Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 SB 702/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 119/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Eine Beweisaufnahme durch Sachverständige hat durch formellen Beweisbeschluss vor dem zuständigen Prozessgericht zu erfolgen.
2. Ein in einem Rentenrechtsstreit eingeholtes Sachverständigengutachten kann in einem Rechtsstreit nach dem Schwerbehindertengesetz nicht als Sachverständigengutachten verwertet werden.
2. Ein in einem Rentenrechtsstreit eingeholtes Sachverständigengutachten kann in einem Rechtsstreit nach dem Schwerbehindertengesetz nicht als Sachverständigengutachten verwertet werden.
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 02.11.1999 aufgehoben, soweit es den Beklagten verurteilt hat, die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen ab März 1998 mit einem höheren GdB als 30 zu bewerten. Im Übrigen wird die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob das Sozialgericht Würzburg (SG) die Behinderungen der Klägerin nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) zu Recht mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 40 bewertet hat. Die Klägerin begehrt im Wege der Anschlussberufung einen GdB von mindestens 50.
Der Beklagte stellte bei der am ...1953 geborenen Klägerin nach Aktenlage mit Bescheid vom 05.08.1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 22.10.1997 als Behinderung mit einem GdB von 20 fest: Lendenwirbelsäulensyndrom, zweimalige Bandscheibenoperation L4/L5 links.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem SG hat die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB mit der Begründung begehrt, bei ihr sei mittlerweile die dritte Bandscheibenoperation durchgeführt worden. Daneben leide sie an chronischer Bronchitis, allergische Diathese und Adipositas. Sie hat ärztliche Unterlagen ihrer Behandlungen vorgelegt (Arztbrief der Klinik für Orthopädie, Klinik Bavaria, Bad Kissingen vom 29.12.1997; Arztbrief über ein spinales CT der Lendenwirbelsäule vom 22.03.1998) sowie ein Gutachten des Artzes für Chirurgie Dr.G ... vom 03.03.1998 zu einem Antrag auf Berufsunfähigkeits- bzw Erwerbsunfähigkeitsrente. Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin (Facharzt für Allgemeinmedizin Dr.M ..., Fachärzte für Neurochrirugie Dres ...) beigezogen und sie im Rahmen des ebenfalls beim SG Würzburg anhängigen Rentenrechtsstreit S 6 RJ 885/97 terminsärztlich von der Med.Direktorin und Nervenärztin Dr.B ... (mit)begutachten lassen. Diese hat bei der Klägerin ein chronisches Lendenwirbelsäulen-Syndrom mit schwergradiger Funktionseinschränkung diagnostiziert und hierfür einen Einzel- und Gesamt-GdB von 30 angenommen. Die Klägerin hat ein im Rechtsstreit S 6 RJ 885/97 erstelltes neurochirurgisches Gutachten des Prof. Dr.B ... vom 21.04.1999 vorgelegt, wonach sie wegen eines Postdikektomiesyndroms vom Grad II für so leistungsgemindert erachtet wurde, dass sie nur noch eine weniger als halbschichtige Tätigkeit ausführen könne. Sie hat im Hinblick auf dieses Gutachten einen Gesamt-GdB von unter 80 nicht für vertretbar gehalten.
Das SG hat daraufhin dem Beklagten das Terminsgutachten der Dr.B ... und das Gutachten des Prof. Dr.B ... zur Stellungnahme zugeleitet. Der Beklagte hat sich nach Einholung einer nervenärztlichen Stellungnahme des Priv.Doz. Dr.K ... mit Vergleichsangebot vom 04.08.1999 bereit erklärt, mit Wirkung ab 12/97 als Behinderung mit einem GdB von 30 festzustellen: Lendenwirbelsäulensyndrom, zweimalige Bandscheibenoperation L4/L5 links, Bandscheibenoperation L3/L4 rechts.
Die Klägerin hat sich zu diesem Vergleichsangebot nicht geäußert.
