiteten Kontenklärungsverfahren (Fragebogen vom 20.06.1980) zog die Beklagte Arztbriefe des NKH bei und holte eine Stellungnahme ihres ärztlichen Dienstes zu der Frage ein, ob in der Zeit von 1959 bis 1973 Arbeitsunfähigkeit iS der damaligen Vorschriften (§ 1259 RVO) vorgelegen habe. Diese Frage beantwortete der Prüfarzt Dr.W. in seiner Stellungnahme vom 18.09.1980 mit "ja". Die Beklagte speicherte daraufhin in einer internen Verfügung die Zeit vom 09.03.1959 bis 30.06.1973 als Krankheitszeit. Ein Versicherungsverlauf wurde, soweit ersichtlich, nicht an den Versicherten bekannt gegeben. Aufgrund einer internen Überprüfungsanfrage vom 08.10.1980 kam die Beklagte zu dem Ergebnis, dass die Anrechnung der vorgenannten Zeit als Ausfallzeit nicht möglich sei, da während der langjährigen Unterbringung im NKH Berufs- und Erwerbsunfähigkeit vorgelegen habe. Dieses Ergebnis teilte die Beklagte dem Versicherten mit Bescheid vom 29.10.1980 mit. Dagegen wandte sich der Kläger mit einem Schreiben vom 07.01.1981 und machte geltend, dass er 16 Jahre lang unschuldig Tag für Tag schikaniert worden sei, ohne dafür irgendeinen Schadensersatz erhalten zu haben; er verstehe allerdings, dass er keine Leistungen beanspruchen könne, für die er nicht bezahlt habe. Er sei aber während der gesamten Dauer des Aufenthalts in der Nervenklinik voll erwerbsfähig gewesen und habe ja auch von 1969 an voll gearbeitet in den Werkstätten. Mit Formblattschreiben vom 27.10.1989 bat der Kläger erneut um Kontenklärung und beanstandete den Versicherungsverlauf, insbesondere hinsichtlich der Zeit der Unterbringung im NKH. Mit Bescheid vom 06.11.1989 versagte die Beklagte erneut die Anerkennung der Zeit vom 01.09.1959 bis 30.06.1972 (gemeint wohl: 30.06.1973) als Ausfallzeit. Gegen diesen Bescheid hat der Versicherte Rechtsmittel nicht eingelegt. Mit Schreiben vom 02.01.1996 verlangte der Kläger eine Vorausberechnung seiner Rente und bat erneut um Überprüfung, ob seine Krankheitszeit von 1959 bis 1973 mit berücksichtigt werden könne. Die Beklagte übersandte den Versicherungsverlauf vom 15.01.1996, den der Kläger erneut beanstandete wegen des Fehlens der Zeit von 1959 bis 1973. Die AOK Bayreuth-Kulmbach teilte auf Anfrage mit, dass der Kläger nur bis zum 31.08.1959 in der Krankenversicherung gemeldet gewesen sei. Mit Bescheid vom 16.05.1996 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Zeit vom 01.09.1959 bis 30.06.1972 als Anrechnungszeit ab, weil eine Krankheit nicht vorgelegen habe.

Dagegen erhob der Kläger Widerspruch und machte durch seinen Bevollmächtigten geltend, dass die Zeit des Aufenthalts in der Nervenheilanstalt den Tatbestand des § 58 Abs 1 Ziff 1 SGB VI erfülle, insbesondere weil auch die Unterbrechnung einer versicherten Beschäftigung gegeben sei. In einer Stellungnahme des ärztlichen Dienstes der Beklagten vom 13.11.1996 - Dr.A. - ist ausgeführt, dass in der genannten Zeit Gebrechlichkeit vorgelegen habe.

Mit Bescheid vom 03.12.1996 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Eine Anrechnungszeit wegen Krankheit liege nicht vor, weil Krankheit begrifflich einem vorübergehenden Zustand mit einem im Voraus absehbaren Ende bezeichne und deshalb nicht mehr angenommen werden könne, wenn die Entwicklung der körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen mehr oder weniger abgeschlossen sei und deshalb ein Gebrechen vorliege, mit dessen Dauer für nicht absehbare Zeit zu rechnen sei.

Dagegen hat der Kläger am 10.12.1996 Klage beim Sozialgericht Bayreuth erhoben. Das Sozialgericht hat die Schwerbehindertenakten des Versorgungsamtes, die Krankenakte des NKH des Bezirks Oberfranken in Bayreuth, die Unterlagen des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Bayreuth (MDK) und Berichte des Neurologen Dr.E. und des Internisten Dr.P. zum Verfahren beigenommen. Auf Veranlassung des Gerichts hat der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.S. das Gutachten vom 01.02.1999 nach Aktenlage erstattet. Beim Kläger habe eine schizophrene Erkrankung vorgelegen, deren Manifestation in das erste Quartal des Jahres 1958 zurückreiche. Es habe sich zunächst um das Zustandsbild einer akuten paranoiden Psychose gehandelt, die in der damaligen Zeit bei Fehlen entsprechender neuroleptischer Medikation in einen schizophrenen Defektzustand übergegangen sei. Erst durch den Einsatz neuentwickelter Psychopharmaka sei eine Besserung im Befinden eingetreten, der Kläger sei wieder kontaktfähiger und umweltbezogener geworden, so dass man ihn dann auch arbeitstherapeutisch habe betreuen können. Es habe etwa in der Zeit vom 01.09.1959 bis zum Beginn der (fortgesetzten) Lehrzeit etwa Mitte 1969 durchgehend Gebrechlichkeit vorgelegen. Der Kläger sei in dieser Zeit infolge geistiger und seelischer Behinderung außer Stande gewesen, sich selbst zu unterhalten und durch Einkünfte einer Erwerbstätigkeit seinen Unterhalt zu bestreiten. Eine Besserung in dieser Hinsicht könne ab Mitte 1969 angenommen werden. Der Kläger selbst geht davon aus, dass er während der gesamten Dauer der Unterbringung im NKH erwerbsfähig gewesen sei. Er habe in der Klinik in der Schlosserei und im Kesselhaus gearbeitet und sogar seine Lehre als Schlosser erfolgreich beendet.

