L 15 SB 122/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 SB 30/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 SB 122/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 28.10.1999 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" bei der Klägerin nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) streitig.

Bei der am ...1911 geborenen Klägerin waren zuletzt mit Bescheid vom 27.04.1983 eine MdE von 100 v.H. und die Merkzeichen "G" und "B" festgestellt, und zwar wegen folgender Behinderungen: 1. Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und der tragenden Gelenke 2. Chronische Gastritis, Pankreatitis - Entfernung der Gallenblase - 3. Sehminderung links. Für Behinderung Nr.1 wurde ein Einzel-MdE-Grad von 70 v.H., für Behinderung Nr.2 und 3 jeweils von 30 v.H. angenommen. Ein hinsichtlich der Zuerkennung des Merkzeichens "RF" durchgeführtes Widerspruchsverfahren endete mit zurückweisendem Widerspruchsbescheid vom 21.07.1983.

Im Zusammenhang mit einem Antrag der Klägerin im November 1990 auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF" wurde vom Beklagten ein Befundbericht vom Internisten Dr.W ... eingeholt, der bei der Klägerin das Vorliegen einer coronaren Herzkrankheit, einer Innenohrhochtonschwerhörigkeit beidseits mit Tinnitus sowie eine cerebro-vaskuläre Insuffizienz bescheinigte, ferner eine Operation (TEP) am linken Hüftgelenk im Dezember 1988 sowie am rechten Gelenk im August 1990 durch Dr.Ri ...

Am 18.08.1998 stellte die Klägerin Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Der Allgemeinarzt Dr.L ... teilte in seinem auf Anforderung des Beklagten übersandten Befundbericht vom 03.09.1998 mit, dass die Klägerin außer Haus einen Gehstock mit Unterarmstütze benützen müsse und damit eine Gehstrecke von 500 m noch bewältige. Dem Befundbericht lagen Arztbriefe der Internisten Dr.N ... und Dr.Th ... bei. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme bemerkte der Orthopäde Dr.M ..., die Nachprüfung nach der Hüftgelenksoperation sei zwar versäumt worden; ein Besserungsnachweis sei jedoch wahrscheinlich schwierig; die Bewegungseinschränkungen der Klägerin seien altersbedingt, die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" nicht erfüllt. Am 19.10.1998 erging daraufhin ein Ablehnungsbescheid.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch, da sie längere Strecken nicht problemlos bewältigen könne und eine Untersuchung für erforderlich halte. Den Widerspruch wies der Beklagten auf einer nach Aktenlage erstatteten versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr.K ... am 08.01.1999 zurück. Die Klägerin könne nach den beigezogenen Befunden mit Gehstock eine Gehstrecke von 500 m bewältigen; die Voraussetzungen für "aG" seien daher auf keinen Fall gegeben.

Dagegen hat die Klägerin am 25.01.1999 Klage beim Sozialgericht Augsburg erhoben. Ihre kranken Beine seien nicht untersucht worden, die Gehstrecke betrage nicht 500, sondern nur 50 m. Sie sei Schwester im Krieg gewesen, habe Schwerkranke tragen müssen und Füße und Kreuz übermäßig belastet. Das Sozialgericht hat einen Befundbericht von Dr.W ... eingeholt, auf dem vermerkt ist, dass die Klägerin u.a. unter cerebralen Durchblutungsstörungen leide, aber noch mit 87 Jahren Auto fahre. Dr.L ... hat in seinem Befundbericht vom 26.04.1999 eine Gangunsicherheit der Klägerin infolge von Bluthochdruck und Schwindelzuständen sowie eine Gehstrecke von 50 m mitgeteilt. Laut Befundbericht des Orthopäden Dr.Ri ... sei die Lendenwirbelsäule völlig fixiert, die Hüftgelenksbeweglichkeit eingeschränkt, die Hüftgelenksprothesen seien fest. Im Auftrag des Sozialgerichts hat anschließend Dr.Gö ... von der H ...-Stiftung Augsburg am 16.09.1999 ein orthopädisches Gutachten erstattet, wonach bei der Klägerin ein chronisches Wirbelsäulen-Syndrom bei degenerativen Veränderungen, eine Fehlhaltung und Osteoporose ohne Beteiligung nervaler Strukturen, ein endoprothetischer Ersatz beider Hüftgelenke ohne erkennbare Lockerung der Implantate, die korrekt und reizlos lägen, sowie eine Polyarthrose, die weitestgehend altersentsprechende degenerative Veränderungen vorwiegend der Schulter-, Finger und Kniegelenke betreffe, vorlägen. Auf nicht orthopädischem Fachgebiet ist der Sachverständige nach Aktenlage von folgenden Gesundheitsstörungen ausgegangen: 1. Psychosyndrom 2. Chronische Gastritis, Pankreatitis, Zustand nach Entfernung der Gallenblase 3. Sehminderung links 4. Rezidivierende Angina pectoris 5. Sigmadivertikulose 6. Diabetes mellitus 7. Inkontinenz. Das Gangbild der Klägerin hat der Sachverständige als kleinschrittig, leicht übergebeugt, insgesamt jedoch einigermaßen flüssig beschrieben. Orthopädische Hilfsmittel, insbesondere Gehstützen, seien zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht verwendet worden. Im Ergebnis ist der Sachverständige zur Überzeugung gelangt, dass die Klägerin nicht zum Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten zu rechnen sei.

