L 4 KR 173/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 19 KR 313/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 173/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 17. Juli 2002 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Familienversicherung der beiden schwerbehinderten Brüder des Klägers ab 01.02.2001.

Der 1962 geborene Kläger ist Mitglied der Beklagten. In seinem Haushalt leben seine beiden, seit Geburt schwerbehinderten Brüder K. (geboren 1960) und U. (geboren 1966). Sie werden von der Ehefrau des Klägers versorgt, die auch deren Betreuerin ist. Beide Brüder beziehen Leistungen nach dem SGB XI auf Grundlage der Pflegestufe II bzw. III; außerdem wird für sie Kindergeld gezahlt.

Die Brüder des Klägers waren bis zum Tod ihrer Mutter im Jahr 1995 bei der Innungskrankenkasse mitversichert; anschließend wurden sie freiwillig versichert, wobei die Beiträge zur freiwilligen Versicherung vom Landsratsamt P. (Sozialhilfeverwaltung), dem Beigeladenen zu 1), übernommen wurden. Der Beigeladene zu 1) forderte den Kläger auf, bei der Beklagten die Feststellung der Familienversicherung zu betreiben und kündigte eine Einstellung der Beitragszahlung zum 01.02.2001 an. Nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht München (SG) werden die Beiträge weiterhin vom Sozialhilfeträger übernommen.

Auf den Antrag des Klägers vom 17.01.2001, seine beiden Brüder als Pflegekinder ab 01.02.2001 in die Familienversicherung aufzunehmen - beantragt wurde auf Veranlassung des Beigeladenen zu 1) - erließ die Beklagte am 29.01.2001 einen ablehnenden Bescheid. Von einem Pflegekindschaftverhältnis könne nicht mehr gesprochen werden, wenn es erst im Erwachsenenalter begründet werde; ein Pflegekindschaftverhältnis zwischen Geschwistern sei nur möglich, wenn ein angemessener Altersunterschied vorliege. Hiergegen legte der Kläger ohne Begründung am 12.02.2001 Widerspruch ein.

Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 28.03.2001 den Widerspruch zurück. Die Aufnahme eines Familienangehörigen in die Hausgemeinschaft als Familienmitglied und die persönliche und leibliche Sorge für ihn ergäben allein noch kein Pflegekindschaftsverhältnis. Ein familienähnliches Band wie zwischen Eltern und Kindern sei jedenfalls ausgeschlossen, wenn das Pflegeverhältnis erst im Erwachsenenalter beginne und der Pflegling erheblich älter als der Betreuer sei. Der Widerspruchsführer sei 38 Jahre alt, seine in den Haushalt aufgenommenen pflegebedürftigen Brüder seien 40 und 34 Jahre alt. Sie seien erst nach dem Tod der Mutter vor ungefähr fünf Jahren in den Haushalt aufgenommen worden.

Der Kläger hat hiergegen am 24.04.2001 beim SG Klage erhoben. Die von der Beklagten herangezogene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei nicht mehr einschlägig. Die erforderliche familienähnliche Bindung bestehe ohne Rücksicht auf den fehlenden Altersunterschied, weil die zu betreuenden Geschwister von Geburt an wegen der Behinderung pflegebedürftig seien und der betreuende Geschwisterteil die Stelle der Eltern nach deren Tod eingenommen habe; dies ergebe sich aus steuerrechtlichen Bestimmungen. Der Rechnungsprüfer des Prüfungsverbandes habe dem Sozialamt den Hinweis gegeben, die Feststellung der Familienversicherung auf der Grundlage eines Pflegekindschaftverhältnisses zu beantragen.

