L 19 RJ 324/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 17 RJ 1115/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 RJ 324/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Kläges gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25.02.2003 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Der 1956 geborene Kläger hat den Beruf eines Verkäufers erlernt (Abschluss 31.08.1974) und diesen bis 31.10.1974 ausgeübt. Nach Entlassung aus der Bundeswehr (März 1977) war er als Tiefbauarbeiter, Wachmann, Stempelbauer und zuletzt ab 1980 als Transportarbeiter (Fa. B.) bis zu seiner Erkrankung am 11.11.1999 versicherungspflichtig beschäftigt; anschließend war und ist er arbeitsunfähig. Ab 17.05.2002 bezieht er Arbeitslosenhilfe (Alhi). Das Arbeitsverhältnis besteht noch.

Am 28.03.2001 beantragte der Kläger, der in der Vergangenheit Frakturen im Jochbein, Kieferhöhlen- und Stirnhöhlenbereich erlitten hatte, die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Im Anschluss an das Gutachten des Sozialmediziners Dr.H. vom 02.08.2001, der ein vollschichtiges Einsatzvermögen für leichte Tätigkeiten bei Beachtung bestimmter Funktionseinschränkungen annahm, lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 14.08.2001 und Widerspruchsbescheid vom 16.11.2001 ab, weil der Kläger für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt täglich mindestens für 6 Stunden einsetzbar sei.

Dagegen hat der Kläger am 11.12.2001 Klage erhoben. Er hat in erster Linie geltend gemacht, er leide bei jedem Wetterumschwung unter Kopfschmerzen, extremen Gleichgewichtsstörungen und Augenflimmern.

Das Sozialgericht Nürnberg (SG) hat nach Beinahme der Befundberichte der HNO-Ärztin Dr.A. und der Allgemeinmediziner Dres.K. zur Frage der Leistungsfähigkeit des Klägers den HNO-Arzt Dr.M. gehört, der im Gutachten vom 05.11.2002 die vom Kläger geklagten Schwindelbeschwerden nicht objektivieren konnte. Gesundheitsstörungen auf dem HNO-Gebiet hat er nicht feststellen können. Zu einem vollschichtigen Einsatzvermögen des Klägers ist auch der anschließend gehörte Augenarzt Dr.H.L. im Gutachten vom 17.10.2002 gelangt. Zwar bestehe eine latente Übersichtigkeit, die aber bislang noch keine Korrektur erfahren habe. Nach augenärztlicher Beurteilung könnten die in den Beweisfragen genannten Arbeiten - auch schwere - regelmäßig weiter verrichtet werden.

Den Leistungsbeurteilungen von Dr.M. und Dr.H.L. hat sich das SG angeschlossen und die Klage mit Urteil vom 25.02.2003 abgewiesen. Im Hinblick auf die vom SG eingeholten ärztlichen Gutachten sei beim Kläger, der keinen Berufsschutz genieße, weder Erwerbsunfähigkeit noch Berufsunfähigkeit gegeben. Die Klage sei somit unbegründet.

Mit der dagegen eingelegten Berufung macht der Kläger geltend, neben den Folgen der Gesichtsverletzungen seien bei ihm Kopfschmerzen, Wetterfühligkeit, Augenflimmern und Gleichgewichtsstörungen zurückgeblieben. Die Kopfschmerzen träten teilweise sogar mehrfach wöchentlich auf und dauerten jeweils 3 bis 7 Stunden. Er müsse sich dann hinlegen, den Raum abdunkeln und könne sich fast nicht bewegen bis die Schmerzen abgeklungen seien. Außerdem leide er in regelmäßigen Abständen unter Stirnhöhlenvereiterungen. Die geschilderten Erscheinungen hätten zugenommen und beeinträchtigten ihn seither in einem Maße, das jede Aufnahme einer Erwerbstätigkeit unmöglich mache.

Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren Befundberichte und Unterlagen der HNO-Ärztin Dr.A. und der Allgemeinmediziner Dres.K. zum Verfahren beigenommen. Zur Frage des Leistungsvermögens des Klägers hat der Neurologe und Psychiater Dr.B. das Gutachten vom 19.04.2004 erstattet. Der ärztliche Sachverständige nimmt ebenfalls ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte und gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten an. Es sollten keine schweren oder anhaltenden mittelschwere körperliche Tätigkeiten, keine stresshaften Arbeitsbedingungen und keine Arbeiten, die mit Kontakt mit Hautreizstoffen verbunden sind, sowie keine Tätigkeiten mit Absturzgefahr oder an laufenden ungeschützten Maschinen zugemutet werden.