In der mündlichen Verhandlung vom 02.11.1999 hat die Klägerin beantragt, bei ihr einen GdB von 40 ab März 1998 festzustellen. Das SG hat diesem Antrag mit Urteil vom 20.11.1999 entsprochen und den Beklagten verurteilt, die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen ab März 1998 mit einem GdB von 40 zu bewerten. Es hat sich dabei insbesondere auf das Gutachten des Prof. Dr.B ... vom 21.04.1999 gestützt und die Auffassung vertreten, die Bewertung der gerichtsärztlichen Sachverständigen Dr.B ... sowie des Dr.K ... mit einem GdB von 30 entspreche nicht den erheblichen funktionellen Einschränkungen und der glaubhaften Schmerzsymptomatik.
Gegen das am 19.11.1999 zugestellte Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und die Aufhebung des Urteils des SG Würzburg vom 02.11.1999 begehrt, soweit er verurteilt wurde, die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen ab März 1998 mit einem höheren GdB als 30 zu bewerten. Er hat gerügt, das SG habe sowohl § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als auch § 128 SGG nicht beachtet, indem es ohne eigene Sachkunde und ohne ausreichende Begründung den bei der Klägerin vorliegenden GdB mit 40 bewertet hat.
Die Klägerin hat am 26.01.2000 Anschlussberufung eingelegt und beantragt, bei ihr einen erhöhten GdB von mindestens 50 seit Dezember 1997 festzustellen.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 02.11.1999 aufzuheben, soweit er verurteilt wurde, die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen ab März 1998 mit einem höheren GdB als 30 zu bewerten.
Die Klägerin beantragt, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Würzburg vom 02.11.1999 zurückzuweisen und das Urteil des SG Würzburg vom 02.11.1999 dahingehend zu ändern, dass bei ihr mindestens ein GdB von 50 festgestellt wird.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte (§§ 143, 151 SGG) Berufung ist iS der Zurückverweisung an das SG begründet. Die unselbständige Anschlussberufung der Klägerin verliert mit der Zurückverweisung ihre Wirkung.
Das Landessozialgericht kann durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 159 Abs 1 Nr 2 SGG).
Das sozialgerichtliche Urteil leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln. Das SG hat gegen den Grundsatz der Amtsermittlung (§ 103 SGG) verstoßen, indem es über den Anspruch der Klägerin befunden hat, ohne ein Sachverständigengutachten eingeholt zu haben, das den gesetzlichen Bestimmungen über die Durchführung der Beweisaufnahme entspricht. Es hat auch die Grenzen der freien Beweiswürdigung verfahrensfehlerhaft nicht beachtet (§ 128 SGG), indem es das im Rentenverfahren S 6 RJ 885/97 eingeholte Gutachten des Prof. Dr.B ... ohne Hinzuziehung eines gerichtsärztlichen Sachverständigen für eine Erhöhung des GdB der Klägerin herangezogen hat.
Das SG hat den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 1.Halbsatz SGG). Dieser Grundsatz gilt im Sozialgerichtsgesetz wegen des öffentlichen Interesses an der Aufklärung des Sachverhalts und der Richtigkeit der Entscheidung (Meyer-Ladewig, Komm z SGG, 6.Aufl § 103 RdNr 1). Der Untersuchungsgrundsatz bezieht sich auf den Sachverhalt (aaO RdNr 3). Es müssen alle Tatsachen ermittelt werden, die für die Entscheidung in pro- zessualer und materieller Hinsicht wesentlich und damit entscheidungserheblich sind (aaO RdNr 4 a). Wenn das Gericht davon absieht, Sachverständige zu bestellen, so verstößt es gegen § 103 SGG, wenn es eine Tatsachenfrage selbst beurteilt, ohne selbst über besondere eigene Sachkunde zu verfügen (aaO RdNr 7 b).