Daraufhin hat das Sozialgericht Augsburg mit Urteil vom 28.10.1999 die Klage abgewiesen.

Zur Begründung ihrer gegen dieses Urteil zum Bayer. Landessozialgericht eingelegten Berufung hat die Klägerin vorgetragen, der Gutachter sei von falschen Tatsachen ausgegangen, nämlich, dass sie noch 500 m gehen könne; richtig sei eine Gehstrecke von 50 m; der Befundbericht sei bereits am 19.01.1999 berichtigt worden. Mit einem Attest vom 20.01.2000 habe Dr.L ... nochmals bestätigt, dass in seinem Befundbericht vom 03.09.1998 ein Diktatfehler unterlaufen sei. Jetzt betrage die Gehstrecke nur noch 30 m.

Der Beklagte hat aufgrund versorgungsärztlicher Stellungnahme des Chirurgen Dr.Ha ... vom 08.03.2000 eingewandt, dass der gerichtliche Sachverständige Dr.Gö ... sich allein auf die Untersuchung der Klägerin gestützt habe und das Attest von Dr.L ... nicht ausschlaggebend gewesen sei. Der Senat hat die Orthopädin Dr.E ... am 16.06.2000 zur medizinischen Sachverständigen ernannt. Mit Schreiben vom 07.07.2000 hat diese mitgeteilt, die Klägerin sei zu der für 29.06.2000 vorgesehenen Untersuchung nicht erschienen und habe sich am 26. und 28. telefonisch wegen Harn- und Stuhlinkontinenz entschuldigt. Nachdem eine gerichtliche Anfrage an den Prozessbevollmächtigten, ob die Klägerin sich untersuchen lassen wolle, kein klares Ergebnis gebracht hat, ist die Sachverständige nochmals telefonisch mit der Klägerin in Verbindung getreten. Laut Schreiben von Dr. E ... vom 29.08.2000 hat die Klägerin ihr bei diesem Gespräch am 28.08. erklärt, dass weitere Untersuchungen für sie nicht in Betracht kämen. Die Sachverständige hat daraufhin die Akten zurückgesandt. Eine gerichtliche Anfrage vom 21.12.2000 an den Prozessbevollmächtigten, ob dennoch die Berufung aufrechterhalten werde, ist nicht beantwortet worden. Ein Erörterungstermin für 27.03.2001 musste abgesetzt werden. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat mit Schriftsatz vom 15.03. das Mandat niedergelegt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, den Bescheid des Beklagten vom 19.10.1998 i.d.F. des Widerspruchsbescheids vom 08.01.1999 sowie das Urteil des Sozialgerichts Agusburg vom 28.10.1999 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr das Merkzeichen "aG" ab Antragstellung zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozial- gerichts Augsburg vom 28.10.1999 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten, die Klageakte des vorangegangenen Verfahrens des Sozialgerichts Augsburg S 8 SB 30/99 sowie den Inhalt der Berufungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist nach § 4 Abs.6 SchwbG iVm § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft; sie ist form- und fristgerecht eingelegt, gesetzliche Ausschlussgründe liegen nicht vor (§§ 143 ff., 151 SGG). Die zulässige Berufung erweist sich jedoch als unbegründet. Im Vergleich zum Bescheid vom 27.04.1983 wurde der Nachweis nicht erbracht, dass sich die Gesundheitsstörungen der Klägerin derart verschlimmert hätten, dass ihr ab August 1998 das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen wäre. Nach Aktenlage kann der Klägerin das angestrebte Merkzeichen "aG" weiterhin nicht zuerkannt werden. Das Sozialgericht hat daher zu Recht die angefochtenen Bescheide des Beklagten bestätigt.

