L 8 AL 140/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 7 AL 1121/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 AL 140/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts München vom 10. Februar 2004 und die Bescheide vom 28. März 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 2001 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Aufhebung der Bewilligung des Arbeitslosengeldes (Alg) für die Zeit vom 16.10.1999 bis 15.11. 2000 und die Erstattung von 25.179,09 EUR streitig.

Der 1940 geborene Kläger war vom 01.03.1967 bis 02.01.1999 als Koordinator beschäftigt. Ihm wurde ab 03.01.1999 Alg in Höhe von wöchentlich 692,16 DM bewilligt. Als Adresse hatte der Kläger in seinem Alg-Antrag "T.weg" in B. angegeben.

Nach einem Aktenvermerk vom 31.10.2000 teilte der Kläger an diesem Tag telefonisch mit, im September 1999 in die S. straße in B. umgezogen zu sein; später gab er als Umzugsdatum den 15. bzw. 16.10.1999 an. Einen Postnachsendeantrag habe er nicht gestellt. In seiner schriftlichen Stellungnahme vom 06.12.2000 zur Anhörung wegen einer bevorstehenden Aufhebung der Bewillung der Leistungen und der Erstattung gab er an, aus persönlichen Gründen noch einen zweiten Wohnsitz in B. , B.straße unterhalten zu haben, weshalb er seine Post immer an der Anschrift T.weg, an der er sich auch regelmäßig aufgehalten habe, in Empfang genommen habe.

Mit Bescheid vom 28.03.2001 hob die Beklagte die Bewilligung des Alg für die Zeit vom 16.10.1999 bis 15.11.2000 auf und forderte die Erstattung von 39.151,32 DM. Mit weiterem Bescheid vom 28.03.2001 forderte sie die Erstattung der KV- und PV-Beiträgen in Höhe von insgesamt 10.094,70 DM.

Mit seinem Widerspruch und bei einer Vernehmung am 12.07.2001 gab der Kläger an, mit seiner Ehefrau bis Oktober 1997 unter der Adresse T.weg gewohnt zu haben. Im Oktober 1997 sei seine Ehefrau in die S.straße umgezogen, während er seinen Wohnsitz am T.weg beibehalten habe. Mit dem Auszug seiner Frau seien sein Sohn und deren Ehefrau sowie die drei Kinder eingezogen, er selbst habe die ausgebaute Kellerwohnung bezogen. Während seiner beruflichen Tätigkeit habe er eine Zweitwohnung in der B.straße in B. gehabt. Im Oktober 1999 sei er schließlich zu seiner Ehefrau in die S.straße umgezogen, habe aber drei bis vier Tage in der Woche in der Wohnung in B. übernachtet. Er habe täglichen Kontakt zu seinem Sohn gepflegt; die beiden Wohnungen seien zehn Gehminuten voneinander entfernt. Da sein Sohn von Geburt an wegen des Fehlens des linken Unterarmes behindert sei und auch die Schwiegertochter an einer chronischen Erkrankung leide, habe er sich überwiegend während des Tages bei seinem Sohn aufgehalten, anfallende Umbau- sowie Gartenarbeiten verrichtet und Kontakt mit den Enkelkindern gepflegt. Das Verhältnis der Tage mit ganztägigem Aufenthalt zu denen mit stundenweisem Aufenthalt am T.weg schätze er mit 55:45 % ein. Er habe die Zustellung der Post unter dieser Adresse auch deshalb veranlasst, weil er vermeiden wollte, dass seine Ehefrau, wie zuvor wiederholt geschehen, die an ihn adressierte Post öffnen könne.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24.07.2001 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Als Umzugstag sei in Ermangelung genauerer Angaben vom 16.10.1999 auszugehen. Den Umzug habe der Kläger nicht rechtzeitig mitgeteilt. Zudem habe er keinen Nachsendeantrag gestellt. Er sei deshalb für das Arbeitsamt erst wieder erreichbar gewesen, nachdem er seine neue Anschrift mitgeteilt habe. Es sei unerheblich, dass er nach seinen Angaben täglich Kontakt zu seinem Sohn und dessen Familie gepflegt habe. Es sei nicht sichergestellt gewesen, dass das Arbeitsamt ihn persönlich unter der von ihm benannten Anschrift habe erreichen können.