Das SG hat verfahrensfehlerhaft keinen Beweis durch Sachverständige erhoben und deshalb gegen seine Verpflichtung zur Amtsermittlung verstoßen. Es hat entgegen seiner Auffassung die Nervenärztin Dr.B ... nicht als Sachverständige gehört. Das von ihm verwertete Sachverständigengutachten der Dr.B ... ist in dem Rentenverfahren S 6 RJ 885/97 erstellt worden. Das SG hat im Schwerbehindertenrechtsstreit keine Beweisanordnung erlassen. Die Beweisanordnung - Beauftragung der Dr.B ... - hätte durch formellen Beweisbeschluss erfolgen müssen (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 358, 359 Zivilprozessordnung ). Nach § 358 a Satz 1 ZPO kann das Gericht schon vor der mündlichen Verhandlung einen Beweisbeschluss erlassen und dieser Beschluss kann vor der mündlichen Verhandlung ausgeführt werden, soweit er die Begutachtung durch Sachverständige anordnet (§ 358 a Satz 2 Nr 4 ZPO). Die auf Anordnung des Vorsitzenden der 5. Kammer des SG im Schreiben vom 13.10.1998 erfolgte Übersendung der Klageakte im Schwerbehindertenrechtstreit und der Schwerbehindertenakte an die 6.Kammer des SG zum Rechtsstreit S 6 RJ 885/97 "mit der Bitte um Berücksichtigung der Beweisfragen SB Muster 1 zu 3: ab 6/97" stellte keine Beweisanordnung iS des § 358 a ZPO dar. Die Beweisaufnahme ist nämlich ausschließlich im Rechtsstreit S 6 RJ 885/97 und nicht vor dem zuständigen Prozessgericht erfolgt (§ 355 Abs Satz 1 ZPO). Die Beteiligten haben zudem von der Begutachtung erst nachträglich Kenntnis erhalten, so dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu besorgen ist. Es ist hier von einer systematischen Umgehung sämtlicher Vorschriften über die Beweisaufnahme durch Sachverständige auszugehen mit der Folge, dass keine Heilung durch Rügeverzicht (§ 295 Abs 1 ZPO) der Beteiligten angenommen werden kann (vgl Thomas/Putzo ZPO 22.Aufl § 355 RdNr 6 mwN). Die gutachtlichen Äußerungen der Dr.E.Bühl zum GdB im Rechtsstreit S 6 RJ 885/97 unterliegen daher einem Verwertungsverbot im vorliegenden Rechtsstreit und können auch nicht im Wege des Urkundenbeweises in das Verfahren einbezogen werden.
Die Verwertung des vom SG beigezogenen Gutachtens des Prof. Dr.B ... ohne Zuziehung eines Sachverständigen im Schwerbehindertenrechtsstreit überschreitet die Grenzen der freien Beweiswürdigung in verfahrensfehlerhafter Weise. Zwar konnte das SG das Gutachten des Prof. Dr.B ... im Wege des Urkundenbeweises in das Schwerbehindertenverfahren einführen, es konnte aber nicht die medizinischen Ergebnisse dieses Rentengutachtens ohne eigenen medizinischen Sachverstand auf das Schwerbehindertenrecht übertragen. Das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung und das Schwerbehindertenrecht stellen vollkommen verschiedene gesetzliche Materien dar. Die Frage, ob ein Versicherter in der gesetzlichen Rentenversicherung berufsunfähig oder erwerbsunfähig ist, wird nach anderen rechtlichen Kriterien beurteilt als die Frage der Einstufung eines Behinderten nach dem Schwerbehindertenrecht. Das SG hat das Rentengutachten des Prof. Dr.B ... ohne Heranziehung eines ärztlichen Sachverständigen iS des Schwerbehindertenrechts interpretiert. Insoweit fehlt es dem Gericht - wie der Beklagte richtig erkannt hat - an der notwendigen medizinischen Sachkenntnis. Die Festsetzung des GdB mit 40 durch das SG auf der Grundlage des Gutachtens des Prof. Dr.B ... ist daher rein spekulativ. Zur Feststellung von Art und Ausmaß der Behinderungen muss das SG einen ärztlichen Sachverständigen heranziehen. Erst dann hätte gerichtlich geprüft werden können, ob der auf der Grundlage des konkret ermittelten medizinischen Sachverhalts (von einem Sachverständigen) geschätzte Grad der Behinderung sich im Rahmen der Bewertungsgrundsätze der Anhaltspunkte der ärztlichen Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) 1996 bewegt (so LSG Bayern, Breithaupt 2000, 478). Die in den AHP aufgeführten GdB-Werte und die für die Höhe des GdB jeweils genannten Voraussetzungen stellen keine Tatsachen dar, die eine Beweisaufnahme überflüssig machen. Zwar nennen die AHP als antizipierte Sachverständigengutachten GdB-Grade für Behinderungen, die von Sozialgerichten zu beachten sind (so BVerfG Breithaupt 1997, 65 = SozR 3-3870 § 3 Nr 6). Dies bedeutet aber lediglich, dass die Vorgaben der AHP nicht durch Einzelfallgutachten hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden können (BSG Breithaupt 1994, 323 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6).