Die Beklagte hat dieser Ansicht mit Schriftsatz vom 19.07.2001 widersprochen. Die Rechtsordnung kenne nicht einen einheitlichen Begriff des Pflegekindes, maßgebend sei vielmehr die Funktion im jeweiligen Regelungsbereich. Es sei mit der Zielsetzung der Familienversicherung nicht zu vereinbaren, der Solidargemeinschaft der Krankenversicherten einseitig die gesamtgesellschaftliche Aufgabe aufzubürden, eine kostenfreie Familienversicherung für alle Pflegekinder sicher zu stellen, für die Kindergeld gezahlt werde. Im vorliegenden Fall fehle es insbesondere an einer Eltern-Kind-Beziehung, die auch dann nicht im Erwachsenenalter des zu Pflegenden entstehen könne, wenn dieser in seiner geistigen Entwicklung auf dem Stande eines Kindes zurückgeblieben sei.

Das SG hat mit Urteil vom 17.07.2002 die Klage abgewiesen. Eine Familienversicherung sei aus mehreren Gründen nicht zu Stande gekommen. Zwischen dem Kläger und seinen Brüdern bestehe kein Pflegekindschaftsverhältnis, das durch die äußerlichen Merkmalen einer leiblichen Eltern-Kind-Beziehung geprägt sei. Selbst wenn der Alterunterschied außer Betracht bleibe, fehle es zwischen dem Kläger und seinen beiden Brüdern an einem Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis. Ein derartiges Verhältnis liege allenfalls zwischen der Ehefrau des Klägers als Betreuerin und dessen Brüdern vor. Eine andere Entscheidung sei auch nicht mit Sinn und Zweck der Familienversicherung in Einklang zu bringen. Im Gegensatz zum steuerfinanzierten Kindergeld stelle sich die Familienversicherung als eng begrenzte Leistung des Solidarsystems der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Es handle sich nicht um einen allgemeinen familienpolitschen Lastenausgleich. Ferner scheitere die Aufnahme der Brüder des Klägers in die Familienversicherung auch am Bestehen der freiwilligen Versicherung der Familienangehörigen und an der gesetzlich vorgesehenen Altersgrenze. Das Pflegekindschaftsverhältnis müsse vor Vollendung der in § 10 Abs.2 Nr.1 bis 3 Sozialgesetzbuch V genannten Lebensalter begründet worden sein. Vorliegend habe der Kläger die Verantwortung für die Pflege seiner Brüder nach dem Tode der Mutter im Jahr 1995 übernommen. Zu diesem Zeitpunkt seien die Brüder bereits 27 bzw. 33 Jahre alt gewesen und hätten die gesetzlich vorgesehene Altersgrenzen überschritten.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers vom 04.09.2002.

Er beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 17.07.2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Beigeladenen zu 2) und 3) ab 01.02.2001 in die Familienversicherung als Pflegekinder aufzunehmen.

Die Vertreterin der Beklagten beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Vertreterin der Beigeladenen zu 2) und 3) schließt sich dem klägerischen Antrag an, ebenso der Vertreter des Beigeladenen zu 1).

Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten der Beklagten und des SG. Auf den Inhalt dieser Akten und die Sitzungsniederschrift wird im Übrigen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Der Kläger ist als Mitglied der Beklagten berechtigt, die Feststellung der Familienversicherung seiner beiden Brüder gerichtlich zu betreiben. Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit den Urteilen vom 29.06. 1993 (BSGE 72, 292; BSGE 72, 298) das Rechtsschutzinteresse für die Klage des Mitglieds auf Feststellung der Familienversicherung bejaht. Die Klärung des Versicherungsverhältnisses hat Bedeutung für weitere, zukünftig auftauchende versicherungsrechtliche Fragen. Der Senat hat entsprechend dieser Entscheidung die beiden Familienangehörigen notwendig beigeladen (§ 75 Abs.2 SGG).

Das SG und die Beklagte haben zu Recht entschieden, dass die beiden im Haushalt des Klägers lebenden Brüder nicht familienversichert sind. Nach § 10 Abs.1, 4 Sozialgesetzbuch V (SGB V) sind Kinder, auch Pflegekinder, unter den dort genannten Voraussetzungen familienversichert. Der Senat nimmt zunächst gemäß § 153 Abs.2 SGG auf die zutreffenden Entscheidungsgründe im angefochtenen Urteil insoweit Bezug, als es dort aufgeführt hat, dass die beiden Brüder des Klägers nicht Pflegekinder gemäß § 10 Abs.4 SGB V i.V.m. § 56 Abs.2 Nr.2 Sozialgesetzbuch I (SGB I) sind.