Zur Begründung seiner beim Sozialgericht München (SG) erhobenen Klage hat der Kläger auf sein Vorbringen in dem Widerspruchsverfahren verwiesen. Das SG hat mit Urteil vom 10.02.2004 die Klage abgewiesen. Es komme nicht darauf an, ob der Kläger über seinen im T.weg wohnenden Sohn habe erreicht werden können. Maßgeblich sei nicht, dass der Arbeitslose irgendwie erreichbar sei, sondern er müsse gemäß § 1 der Erreichbarkeitsanordnung (EAO) vom zuständigen Arbeitsamt an seinem Wohnsitz täglich erreicht werden können. Dies sei beim Kläger ab 16.10. 1999 nicht mehr der Fall gewesen, denn ab diesem Zeitpunkt habe er seinen Wohnsitz in die S.straße verlegt. Sein Einwand, er habe seinen Sohn fast täglich besucht und sich nach der eingehenden Post regelmäßig erkundigt, führe zu keiner anderen Beurteilung, da hierdurch die unverzügliche Erreichbarkeit an seinem Wohnsitz nicht habe ersetzt werden können.

Mit seiner Berufung macht der Kläger geltend, seinen Sohn und dessen Familie regelmäßig, das heißt mit Ausnahme der Sonntage täglich, aufgesucht zu haben; er sei dort eher zu erreichen gewesen als in der S.straße, wo er sich nur zwei bis drei Tage in der Woche aufgehalten habe.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 10.02.2004 und die Bescheide vom 28.03.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.07.2001 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger habe seinen Umzug in die S.straße nicht mitgeteilt und zudem nicht angegeben, dass er sich die Hälfte der Woche in B. aufgehalten habe. Nachdem auch ein Postnachsendeantrag nicht gestellt worden sei, mit dem gegebenenfalls die tägliche Erreichbarkeit innerhalb der Gemeinde hätte sichergestellt werden können, sei die vorgenommene Aufhebung nicht zu beanstanden.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ein Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 SGG) liegt nicht vor.

Das Rechtsmittel erweist sich auch in der Sache als begründet.

Entgegen der Auffassung der Beklagten und des SG ist durch die Verlegung des Wohnsitzes des Klägers in die S.straße keine wesentliche Änderung in den Verhältnissen im Sinne des § 48 Abs.1 SGB X dahingehend eingetreten, dass der Anspruch auf Alg weggefallen wäre, weshalb die Beklagte zu Unrecht die Bewilligung der Leistung ab diesem Zeitpunkt aufgehoben und die Erstattung der erbrachten Leistungen gefordert hat. Denn der Kläger war nach wie vor arbeitslos im Sinne der §§ 117 Abs.1 Nr.1, 118 Abs.1 SGB III, da er im Sinne des § 119 Abs.1 Nr.2 den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung stand bzw. im Sinne des § 119 Abs.3 Nr.3 SGB III in der Lage war, Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge zu leisten. Zutreffend hat das SG dargelegt, dass die mit diesen Vorschriften verbundene Forderung der Erreichbarkeit auch für den Kläger galt, obwohl er von der Möglichkeit des Alg-Bezuges unter erleichterten Voraussetzungen gemäß § 428 Abs.1 Satz 1 SGB III Gebrauch machte und deshalb nicht arbeitsbereit sein und nicht alle Möglichkeiten nutzen musste, um seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden (vgl. BSG, NZS 1996, 534).