Diese Verfahrensfehler sind wesentlich, da das angefochtene Urteil auf ihnen beruhen kann. Es ist nicht auszuschließen, dass das SG bei einer ordnungsgemäßen Sachverhaltsermittlung und ohne Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung anders entschieden hätte. Nach dem von Prof. Dr.B ... festgestellten Leiden der Klägerin auf orthopädischem Gebiet ist es denkbar, dass ihr ein höherer GdB als 40 zusteht. Dabei berücksichtigt der Senat auch, dass sich das SG mit den von der Klägerin geltend gemachten Behinderungen auf nicht-orthopädischem Gebiet überhaupt nicht befasst hat.
Es liegt im Ermessen des Senats, ob er in der Sache selbst entscheidet oder zurückverweisen will. Die Zurückverweisung soll die Ausnahme sein (Meyer-Ladewig aaO § 159 Anm 5). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer Sachentscheidung sowie dem Grundsatz der Prozessökonomie und dem Verlust einer Instanz hält der Senat wegen der noch notwendigen umfangreichen Beweisaufnahme (Sachaufklärung durch Einholung eines orthopädischen und evtl weiterer Gutachten auf anderen Fachgebieten) eine Zurückverweisung dringend für geboten.
Das Urteil des SG ist unter Beachtung des Verböserungsverbots entsprechend dem Antrag des Beklagten nur insoweit aufzuheben, soweit der Beklagte verurteilt wurde, die Behinderungen der Klägerin ab März 1998 mit einem höheren GdB als 30 zu bewerten. Dies schließ nicht aus, dass das SG nach Durchführung einer den Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens entsprechenden Beweiserhebung ggfs einen höheren GdB als 40 festzustellen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision iSd § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob das Sozialgericht Würzburg (SG) die Behinderungen der Klägerin nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) zu Recht mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 40 bewertet hat. Die Klägerin begehrt im Wege der Anschlussberufung einen GdB von mindestens 50.
Der Beklagte stellte bei der am ...1953 geborenen Klägerin nach Aktenlage mit Bescheid vom 05.08.1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 22.10.1997 als Behinderung mit einem GdB von 20 fest: Lendenwirbelsäulensyndrom, zweimalige Bandscheibenoperation L4/L5 links.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem SG hat die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB mit der Begründung begehrt, bei ihr sei mittlerweile die dritte Bandscheibenoperation durchgeführt worden. Daneben leide sie an chronischer Bronchitis, allergische Diathese und Adipositas. Sie hat ärztliche Unterlagen ihrer Behandlungen vorgelegt (Arztbrief der Klinik für Orthopädie, Klinik Bavaria, Bad Kissingen vom 29.12.1997; Arztbrief über ein spinales CT der Lendenwirbelsäule vom 22.03.1998) sowie ein Gutachten des Artzes für Chirurgie Dr.G ... vom 03.03.1998 zu einem Antrag auf Berufsunfähigkeits- bzw Erwerbsunfähigkeitsrente. Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin (Facharzt für Allgemeinmedizin Dr.M ..., Fachärzte für Neurochrirugie Dres ...) beigezogen und sie im Rahmen des ebenfalls beim SG Würzburg anhängigen Rentenrechtsstreit S 6 RJ 885/97 terminsärztlich von der Med.Direktorin und Nervenärztin Dr.B ... (mit)begutachten lassen. Diese hat bei der Klägerin ein chronisches Lendenwirbelsäulen-Syndrom mit schwergradiger Funktionseinschränkung diagnostiziert und hierfür einen Einzel- und Gesamt-GdB von 30 angenommen. Die Klägerin hat ein im Rechtsstreit S 6 RJ 885/97 erstelltes neurochirurgisches Gutachten des Prof. Dr.B ... vom 21.04.1999 vorgelegt, wonach sie wegen eines Postdikektomiesyndroms vom Grad II für so leistungsgemindert erachtet wurde, dass sie nur noch eine weniger als halbschichtige Tätigkeit ausführen könne. Sie hat im Hinblick auf dieses Gutachten einen Gesamt-GdB von unter 80 nicht für vertretbar gehalten.
