L 4 KR 141/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 KR 5/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 141/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 19. März 2002 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die freiwillige Versicherung der Klägerin ab 22.03.1999.

Die 1954 geborene Klägerin und ihr Ehemann, von dem sie seit Oktober 1999 geschieden ist, waren privat gegen Krankheit versichert. Die Mutter der Klägerin, die von 1998 bis Anfang August 1999 deren Betreuerin war, war bei der Beklagten vom 01.06.1980 bis 31.12.1999 Mitglied.

Die Klägerin erlitt im Jahr 1998 eine Gehirnblutung. Das Versorgungsamt A. erstellte am 18.02.1999 für die Klägerin einen Schwerbehindertenausweis mit einem GdB von 100 und dem Merkzeichen "B" sowie dem Gültigkeitsvermerk ab 21.10.1998.

Die damalige Betreuerin der Klägerin (ihre Mutter) sprach bei der Beklagten am 22.03.1999 wegen des Beitritts der Klägerin zur freiwilligen Versicherung vor. Dabei wurde ihr - nach Angaben der Beklagten - erklärt, dass die Voraussetzungen für eine freiwillige Versicherung für die Klägerin nicht erfüllt seien. Anfang des Jahres 2000 sprach die Betreuerin bei der Beklagten ein weiteres Mal vor und bat, die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung nochmals zu prüfen; auch bei dieser Vorsprache lehnte die Beklagte eine freiwillige Versicherung ab. Die Beklagte erließ am 02.02.2000 einen schriftlichen Bescheid (ohne Rechtsbehelfsbelehrung), mit dem sie die freiwillige Versicherung der Klägerin mangels Erfüllung der Vorversicherungszeit ablehnte.

Am 22.02.2000 legte der damalige Betreuer Z. der Beklagten eine Anmeldung zur freiwilligen Versicherung auf deren Formblatt vor. Nachdem die Mutter der Klägerin am 25.05.2000 sich bei der Beklagten ein weiteres Mal nach der freiwilligen Versicherung der Klägerin erkundigt hatte, erließ die Beklagte am 30.06.2000 nochmals einen Bescheid, mit dem sie die freiwillige Versicherung für die Klägerin ablehnte. Die Klägerin sei während der Vorversicherungszeit immer privat versichert gewesen, ebenso deren Ehemann. Da eine Familienversicherung für die Klägerin nicht bestanden habe, seien die Voraussetzungen für eine freiwillige Versicherung als Schwerbehinderte nicht erfüllt.

Auf den Widerspruch des damaligen Betreuers vom 28.07.2000 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 07.12.2000 den Rechtsbehelf zurück. Auch wenn die Altersgrenze (vollendetes 50. Lebensjahr) nach der Satzung nicht eingreife, sei die Klägerin als Schwerbehinderte nicht zum Beitritt berechtigt. Sie erfülle die Vorversicherungszeiten weder in ihrer Person noch über ihre Mutter. Während der Mitgliedschaft der Mutter vom 01.06.1980 bis 31.12.1999 habe eine Familienversicherung nicht vorgelegen. Sie sei seit Jahren privat versichert und habe sich damit bewusst von der gesetzlichen Krankenversicherung abgewandt.

Die Klägerin hat mit der Klage vom 05.01.2001, die vom damaligen Betreuer beim Sozialgericht Augsburg (SG) erhoben worden ist, geltend gemacht, der Beitritt zur freiwilligen Versicherung sei fristgemäß erklärt worden und es habe auch die erforderliche Vorversicherungszeit über die Mutter der Klägerin vorgelegen. Die BKK der Stadt A. hätte den Beitritt der Klägerin ermöglicht. Seit 04.07.2001 ist der neue Betreuer der Klägerin Winfried J. R. (G.).

Das SG hat in der mündlichen Verhandlung am 19.03.2002 den früheren Betreuer der Klägerin (Z.), die Mutter der Klägerin und den Mitarbeiter der Beklagten M. als Zeugen unter anderem zu den Beitrittserklärungen der Klägerin und dem Versicherungsschutz in der privaten Krankenversicherung (H.) gehört.