Nach § 48 Abs.1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Eintritt vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Bei den Feststellungsbescheiden nach dem SchwbG handelt es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (BSG SozR 3-1300 § 48 Nr.57 und BSG SozR 1300 § 48 Nr.13). Das Merkzeichen "aG" steht Schwerbehinderten zu, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppelunter- und Doppeloberschenkelamputierte, Hüftexartikulierte, einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die dem vorstehend bezeichneten Personenkreis nach medizinischer Erkenntnis gleichzustellen sind. Nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AP) 1996 Nr.31 letzter Absatz (S.168) können auch Erkrankungen der inneren Organe, wie beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz eine Gleichstellung mit oben genannten Behinderten mit Schäden an den unteren Gliedmaßen rechtfertigen.

Nach dem vom Sozialgericht eingeholten Gutachten des Orthopäden Dr.Gö ... vom 16.09.1999 lag auf orthopädischem Fachgebiet im Wesentlichen ein chronisches Wirbelsäulen-Syndrom vorwiegend im Bereich der Lendenwirbelsäule vor. Trotz deutlicher Bewegungseinschränkung wurden keine Hinweise auf eine Beteiligung nervaler Strukturen gefunden; die beiderseitigen Hüftprothesen wurden als fest und unauffällig bezeichnet. Eine Polyarthrose aufgrund weitestgehend altersentsprechenden degenerativen Veränderungen im Bereich der Schulter-, Finger- und Kniegelenke wurde bestätigt. Schwere innere Erkrankungen, die sich auf die Gehfähigkeit auswirken, konnten nicht gefunden werden, vielmehr wurde das Gangbild als kleinschrittig, aber einigermaßen flüssig bezeichnet. Aufgrund dieser Befunde gelangte der Sachverständige schlüssig und nachvollziehbar zu dem Ergebnis, dass die Klägerin dem gemäß § 6 Straßenverkehrsgesetz in Verbindung mit § 46 der Straßenverkehrsordnung in der hierzu erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift Nr.11 aufgeführten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten nicht gleichgestellt werden kann. Die genannte Regelung stellt nicht auf eine bestimmte Gehstrecke ab; nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts darf den Personen das Merkzeichen "aG" zuerkannt werden, denen der unausweichliche Fußweg zwischen einem ordnungsgemäß haltenden oder parkenden Kraftfahrzeug und dem angestrebten Ziel in ähnlicher Weise außerordentlich schwer fällt, wie den ausdrücklich genannten Personen (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr.11). Es kann berechtigterweise nicht damit argumentiert werden, dass die betagte Klägerin sich schlechter fortbewegen könne als ein jüngerer prothetisch gut versorgter Doppelunterschenkelamputierter. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 17.12.1997 (SozR 3-3870 § 4 Nr.22) ausgeführt, dass keine Bedenken gegen die Gruppe der Doppelunterschenkelamputierten als Vergleichsmaßstab bestünden, weil eine große Zahl dieser Personengruppe häufig unter Stumpfbeschwerden leide und dann in der Fortbewegungsfähigkeit aufs schwerste behindert sei. Hierauf stelle die Verwaltungsvorschrift insoweit typisierend ab. Im Übrigen dürfen nach § 3 Abs.1 Satz 2 SchwbG typische Alterserscheinungen nicht als Behinderung berücksichtigt werden. Nach oben genannter Vorschrift ist regelwidrig nur der Zustand, der von dem für das Lebensalter typischen abweicht. Sofern sich die Gehfähigkeit der Klägerin seit der Begutachtung im September 1999 erheblich verschlechtert hätte, konnte ein entsprechender Nachweis nicht erbracht werden. Gemäß § 103 Satz 1 2.Halbsatz SGG war die Klägerin zur Mitwirkung bei der Ermittlung ihrer gesundheitlichen Verhältnisse verpflichtet. Insbesondere war sie verpflichtet, sich ärztlich untersuchen zu lassen; die seit Jahren geltend gemachte Inkontinenz ist kein triftiger Grund, der gegen die Zumutbarkeit einer Untersuchung spricht. Dies gilt um so mehr für die von der Klägerin geäußerten Vorurteile gegen Ärztinnen und Ärzte in der Bundesrepublik. Nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast hat dies zur Folge, dass die beantragte Feststellung des Merkzeichens "aG" mangels Nachweises nicht getroffen werden kann (vgl. Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 6.Aufl. Rdnr.19 a zu § 103).

Die Berufung war nach alledem in der Sache zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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