Gemäß § 1 Satz 2 der Erreichbarkeits-Anordnung (EAO) vom 23.10. 1997 (ANBA 1997, S.1685), erlassen aufgrund der Ermächtigung der §§ 152 Nr.2, 376 Abs.1 Satz 1 SGB III, hat der Arbeitslose sicherzustellen, dass das Arbeitsamt ihn persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der von ihm benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann. Zwar weisen die Beklagte und das SG zu Recht darauf hin, dass der Kläger in dem streitigen Zeitraum seinen Wohnsitz nicht in dem Haus am T.weg in B. hatte, sondern zum Teil in der S.straße in B. und in der B.straße in B ... Jedoch stellt § 1 Abs.1 Satz 2 EAO auch auf den gewöhnlichen Aufenthalt ab. Im Falle des Klägers fielen Wohnsitz einerseits und gewöhnlicher Aufenthalt andererseits, jedenfalls was die Zeit der üblichen Postzustellung im Laufe des Tages betrifft, dahingehend auseinander, dass sich der Kläger in dieser maßgeblichen Zeit nach seinen glaubhaften Angaben regelmäßig an der Anschrift T.weg aufgehalten hat und somit sowohl die eingehende Post persönlich entgegennehmen als auch von Bediensteten der Beklagten persönlich angetroffen werden konnte. Eine Erreichbarkeit in diesem Sinne unter der der Beklagten bekannt gegebenen Anschrift sozusagen zu jeder Tages- und Nachtzeit ist weder praktisch möglich noch durch § 1 Abs.1 Satz 2 EAO gefordert.

Gemäß § 30 Abs.3 Satz 2 SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Für die Annahme des gewöhnlichen Aufenthaltes in diesem Sinne genügt die bloße Tatsache des Verweilens von einer gewissen Dauer und Regelmäßigkeit, ohne dass der Wille erforderlich ist, an diesem Ort den Daseinsmittelpunkt zu begründen (vgl. von Maydell in Kretschmer/von Maydell/Schellhorn, SGB I, 3. Auflage, Rdnr.43 zu § 30). Diese Vorschrift dient in erster Linie dazu, den Personenkreis zu bestimmen, auf den dieses Gesetzbuch anzuwenden ist. Eine Übertragung der in dieser Vorschrift geregelten Begriffe des Wohnsitzes und gewöhnlichen Aufenthaltes auf die Vorschrift des § 1 Abs.1 Satz 2 EAO hat zwangsläufig den mit letzterer Vorschrift verfolgten Zweck, an dem sich deren Auslegung letztlich zu orientieren hat, Rechnung zu tragen. Aus der Darstellung des Klägers ergibt sich in der Tat, dass die Erreichbarkeit im Sinne des § 1 Abs.1 Satz 2 EAO unter der Adresse T.weg in ausreichendem Maße gegeben war.

Selbst wenn man dem nicht folgen und eine Erreichbarkeit in diesem Sinne an der Adresse T.weg verneinen wollte, könnte dem Kläger keine grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 48 Abs.1 Satz 2 Nrn.2 und 4 SGB X entgegengehalten werden. Zwar wird in dem ihm bei Arbeitslosmeldung übergebenen Merkblatt darauf hingewiesen, dass ein Umzug anzuzeigen ist, und zwar auch ein solcher innerhalb desselben Wohnortes. Jedoch fehlt eine Erläuterung des Begriffes des gewöhnlichen Aufenthaltes und ein Hinweis, dass bzw. ob bei einem Wohnungsumzug der gewöhnliche Aufenthalt im Sinne des § 1 Abs.1 Satz 2 EAO bestehen bleiben kann. Angesichts der Kompliziertheit der anzuwendenden Vorschriften und der Vielfalt der zu den Begriffen des Wohn- sitzes und gewöhnlichen Aufenthaltes vertretenen Meinungen (vgl. von Maydell, a.a.O., Rdnrn.35 ff., Hauck/Haines, SGB I, Rdnrn.10 ff. zu § 30) kann einem Arbeitslosen nicht grobe Fahrlässigkeit entgegengehalten werden, wenn er diese Begriffe ohne eingehende Erläuterung falsch interpretiert.

Somit waren auf die Berufung des Klägers das Urteil des Sozialgerichts München vom 10.02.2004 und die Bescheide der Beklagten vom 28.03.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.07.2001 aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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