Der Kläger beantragt die Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens gemäß § 106 SGG zur Abklärung der Gleichgewichtsstörungen, Kopfschmerzen und Schwindelanfälle und ihre Auswirkung auf die Erwerbsfähigkeit. In der Hauptsache beantragt er die Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 25.02.2003 sowie des Bescheides der Beklagten vom 14.08.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2001 und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.04.2001 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie geht in Übereinstimmung mit dem Erstgericht davon aus, dass der Kläger in der Lage ist, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter qualitativen Funktionseinchränkungen mindestens 6 Stunden zu verrichten. Somit bestehe kein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Dem Senat haben neben den Streitakten erster und zweiter Instanz die beigezogenen Verwaltungsunterlagen der Beklagten vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten wird zur Ergänzung des Tatbestands auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 SGG) und auch im Übrigen zulässig.

In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg. Das SG hat im angefochtenen Urteil vom 25.02.2003 zu Recht entschieden, dass der Kläger gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rentenleistungen wegen voller Erwerbsminderung hat.

Rente wegen voller Erwerbsminderung erhalten nach § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres, wenn sie

1. voll erwerbsgemindert sind,

2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Beim Kläger liegen nach den Ermittlungen des Senats die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung nicht vor. Dies ergibt sich aus den vom SG eingeholten ärztlichen Sachverständigengutachten von Dr.M. vom 05.11.2002 und Dr.H.L. vom 17.10.2002 und insbesondere aus den Ausführungen des vom Senat gehörten Neurologen und Psychiaters Dr.B. im Gutachten vom 19.04.2004. Danach ist der Kläger jedenfalls für leichte Tätigkeiten bei Beachtung bestimmter Funktionseinschränkungen noch vollschichtig, d.h. mindestens 6 Stunden täglich einsetzbar.

Nachdem das Schwergewicht der Erkrankungen des Klägers auf neuro-psychiatrischem Gebiet liegt, hat der Senat als ärztlichen Sachverständigen Dr.B. gehört. Nach dessen Untersuchung und Befunderhebungen liegen beim Kläger im Wesentlichen folgende Gesundheitsstörungen vor:

1. Somatoforme Störung, vor allem im Kopfbereich nach Mittelge sichtsbrüchen schweren Grades,

2. emotional instabile Persönlichkeit, mittelschweren Grades,

3. Hals- und Lendenwirbelsäulen-Wurzelreizsyndrom, leichten Grades,

4. Übergewichtigkeit

(übernommene Diagnosen: Asthmoide Bronchitis leichten Grades und Schuppenflechte).

Diese Gesundheitsstörungen sind aber weder für sich allein gesehen noch in der Gesamtwürdigung so gravierend, dass durch sie der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung eingetreten wäre. Die Beschwerden des Klägers gehen in erster Linie auf den Unfall 1983 (Schlägerei) und die 1999 durchgeführte Nasenscheidewandoperation zurück. Bei ersterer kam es zu einer Impression des gesamten Mittelgesichtes rechts, nach letzterer habe sich nach der Einlassung des Klägers eine wesentliche Verschlimmerung seiner Beschwerden ergeben. Der ärztliche Sachverständige Dr.B. hat insoweit eine ausgeprägte somatoforme Störung im Kopfbereich angenommen. Hinzuweisen ist aber, auch wenn beim Kläger eine Neigung zu Nasennebenhöhlenentzündungen vorliegt, darauf, dass das Ereignis von 1983 zu keiner nennenswerten Hirnbeteiligung geführt hatte. Die tiefere Ursache für die Beschwerden des Klägers liegt vielmehr in seiner Persönlichkeitsstruktur. Es handelt sich insoweit um eine schwere seelische Funktionsstörung, die sich weniger in einer Neigung zu depressiven Verstimmungen, sondern eher in Form ausgeprägter vegetativer Symptome wie Schwindel und Sehstörungen ausgeprägt hat. Darüber hinaus liegt beim Kläger nach den Ausführungen von Dr.B. ein Spannungskopfschmerz und ein Migräneleiden vor, begünstigt durch den Hintergrund der vegetativen Dysregulation. Sekundär entwickelte sich dann ein Schmerzmittelmissbrauch, der sicherlich seinerseits auch zu vermehrten Analgetika-induzierten Kopfschmerzen führt.

Diese Gesundheitsstörungen führen vorliegend zwar zu einer Arbeitsunfähigkeit des Klägers, d.h. er kann deswegen seinen zuletzt ausgeübten Beruf eines Transportarbeiters nicht verrichten. Nach der Beurteilung aller bisher gehörten ärztlichen Sachverständigen ist der Kläger aber durchaus in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig, d.h. wenigstens 6 Stunden zu verrichten. Eingeschränkt ist die Erwerbsfähigkeit des Klägers insoweit, als keine schweren oder anhaltend mittelschwere körperliche Tätigkeiten mehr verrichten werden können. Auch sollten stresshafte Arbeitsbedingungen und Arbeiten, die mit Kontakt mit Hautreizstoffen verbunden sind und Tätigkeiten mit Absturzgefahr oder an laufenden ungeschützten Maschinen vermieden werden.