Es hat mit Urteil vom 19.03.2002 die Beklagte verurteilt, die Klägerin ab 22.03.1999 als freiwillig versichertes Mitglied aufzunehmen. Die Voraussetzungen für den Beitritt der Klägerin als Schwerbehinderte, insbesondere die Vorversicherungszeit über die Mutter der Klägerin, seien erfüllt. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei es nicht erforderlich, dass während der geforderten Vorversicherungszeit gleichzeitig eine Familienversicherung bestanden habe. Eine derartige Voraussetzung könne dem Gesetz nicht entnommen werden und die krankenversicherungsrechtliche Literatur lasse auch eine derartige Annahme nicht erkennen.

Hiergegen richtet sie die Berufung der Beklagten vom 19.07. 2002. Die gesetzlich geforderte Vorversicherungszeit bedeute, dass der Schwerbehinderte bei Antragstellung entweder unmittelbar, d.h. durch eine eigene Versicherung, bzw. mittelbar durch die Familienversicherung über den Elternteil mit der Krankenversicherung verbunden sein müsse. Die Erfüllung der Vorversicherungszeit durch den Elternteil könne demnach nur dann zugestanden werden, wenn innerhalb der letzten fünf Jahre vor dem Beitritt mindestens drei Jahre ein grundsätzlicher (fiktiver) Anspruch auf Familienversicherung zum Zeitpunkt der Antragstellung gegeben war. Für die Familienversicherung der Kinder seien jedoch Altersgrenzen vorgesehen, die hier der Familienversicherung entgegenstünden. Eine andere Auslegung der gesetzlichen Regelung würde dazu führen, dass jeder schwerbehinderte Versicherte der privaten Krankenversicherung, dessen Elternteil, Ehegatte oder Lebenspartner gesetzlich krankenversichert sei, zu jedem Zeitpunkt und unabhängig vom Alter der gesetzlichen Krankenversicherung beitreten könne. Die Klägerin habe sich für eine private Krankenversicherung entschieden und damit weder unmittelbar noch mittelbar einen Anspruch auf Familienversicherung gehabt. Es sei bedenklich, eine Kostenverlagerung von einem privaten Krankenversicherungsunternehmen zu Lasten der Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung vorzunehmen, insbesondere im Hinblick auf deren günstige Beiträge.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 19.03.2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Vertreter der Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten der Beklagten und des SG. Auf den Inhalt dieser Akten und die Sitzungsniederschrift wird im Übrigen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG); sie ist durch § 144 Abs.1 SGG nicht beschränkt.

Die Berufung ist unbegründet; das angefochtene Urteil ist nicht zu beanstanden. Das SG hat zu Recht und mit zutreffender Begründung die Beklagte verpflichtet, die Klägerin ab dem Tage des Beitritts zur Krankenkasse, nämlich ab 22.03.1999, als freiwilliges Mitglied zu führen (§ 188 Abs.1 Sozialgesetzbuch V - SGB V). Danach beginnt die Mitgliedschaft Versicherungsberechtigter mit dem Tage ihres Beitritts zur Krankenkasse.

Wie das SG gleichfalls zu Recht festgestellt hat, sind die Voraussetzungen der freiwilligen Versicherung gem. § 9 Abs.1 Nr.4, Abs.2 Nr.4 SGB V erfüllt. Nach dieser, im Zeitpunkt des Beitritts gültigen Fassung können Schwerbehinderte im Sinne des § 1 Schwerbehindertengesetz der Versicherung beitreten, wenn sie, ein Elternteil oder ihr Ehegatte in den letzten fünf Jahren vor dem Beitritt mindestens drei Jahre versichert waren, es sei denn, sie konnten wegen ihrer Behinderung diese Voraussetzung nicht erfüllen; die Satzung kann das Recht zum Beitritt von einer Altersgrenze abhängig machen. Die Klägerin hatte im Zeitpunkt der Anzeige des Beitritts die damals gültige Altersgrenze (Vollendung des 50. Lebensjahres) noch nicht erreicht (§ 7 Abs.2 Satzung der Beklagten).