Das SG hat daraufhin dem Beklagten das Terminsgutachten der Dr.B ... und das Gutachten des Prof. Dr.B ... zur Stellungnahme zugeleitet. Der Beklagte hat sich nach Einholung einer nervenärztlichen Stellungnahme des Priv.Doz. Dr.K ... mit Vergleichsangebot vom 04.08.1999 bereit erklärt, mit Wirkung ab 12/97 als Behinderung mit einem GdB von 30 festzustellen: Lendenwirbelsäulensyndrom, zweimalige Bandscheibenoperation L4/L5 links, Bandscheibenoperation L3/L4 rechts.
Die Klägerin hat sich zu diesem Vergleichsangebot nicht geäußert.
In der mündlichen Verhandlung vom 02.11.1999 hat die Klägerin beantragt, bei ihr einen GdB von 40 ab März 1998 festzustellen. Das SG hat diesem Antrag mit Urteil vom 20.11.1999 entsprochen und den Beklagten verurteilt, die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen ab März 1998 mit einem GdB von 40 zu bewerten. Es hat sich dabei insbesondere auf das Gutachten des Prof. Dr.B ... vom 21.04.1999 gestützt und die Auffassung vertreten, die Bewertung der gerichtsärztlichen Sachverständigen Dr.B ... sowie des Dr.K ... mit einem GdB von 30 entspreche nicht den erheblichen funktionellen Einschränkungen und der glaubhaften Schmerzsymptomatik.
Gegen das am 19.11.1999 zugestellte Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und die Aufhebung des Urteils des SG Würzburg vom 02.11.1999 begehrt, soweit er verurteilt wurde, die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen ab März 1998 mit einem höheren GdB als 30 zu bewerten. Er hat gerügt, das SG habe sowohl § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als auch § 128 SGG nicht beachtet, indem es ohne eigene Sachkunde und ohne ausreichende Begründung den bei der Klägerin vorliegenden GdB mit 40 bewertet hat.
Die Klägerin hat am 26.01.2000 Anschlussberufung eingelegt und beantragt, bei ihr einen erhöhten GdB von mindestens 50 seit Dezember 1997 festzustellen.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 02.11.1999 aufzuheben, soweit er verurteilt wurde, die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen ab März 1998 mit einem höheren GdB als 30 zu bewerten.
Die Klägerin beantragt, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Würzburg vom 02.11.1999 zurückzuweisen und das Urteil des SG Würzburg vom 02.11.1999 dahingehend zu ändern, dass bei ihr mindestens ein GdB von 50 festgestellt wird.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte (§§ 143, 151 SGG) Berufung ist iS der Zurückverweisung an das SG begründet. Die unselbständige Anschlussberufung der Klägerin verliert mit der Zurückverweisung ihre Wirkung.
Das Landessozialgericht kann durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 159 Abs 1 Nr 2 SGG).
Das sozialgerichtliche Urteil leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln. Das SG hat gegen den Grundsatz der Amtsermittlung (§ 103 SGG) verstoßen, indem es über den Anspruch der Klägerin befunden hat, ohne ein Sachverständigengutachten eingeholt zu haben, das den gesetzlichen Bestimmungen über die Durchführung der Beweisaufnahme entspricht. Es hat auch die Grenzen der freien Beweiswürdigung verfahrensfehlerhaft nicht beachtet (§ 128 SGG), indem es das im Rentenverfahren S 6 RJ 885/97 eingeholte Gutachten des Prof. Dr.B ... ohne Hinzuziehung eines gerichtsärztlichen Sachverständigen für eine Erhöhung des GdB der Klägerin herangezogen hat.
