L 2 U 282/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 U 107/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 282/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 24. Juli 2003 und der Bescheid des Beklagten vom 23.02.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. März 2001 werden aufgehoben.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten wegen der Entziehung einer Verletztenrente.

Der Kläger erlitt am 05.04.1995 als Schüler auf dem Heimweg von der Schule einen Unfall mit Frakturen der Beine und des Kiefers. Zur Entscheidung über die Gewährung von Verletztenrente holte die Beklagte ein erstes Rentengutachten von dem Chirurgen Dr.L. vom 19.04.1996 ein, das unter Berücksichtigung von Zusatzgutachten auf kieferorthopädischem und nervenärztlichem Fachgebiet eine gestaffelte unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit zum Ergebnis hatte, zuletzt mit einer MdE um 30 v.H. ab 17.04.1996.

Mit Bescheid vom 24.05.1996 gewährte der Beklagte vorläufige Rente ab 06.04.1995 entsprechend dem Gutachtensergebnis.

In der Folgezeit holte der Beklagte weitere Gutachten des Chirurgen W. mit Zusatzgutachten auf nervenärztlichem Fachgebiet ein. In einem Gutachten vom 10.01.1997 schätzte der Sachverständige die MdE ingesamt weiterhin mit 30 v.H. ein. In einem weiteren Gutachten vom 22.04.1998 fand er wiederum keine wesentliche Änderung und schätzte die MdE weiterhin mit 30 v.H. ein. Der Zusatzgutachter auf neurolgischem Fachgebiet hatte hierbei im Gegensatz zum Vorgutachten wegen einer Besserung keine MdE um 10 v.H. mehr angenommen. Der beratende Arzt der Beklagten sah insoweit zwar eine Besserung, auf chirugischem Fachgebiet sei es aber eher zu einer Verschlimmerung im Vergleich zum ersten neurologischen Gutachten gekommen.

In einem Gutachten vom 24.11.1999 kam der chirurgische Sachverständige zu dem Ergebnis, wegen einer Korrekturosteotomie sei es im Vergleich zu den Verhältnissen in seinem Gutachten vom 22.04.1998 zu einer wesentlichen Besserung gekommen, ab 29.11. 1999 betrage die MdE nur noch 20 v.H.

Nach einem entsprechenden Anhörungsschreiben setzte der Beklagte die Rente mit Bescheid vom 23.02.2000 ab 01.03.2000 auf 20 v.H. der Vollrente herab, weil sich wegen der Korrekturoperation im März 1999 die dem Bescheid vom 25.04.1996 zugrunde liegenden Verhältnisse wesentlich geändert hätten. Den anschließenden Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.03.2001 als unbegründet zurück.

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht zunächst ein Gutachten von dem Orthopäden Dr.E. vom 27.09.2001 eingeholt. Der Sachverständige kommt zu dem Ergebnis, aufgrund des gesteigerten Schenkelhalswinkels am rechten Hüftgelenk mit Seitverlagerung des Hüftkopfes in der Gelenkpfanne sei bei mangelhafter Ausprägung der Gelenkpfanne eine ungünstigere Belastungssituation im Hüftgelenk selbst entstanden, welche bisher nicht berücksichtigt worden sei. Im Bescheid vom 26.05.1996 seien nicht die Fehlstellungen der Großzehe sowie der zweiten Zehe angeführt, ebenso wenig die beginnende Krallenzehenstellung der dritten und vierten Zehe links.

Als wesentliche Änderung der beschriebenen Unfallfolgen könne nur die Korrektur der Knochenfehlstellung am linken Unterschenkel im Sinne einer Besserung, die Fehlstellung der Großzehe und der zweiten Zehe am linken Fuß im Sinne einer Verschlechterung angesehen werden. Nähere Aussagen über den Umfang der Bewegungseinschränkung am linken oberen und unteren Sprunggelenk sowie im Bereich der Zehen seien nicht gemacht worden, also könne hier auch nicht über eine Verbesserung oder Verschlechterung geurteilt werden. Nicht genannt sei bisher die Überstreckbarkeit des linken Kniegelenkes in der Standphase, welche über einen längeren Zeitraum gesehen auch zu einem vermehrten Verschleiß des linken Kniegelenkes führen könne.