Der Beitritt ist der Krankenkasse innerhalb von drei Monaten nach Feststellung der Behinderung nach § 4 Schwerbehindertengesetz anzuzeigen. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die damalige Betreuerin der Klägerin (ihre Mutter) hat am 22.03. 1999 - was von der Beklagten auch nicht bestritten wird - den Beitritt der Klägerin innerhalb von drei Monaten nach Feststellung der Behinderung der Klägerin angezeigt. Denn die Behinderung der Klägerin mit einem GdB von 100 wurde am 18.02.1999 festgestellt. Es kommt nach § 9 Abs.2 Nr.4 SGB V auf das Datum der Feststellung und nicht auf den Beginn der Gültigkeit des Schwerbehindertenausweises an.

Die Klägerin erfüllt auch die in § 9 Abs.1 Nr.4 SGB V vorausgesetzte Vorversicherungszeit über ihre Mutter, die vom 01.06. 1980 bis 31.12.1999 bei der Beklagten versichert war. Der Senat ist mit dem SG der Auffassung, dass diese Vorschrift nicht in dem Sinne ausgelegt werden kann, dass während der Vorversicherungszeit eine Familienversicherung zugunsten der Klägerin bestanden haben muss. Eine derartige zusätzliche Voraussetzung ist in dem Wortlaut der Vorschrift nicht enthalten. Sie läßt sich auch nicht aus der Entstehungsgeschichte und dem Normzweck der Vorschrift herleiten. § 9 Abs.1 Nr.4 SGB V in der im vorliegenden Fall anzuwendenden Fassung beruht auf § 176c Reichsversicherungsordnung (RVO). Danach konnten Schwerbehinderte im Sinne § 1 des Schwerbehindertengesetzes innerhalb von drei Monaten nach Feststellung der Schwerbehinderung der Versicherung beitreten, wenn sie, ein Elternteil oder ihr Ehegatte in den letzten fünf Jahren vor dem Beitritt mindestens drei Jahre versichert waren, es sei denn, sie konnten wegen ihrer Behinderung diese Voraussetzungen nicht erfüllen. Satz 2 dieser Bestimmung sah eine Altersgrenze durch eine Satzungsregelung der Krankenkasse vor, die auch heute noch in § 9 Abs.1 Nr.4 SGB V enthalten ist. Ferner schloss § 176c Satz 2 RVO eine Wartezeit für Versicherungsberechtigte (§ 207 RVO) sowie das Beitrittshindernis einer Vorerkrankung und die Möglichkeit einer vorherigen ärztlichen Untersuchung aus (§ 310 Abs.2, 3 RVO). Damit ist die Rechtslage seit Einführung des § 176c RVO bis heute im wesentlichen gleich geblieben. § 9 Abs.1 Nr.4 SGB V in der heute gültigen Fassung ist durch die Anpassung an die Diktion des SGB IX durch das Gesetz vom 19.06.2001 (BGBl I S.1046) geändert worden und ebenso ab 01.08.2001 durch das Lebenspartnergesetz durch Aufnahme des Lebenspartners unter den Kreis der Personen, die die Vorversicherungszeit erfüllen können. Damit wurde entgegen der Ansicht der Beklagten die Beitrittsmöglichkeit erweitert und nicht eingeschränkt.