Gegen die Familienversicherung der beiden Brüder des Klägers spricht bereits, dass § 10 Abs.4 Satz 1 SGB V auf § 56 Abs.2 Nr.2 SGB I und nicht auf Nr.3 dieser Vorschrift verweist, die eine ausdrückliche, spezielle Regelung der in den Haushalt des Berechtigten aufgenommenen Geschwister enthält.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung schon vor Einführung der Legaldefinition des § 56 Abs.2 Nr.2 SGB I, wonach Pflegekinder Personen sind, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis in häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind, ein Pflegekindschaftverhältnis unter Geschwistern nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber hierfür die typischen Kriterien einer Eltern-Kind-Beziehung vorausgesetzt hat (BSG vom 14.11.1961 BSGE 15, 239; BSG vom 29.08.1962 BSGE 17, 265). Diese Auffassung wird auch in der Literatur geteilt (z.B. Peters, SGB V, § 10, Rz.73).

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt der Begriff des Pflegekindes ein Verhältnis voraus, das durch ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis gekennzeichnet ist, von einer familienähnlichen ideellen Bindung getragen wird und auf Dauer angelegt wird (im Anschluss an Bundesverwaltungsgericht vom 09.02.1961 II C 169/59). Ein derartiges Verhältnis kann auch zwischen Geschwistern bestehen, es setzt aber bei einem geistig gesunden Pflegekind einen erheblichen Altersunterschied zwischen den Geschwistern voraus und muss schon in der Kindheit des Pflegebefohlenen entstanden sein. Daran hat das BSG im Urteil vom 29.08.1962 (a.a.O.) festgehalten. Es muss eine familiäre Bindung als Grundlage eines Pflegekindschaftsverhältnisses derart gegeben sein, wie sie in der Regel zwischen dem Kind und dem leiblichen Elternteil besteht. Hierfür können die äußerern Umstände der Unterhaltsgewährung und Aufnahme in den Haushalt nicht ausreichen, wenn zwischen dem Aufnehmenden und dem Annehmenden nicht eine dem echten Kindschaftsverhältnis ähnliche, ideelle Bindung besteht, sondern diese nur auf einem andersartigen natürlichen, verwandtschaftlichen Verhältnis beruht (Geschwisterverhältnis). Die wirtschaftliche Fürsorge für Geschwister ist kein hinreichendes Kennzeichen für ein Kindschaftsverhältnis, sondern lediglich ein Hinweis auf die ide- elle Bindung, wie sie auch das Kindschaftsverhältnis voraussetzt. Auch in dieser Entscheidung hat das BSG betont, dass der Pflegebefohlene sich im Zeitpunkt der Begründung des Pflegeverhältnisses in einem Alter befunden haben muss, in dem Pflegekindschaftsverhältnisse üblicherweise begründet werden, regelmäßig also noch im Kindesalter.

Dies bedeutet für den vorliegenden Fall auch unter Berücksichtigung der geistigen Behinderung der Brüder des Klägers, dass das Betreuungsverhältnis erst im Erwachsenenalter der Brüder des Klägers begründet worden ist. Es fehlt somit an dem Autoritätsverhältnis, das nach Auffassung des täglichen Lebens für die Beziehung zwischen Pflegeltern und Pflegkinder - wie für die Beziehung zwischen Eltern und einem leiblichen Kind - wesensnotwendig ist. Die Zahlung von Kindergeld reicht nicht aus, da es auf die gesetzlichen Voraussetzungen in § 10 Abs.4 SGB V ankommt.

Ob die weiteren vom SG dargestellten Gründe dem zu Stande kommen der Familienversicherung entgegen stehen, kann offengelassen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs.2 Nrn.1, 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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