Der Sachverständige hat eine unfallbedingte MdE um 25 v.H., später um 20 v.H. angenommen. Ein auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG eingeholtes Gutachten auf neurologischem Fachgebiet hat eine Besserung der Unfallfolgen mit einer MdE unter 10 v.H. erbracht.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat das Sozialgericht die Chirurgen Prof.Dr.B. und Dr.B. von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M. als Sachverständige gehört. Sie schätzen im Ergebnis die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 30 v.H. ein. Ein Besserungsnachweis gegenüber dem Gutachten vom 19.04.1996 gelinge nicht. Die Korrekturosteotomie habe die Beinachsenverhältnisse am linken Unterschenkel zwar der Norm genähert, hinzugetreten seien im Vergleich zum damaligen Gutachten aber Störungen der Beweglichkeit des unteren Sprunggelenkes.

Das Dilemma der Beurteilung bestehe darin, dass die nunmehrigen Untersuchungsbefunde mit den Feststellungen in dem für die Höhe der Rente maßgebenden Gutachten vom 16.04.1996 verglichen werden müssten. In diesem Gutachten seien Angaben zur Drehbeweglichkeit der Hüftgelenke nicht enthalten, während heute deutliche Seitenunterschiede bei der Drehung des Oberschenkels festgestellt werden müssten. Die Bewegungsmöglichkeiten des linken oberen Sprunggelenkes hätten 1996 etwa den heutigen Bewegungsumfängen entsprochen, zu der hochgradigen Teilsteife des unteren Sprunggelenkes sei am 16.04.1996 nur die Feststellung getroffen, dass hier eine seitengleich uneingeschränkte Beweglichkeit bestanden habe. Die vergleichende Umfangmessung habe weitgehend seitenidentische Werte für die Ober- und Unterschenkelmuskulatur ergeben, die Verkürzung des linken Fußes sei noch nicht erwähnt, dagegen seien damals schon die Bewegungsmöglichkeiten der Zehengelenke hochgradig eingeschränkt gewesen.

Mit Urteil vom 24.07.2003 hat das Sozialgericht die Klage als unbegründet abgewiesen. Gestützt auf die Gutachten des Sachverständigen Dr.E. ist es von einer wesentlichen Besserung in den Unfallfolgen ausgegangen, die nunmehr eine MdE um 20 v.H. begründeten.

Im Berufungsverfahren hat der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 24.07.2003 und den Bescheid des Beklagten vom 23.02.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.03.2001 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat den Beklagten mit Schreiben vom 17.03.2004 darauf hingewiesen, dass zunächst unabhängig von der richtigen MdE-Bewertung der Nachweis einer wesentlichen Besserung der dem Bescheid vom 24.05.1996 zugrunde liegenden Verhältnisse erbracht werden müsste. Ein nicht erbrachter Nachweis gehe hier zulasten des Beklagten.

Der Beklagte hat geltend gemacht, dass es durch die Korrekturosteotomie des linken Unterschenkels in funktioneller Hinsicht zu einer deutlichen Besserung der Verletzungsfolgen gekommen sei. Dies sei durch die von ihm gehörten Sachverständigen festgestellt worden. Alternativ zu dem für den Änderungsnachweis maßgeblichen Vorgutachten vom 19.04.1996 könnten auch zwanglos die nur kurze Zeit später am 09.01.1997 erhobenen Befunde der Sachverständigen herangezogen werden.

Zum Verfahren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Akten des Beklagten und die Akte des Sozialgerichts Regensburg in dem vorangegangenen Klageverfahren. Auf ihren Inhalt wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die vom Kläger form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig; eine Beschränkung der Berufung nach § 144 SGG besteht nicht.

Die Berufung ist auch begründet. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Herabsetzung der Verletztenrente haben nicht vorgelegen.