Bei dieser Sachlage ist beim Kläger eine volle Erwerbsminderung noch nicht eingetreten. Auch eine eventuell stark eingeschränkte Therapiebereitschaft kann nicht zu der Folgerung führen, dass der Kläger dann von den Erfordernissen einer Erwerbstätigkeit entpflichtet sei. Denn unter den strengen Kriterien, die hinsichtlich der Frage einer zumutbaren Willensanstrengung anzulegen sind, kann die Fähigkeit zur Erbringung einer eigenen Willensanstrengung beim Kläger psychiatrischerseits nicht verneint werden. Deshalb führt auch die sozialmedizinische Schlussfolgerung, wonach zur Zeit beim Kläger Arbeitsunfähigkeit bestehe, nicht zur Annahme der vollen Erwerbsminderung, da unter Berücksichtigung der Art der vorliegenden Störungen auf dem neuro-psychiatrischen Gebiet eine Einschränkung der quantitativen Leistungsfähigkeit nicht festgestellt werden kann. Die beim Kläger vorliegenden psychischen Hinderungsgründe sind nicht von einer solchen krankheitswertigen Bedeutung, dass zum Erfolg führende Therapiemaßnahmen aus rein morbogenen Gründen unterbleiben, wie dies beispielsweise bei einer schwer verlaufenden schizophrenen Psychose angenommen werden kann. Der Senat folgt daher den insoweit in sich schlüssigen Ausführungen von Dr.B. , wonach ein Leistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten in Vollschicht bei Beachtung der genannten Einschränkungen gegeben ist.

Der Senat geht somit in Übereinstimmung mit Dr.B. davon aus, dass der Kläger in der Lage ist, leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig zu verrichten. Der Kläger ist nämlich in der Lage, bei Beachtung der von Dr.B. aufgezeigten Einsatzbeschränkungen Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes regelmäßig und mit einer betriebsüblichen Arbeitszeit von wenigstens 6 Stunden täglich auszuüben.

Auch die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI liegen nicht vor. Der Kläger genießt keinen Berufsschutz, weil er nach seinem beruflichen Werdegang als ungelernter, günstigenfalls als kurzfristig angelernter Arbeitnehmer zu beurteilen und damit uneingeschränkt auf einfache Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar ist. Da der Kläger unter Einbeziehung aller bei ihm festgestellten Gesundheitsstörungen nicht an der Ausübung einer regelmäßigen Ganztagsbeschäftigung gehindert ist, braucht vorliegend eine zustandsangemessene Tätigkeit weder nachgewiesen noch benannt zu werden. Denn solange ein Versicherter in der Lage ist, unter betriebsüblichen Bedingungen vollschichtig und regelmäßig Erwerbsarbeit zu leisten, besteht keine Pflicht der Verwaltung und Gerichte, konkrete Arbeitsplätze und Verweisungstätigkeiten mit im Einzelnen nachprüfbaren Belastungselementen zu benennen. Vielmehr ist in solchen Fällen von einer ausreichenden Zahl vorhandener Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen (BSG SozR 2000 § 1246 Nr 90). Auf entsprechende Tätigkeiten muss sich der Kläger zumutbar verweisen lassen.

Beim Kläger liegen somit die Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung nicht vor. Die Berufung musste daher zurückgewiesen werden.

Abzuweisen war auch der Antrag des Klägers, von Amts wegen ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten zur Abklärung der Gleichgewichtsstörungen, Kopfschmerzen und Schwindelanfälle und ihrer Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit des Klägers einzuholen. Der Senat hält den Sachverhalt in medinischer Hinsicht für hinreichend aufgeklärt. Dies deshalb, weil bereits vom Erstgericht sowohl ein HNO-ärztliches (Dr.M.) und ein augenärztliches Gutachten (Dr.H.L.) eingeholt wurde. Im Vergleich hierzu sind insbesondere auf dem HNO-ärztlichen Gebiet keine wesentlichen Änderungen erkennbar, weder aus dem Befundbericht der behandelnden HNO-Ärztin Dr.A. noch aus dem Vorbringen des Klägers. Auch haben sich aus der Anamneseerhebung bei Dr.B. keine neuen Anhaltspunkte für das HNO-ärztliche Gebiet ergeben mit der Folge, dass sich der Senat gedrängt hätte fühlen müssen, ein weiteres Gutachten von Amts wegen einzuholen. Der vom Senat gehörte ärztliche Sachverständige Dr.B. hat vielmehr darauf hingewiesen, dass die Hauptbeschwerden beim Kläger auf dem neuro-psychiatrischen Gebiet liegen, und er hat die Einholung weiterer Gutachten nicht für notwendig gehalten.

Die Kostenentscheidung nach § 193 SGG beruht auf der Erwägung, dass der Kläger auch im Berufungsverfahren unterlegen war.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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