Das SG hat den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 1.Halbsatz SGG). Dieser Grundsatz gilt im Sozialgerichtsgesetz wegen des öffentlichen Interesses an der Aufklärung des Sachverhalts und der Richtigkeit der Entscheidung (Meyer-Ladewig, Komm z SGG, 6.Aufl § 103 RdNr 1). Der Untersuchungsgrundsatz bezieht sich auf den Sachverhalt (aaO RdNr 3). Es müssen alle Tatsachen ermittelt werden, die für die Entscheidung in pro- zessualer und materieller Hinsicht wesentlich und damit entscheidungserheblich sind (aaO RdNr 4 a). Wenn das Gericht davon absieht, Sachverständige zu bestellen, so verstößt es gegen § 103 SGG, wenn es eine Tatsachenfrage selbst beurteilt, ohne selbst über besondere eigene Sachkunde zu verfügen (aaO RdNr 7 b).
Das SG hat verfahrensfehlerhaft keinen Beweis durch Sachverständige erhoben und deshalb gegen seine Verpflichtung zur Amtsermittlung verstoßen. Es hat entgegen seiner Auffassung die Nervenärztin Dr.B ... nicht als Sachverständige gehört. Das von ihm verwertete Sachverständigengutachten der Dr.B ... ist in dem Rentenverfahren S 6 RJ 885/97 erstellt worden. Das SG hat im Schwerbehindertenrechtsstreit keine Beweisanordnung erlassen. Die Beweisanordnung - Beauftragung der Dr.B ... - hätte durch formellen Beweisbeschluss erfolgen müssen (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 358, 359 Zivilprozessordnung ). Nach § 358 a Satz 1 ZPO kann das Gericht schon vor der mündlichen Verhandlung einen Beweisbeschluss erlassen und dieser Beschluss kann vor der mündlichen Verhandlung ausgeführt werden, soweit er die Begutachtung durch Sachverständige anordnet (§ 358 a Satz 2 Nr 4 ZPO). Die auf Anordnung des Vorsitzenden der 5. Kammer des SG im Schreiben vom 13.10.1998 erfolgte Übersendung der Klageakte im Schwerbehindertenrechtstreit und der Schwerbehindertenakte an die 6.Kammer des SG zum Rechtsstreit S 6 RJ 885/97 "mit der Bitte um Berücksichtigung der Beweisfragen SB Muster 1 zu 3: ab 6/97" stellte keine Beweisanordnung iS des § 358 a ZPO dar. Die Beweisaufnahme ist nämlich ausschließlich im Rechtsstreit S 6 RJ 885/97 und nicht vor dem zuständigen Prozessgericht erfolgt (§ 355 Abs Satz 1 ZPO). Die Beteiligten haben zudem von der Begutachtung erst nachträglich Kenntnis erhalten, so dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu besorgen ist. Es ist hier von einer systematischen Umgehung sämtlicher Vorschriften über die Beweisaufnahme durch Sachverständige auszugehen mit der Folge, dass keine Heilung durch Rügeverzicht (§ 295 Abs 1 ZPO) der Beteiligten angenommen werden kann (vgl Thomas/Putzo ZPO 22.Aufl § 355 RdNr 6 mwN). Die gutachtlichen Äußerungen der Dr.E.Bühl zum GdB im Rechtsstreit S 6 RJ 885/97 unterliegen daher einem Verwertungsverbot im vorliegenden Rechtsstreit und können auch nicht im Wege des Urkundenbeweises in das Verfahren einbezogen werden.