Die durch Zeitablauf nach § 62 Abs.2 Satz 1 SGB VII zur Rente auf unbestimmte Zeit gewordene Entschädigung konnte nur unter den Voraussetzungen des § 48 SGB X herabgesetzt werden. Nach dessen Abs.1 Satz 1 ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Im vorliegenden Fall geht es um eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, nämlich den Folgen des Arbeitsunfalles in Gestalt von Gesundheitsstörungen und damit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen, die für die Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit und damit die Höhe der Verletztenrente maßgeblich sind. Der notwendige Vergleich in den tatsächlichen Verhältnissen, die dem Ausgangsbescheid zugrunde gelegen haben und den Verhältnissen, die die Annahme einer wesentlichen Änderung nach § 48 Abs.1 Satz 1 SGB X begründen können, setzt voraus, dass zu den maßgeblichen Verhältnissen ausreichende Feststellungen getroffen worden sind. Unerheblich ist hierbei, wann die entsprechende Tatsachenfeststellung erfolgt ist. Sie kann, wie dies der Regelfall sein wird, vor Bescheiderteilung geschehen sein, sie kann aber auch im Wege einer späteren Rekonstruktion stattfinden. Hat eine solche ausreichende Tatsachenfeststellung nicht stattgefunden und kann sie auch nicht nachgeholt werden, fehlt es an dem notwendigen Ausgangspunkt für den Vergleich und der Verwaltungsakt darf nicht unter Berufung auf § 48 Abs.1 Satz 1 SGB X aufgehoben werden (vgl. von Wulffen/ Wiesner SGB X § 48 Rdnr.7 m.w.N.).

An einer solchen ausreichenden Tatsachenfeststellung bezüglich der für den Bescheid vom 24.05.1996 maßgeblichen Verhältnisse fehlt es nach den im Klageverfahren gehörten Sachverständigen Dr.E. , Prof.Dr.B. und Dr.B ... Die Sachverständigen stellen fest, dass zu den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers, die als Unfallfolgen für die Beurteilung einer Verschlechterung oder Verbesserung zum Zeitpunkt des nunmehr angefochtenen Bescheides maßgeblich waren, und die vor dem Bescheid vom 24.05.1996 bereits vorgelegen haben mussten, vor letzterem Zeitpunkt keine ausreichenden Feststellungen getroffen worden sind. Die Sachverständigen haben die betreffenden Ausgangsverhältnisse in ihren Gutachten auch nicht durch nachträgliche Erwägungen rekonstruieren können. Die Sachverständigen Prof. Dr.B. und Dr.B. knüpfen bei ihrer Beurteilung zwar hilfsweise an die Begutachtung im Januar 1997 an, um einen Ausgangspunkt für die Frage einer Verbesserung oder Verschlechterung zu gewinnen, sind aber gerade nicht der Auffassung, dass die zu diesem Zeitpunkt festgestellten Verhältnisse die gleichen wären oder sein müssten, wie die für den Bescheid vom 24.05.1996 zugrunde zu legenden Verhältnisse.

Es kann dahingestellt bleiben, ob der Entscheidung BSG SozR 3-1300 § 48 Nr.25 zu folgen ist, wonach eine tatsächliche Vermutung dafür spricht, dass ein Grad der Behinderung, der bei einer späteren Untersuchung geringer ist als bei einer früheren Festsetzung, auf eine Besserung und nicht auf einen Fehler der früheren Festsetzung zurückzuführen ist. Die Entscheidung geht davon aus, dass bei der Bewertung des Grades der Behinderung das Gesetz beachtet und die danach maßgebenden Tatsachen, insbesondere die festgestellten und glaubhaft behaupteten Funktionsbeeinträchtigungen gewürdigt worden sind. Diese tatsächliche Vermutung muss im vorliegenden Fall als widerlegt angesehen werden, denn die Sachverständigen stellen übereinstimmend fest, dass sowohl zu mit Sicherheit vorliegenden Gesundheitsstörungen als auch zu den Funktionsstörungen in deren Folge vor dem Bescheid vom 24.05.1996 keine ausreichenden Feststellungen getroffen worden sind. Im vorliegenden Fall kann deshalb eine Herabsetzung der Verletztenrente nach § 48 SGB X nicht allein darauf gestützt werden, dass die unfallbedingte MdE nunmehr wesentlich niedriger sei, als im Bescheid vom 24.05.1996 zuletzt angenommen.

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG und folgt der Erwägung, dass der Kläger in vollem Umfang obsiegt hat.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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