Mit Urteil vom 10.11.1999 hat das Sozialgericht die Klage gegen den Bescheid vom 16.05.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.12.1996 abgewiesen. Die Beklagte habe bei der letztmaligen Ablehnung der beantragte Ausfallzeit ebenso wie bei den früheren Ablehnungen das Recht richtig angewendet. Die Zeit des stationären Aufenthalts im NKH sei weder nach dem alten Recht der RVO (§ 1259) noch nach den Nachfolgevorschriften des SGB VI, § 58 Abs 1 Nr 1 SGB VI, in der vom Kläger gewünschten Form zu berücksichtigen. Der Kläger sei vielmehr während des größten Teils seines stationären Aufenthalts nicht arbeitsunfähig, sondern erwerbsunfähig gewesen. Erst gegen Ende 1968 sei durch die Entwicklung und den Einsatz neuer Psychopharmaka eine Besserung und Stabilisierung des schizophrenen Zustandes eingetreten, die Wahnvorstellungen des Klägers hätten sich zurückgebildet. Allein schon die lange Zeitdauer des Klinikaufenthalts bis zum Eintritt einer Besserung belege, dass bei der Einlieferung in die Anstalt der Kläger auf nicht absehbare Zeit zur Verrichtung einer Erwerbstätigkeit außer Stande gewesen sei. Dieser von Dr.S. anhand der Krankenunterlagen überzeugend dargelegten Beurteilung schließe sich das Gericht an. Die Ermittlung des genauen Zeitpunkts, zu dem eine Besserung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten sei, könne jedoch dahinstehen. Der Kläger habe kein Ausbildungsverhältnis mehr durchlaufen (im NKH), sondern sei lediglich im Rahmen der Beschäftigungstherapie zur praktischen und theoretischen Gesellenprüfung zugelassen worden. Des weiteren könne die Festlegung eines bestimmten Tages, zu dem keine Erwerbsunfähigkeit mehr vorgelegen habe, sondern möglicherweise nur noch Arbeitsunfähigkeit, dahinstehen, weil wegen jedenfalls fehlender Unterbrechnung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung eine Ausfallzeit nicht mehr in Frage käme. Auch nach Ablegen der Gesellenprüfung am 05.02.1973 sei der Kläger nicht aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses bei der Firma S. in B. tätig gewesen, sondern aufgrund einer Arbeitstherapie.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 13.12.1999 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung des Klägers. Er verlangt weiterhin, die Zeit vom 01.09.1959 bis 30.06.1973 als Anrechnungszeit anzuerkennen. Die Nervenklinik habe ihn erst am 01.01.1960 als Pflegefall angesehen, nicht bereits zum 01.09.1959. Der möglicherweise eingetretene Zustand der Gebrechlichkeit sei jedenfalls bei Aufnahme in die Nervenklinik nicht auf Dauer anzunehmen gewesen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Bayyreuth vom 10.11.1999 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 16.05.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.12.1996 zu verurteilen, die Zeit vom 01.09.1959 bis 30.06.1973 als Anrechnungszeit anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Dem Gericht haben die Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakten dees SG Bayreuth vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig.

Das Rechtsmittel des Klägers erweist sich als nicht begründet. Das Sozialgericht hat zutreffend erkannt, dass beim Kläger vom 01.09.1959 bis 30.06.1973 nicht Arbeitsunfähigkeit iS der Krankenversicherung, sondern Erwerbsunfähigkeit iS der Rentenversicherung vorgelegen hat. Dies lässt sich aus der langen Dauer und der Schwere des Defektzustandes unschwer ableiten, wie Dr.S. in seinem Gutachten überzeugend ausgeführt hat. Dieses Gutachten hat das SG im Urteil ausführlich dargestellt und zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Der Senat schließt sich den Überlegungen des SG an, weshalb von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen wird, § 153 Abs 2 SGG.

Einer weiteren Begutachtung, wie vom Kläger angeregt, bedurfte es nicht. Der ärztliche Sachverständige Dr.S. hat die an ihn gestellten Beweisfragen klar und eindeutig beantwortet. Außer seiner Auffassung, dass das Gutachten inhaltlich falsch sei, hat der Kläger keine Argumente vorgebracht, die die Kernaussage der Begutachtung in Frage stellen könnten.

Im Übrigen ist es für den Rechtsstreit unerheblich, ob die Erkrankung des Klägers, durch welche Maßnahmen und Medikamente auch immer, zu einem früheren Zeitpunkt hätte gebessert werden können; entscheidend ist lediglich, ob und wie lange der Zustand der Erwerbsunfähigkeit angedauert hat. Diese Frage hat Dr.S. beantwortet, indem er eine Besserung des Zustandes erst ab etwa 1968 festgestellt hat.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 10.11.1999 war deshalb zurückzuweisen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten, § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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