Die Verwertung des vom SG beigezogenen Gutachtens des Prof. Dr.B ... ohne Zuziehung eines Sachverständigen im Schwerbehindertenrechtsstreit überschreitet die Grenzen der freien Beweiswürdigung in verfahrensfehlerhafter Weise. Zwar konnte das SG das Gutachten des Prof. Dr.B ... im Wege des Urkundenbeweises in das Schwerbehindertenverfahren einführen, es konnte aber nicht die medizinischen Ergebnisse dieses Rentengutachtens ohne eigenen medizinischen Sachverstand auf das Schwerbehindertenrecht übertragen. Das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung und das Schwerbehindertenrecht stellen vollkommen verschiedene gesetzliche Materien dar. Die Frage, ob ein Versicherter in der gesetzlichen Rentenversicherung berufsunfähig oder erwerbsunfähig ist, wird nach anderen rechtlichen Kriterien beurteilt als die Frage der Einstufung eines Behinderten nach dem Schwerbehindertenrecht. Das SG hat das Rentengutachten des Prof. Dr.B ... ohne Heranziehung eines ärztlichen Sachverständigen iS des Schwerbehindertenrechts interpretiert. Insoweit fehlt es dem Gericht - wie der Beklagte richtig erkannt hat - an der notwendigen medizinischen Sachkenntnis. Die Festsetzung des GdB mit 40 durch das SG auf der Grundlage des Gutachtens des Prof. Dr.B ... ist daher rein spekulativ. Zur Feststellung von Art und Ausmaß der Behinderungen muss das SG einen ärztlichen Sachverständigen heranziehen. Erst dann hätte gerichtlich geprüft werden können, ob der auf der Grundlage des konkret ermittelten medizinischen Sachverhalts (von einem Sachverständigen) geschätzte Grad der Behinderung sich im Rahmen der Bewertungsgrundsätze der Anhaltspunkte der ärztlichen Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) 1996 bewegt (so LSG Bayern, Breithaupt 2000, 478). Die in den AHP aufgeführten GdB-Werte und die für die Höhe des GdB jeweils genannten Voraussetzungen stellen keine Tatsachen dar, die eine Beweisaufnahme überflüssig machen. Zwar nennen die AHP als antizipierte Sachverständigengutachten GdB-Grade für Behinderungen, die von Sozialgerichten zu beachten sind (so BVerfG Breithaupt 1997, 65 = SozR 3-3870 § 3 Nr 6). Dies bedeutet aber lediglich, dass die Vorgaben der AHP nicht durch Einzelfallgutachten hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden können (BSG Breithaupt 1994, 323 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6).
Diese Verfahrensfehler sind wesentlich, da das angefochtene Urteil auf ihnen beruhen kann. Es ist nicht auszuschließen, dass das SG bei einer ordnungsgemäßen Sachverhaltsermittlung und ohne Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung anders entschieden hätte. Nach dem von Prof. Dr.B ... festgestellten Leiden der Klägerin auf orthopädischem Gebiet ist es denkbar, dass ihr ein höherer GdB als 40 zusteht. Dabei berücksichtigt der Senat auch, dass sich das SG mit den von der Klägerin geltend gemachten Behinderungen auf nicht-orthopädischem Gebiet überhaupt nicht befasst hat.
Es liegt im Ermessen des Senats, ob er in der Sache selbst entscheidet oder zurückverweisen will. Die Zurückverweisung soll die Ausnahme sein (Meyer-Ladewig aaO § 159 Anm 5). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer Sachentscheidung sowie dem Grundsatz der Prozessökonomie und dem Verlust einer Instanz hält der Senat wegen der noch notwendigen umfangreichen Beweisaufnahme (Sachaufklärung durch Einholung eines orthopädischen und evtl weiterer Gutachten auf anderen Fachgebieten) eine Zurückverweisung dringend für geboten.
Das Urteil des SG ist unter Beachtung des Verböserungsverbots entsprechend dem Antrag des Beklagten nur insoweit aufzuheben, soweit der Beklagte verurteilt wurde, die Behinderungen der Klägerin ab März 1998 mit einem höheren GdB als 30 zu bewerten. Dies schließ nicht aus, dass das SG nach Durchführung einer den Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens entsprechenden Beweiserhebung ggfs einen höheren GdB als 40 festzustellen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision iSd § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
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