Sinn und Zweck der Vorgängervorschrift des § 176c RVO hat das Bundessozialgericht im Urteil vom 19.02.1987 (SozR 2200 § 176c Nr.7 = BSGE 61, 169 = USK 8766) erläutert. Die Feststellungen gelten auch für die hier einschlägige Vorschrift des § 9 Abs.1 Nr.4 SGB V. Der Zweck der Vorversicherungszeit besteht weniger in der Einschränkung von Mißbräuchen; denn eine Verschiebung des Beitritts auf einen für den Berechtigten besonders günstigen Zeitpunkt wäre auch bei Erfüllung der Vorversicherungszeit möglich. Mit der Forderung nach vorheriger Zurücklegung einer bestimmten Versicherungszeit vor dem Beitritt wird vielmehr vor allem der Kreis derjenigen, die überhaupt Zugang zur Krankenversicherung haben sollen, enger gezogen. Der eigentliche Grund dieser Einschränkung liegt dementsprechend auch in der Entlastung der Krankenkassen durch Verringerung der Zahl der Beitrittsberechtigten. Hauptziel des KVEG, mit dem § 176c RVO in die zuletzt gültige Fassung geändert wurde, war es, die Leistungsfähigkeit der Krankenkassen zu sichern. Zu diesem Zweck wurde auch das Beitrittsrecht derjenigen eingeschränkt, die als Behinderte ein besonders ungünstiges Risiko in der Krankenversicherung darstellen. Dies ist aber nicht willkürlich geschehen, sondern aus beachtlichen Sachgründen. Das Beitrittsrecht nach § 176c RVO belastet nämlich die Krankenkassen nicht nur mit erheblichen Risiken, sondern betraf, solange der Beitritt keinerlei Vorversicherungszeit erforderte, außerdem häufig versicherungsfremde Personen. Mit der Änderung des § 176c RVO durch das KVEG wurden vom Beitritt diejenigen Fälle ausgeschlossen, in denen weder der Behinderte selbst noch seine Eltern oder sein Ehegatte in den letzten fünf Jahren eine genügend enge (mindestens dreijährige) Beziehung zur gesetzlichen Krankenversicherung hatten. Weitere Einschränkungen sind jedoch nicht ersichtlich.

Die von der Beklagten wegen des hohen Versicherungsrisikos und der geringeren Beitragszahlung zu Recht gesehene zusätzliche Belastung der Versichertengemeinschaft wird begrenzt durch die kurze Anzeigefrist von drei Monaten nach Feststellung der Schwerbehinderung und durch die Möglichkeit der Regelung einer Altersgrenze.

Gegen die Auffassung der Beklagten spricht ferner, dass der Gesetzgeber in § 9 Abs.1 Nr.2 SGB V speziell die freiwillige Mitgliedschaft für Personen geregelt hat, deren Familienversicherung erlischt oder wegen der Voraussetzungen des § 10 Abs.3 SGB V (Mitgliedschaft und Einkommensgrenzen) nicht vorliegt. Es ist damit nicht möglich, die vom Gesetzgeber differenziert geregelten Beitrittsmöglichkeiten zu vermengen und damit deren Voraussetzungen zu verschärfen.

Die Rechtsansicht der Beklagten findet auch in der krankenversicherungsrechtlichen Kommentarliteratur keine Stütze; für die freiwillige Versicherung gem. § 9 Abs.1 Nr.4 SGB V wird eine (fiktive) Familienversicherung innerhalb der Vorversicherungszeit nicht erwähnt (Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band I, Krankenversicherungsrecht, § 17, Rdnr.55; Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, § 9 SGB V, Rn.13; Kasseler Kommentar-Peters § 9 SGB V, Rn.30; Hauck/Haines, SGB V, § 9, Rz. 41; Maaßen/Schirmer/Wiegand/Zipperer, SGB V, § 9, Rn.25).

Peters (Handbuch der Krankenversicherung, SGB V, § 9, Rz.54) führt zu der streitigen Frage zwar aus, dass man den Eltern alle die Personen zuzurechnen habe, die über § 7 mit ihrer Mitgliedschaft zur gesetzlichen Krankenversicherung die Versicherung des Antragstellers begründet haben, weil sie den leiblichen Eltern in der Krankenversicherung gleichgestellt sind und in dieser Form für den Antragsteller haben sorgen können. Hieraus läßt sich aber nichts für die Ansicht der Beklagten ableiten; ebensowenig aus der von Peters vertretenen Ansicht (a.a.O., Rn.57), dass die Vorversicherungszeit auch mit Teilzeiten einer Versicherung des Antragstellers, eines oder mehrerer Elternteile oder eines oder mehrerer Ehegatten erfüllt sein kann.

Da auch die Altersgrenze im vorliegenden Fall nicht greift, ist die Klägerin ab dem 22.03.1999 bei der Beklagten als freiwillig versichertes Mitglied zu führen. Dies hat jedoch auch zur Folge, dass die Klägerin für die Versicherung Beiträge zu entrichten hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs.2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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