L 18 U 271/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 U 123/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 U 271/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 19.05.2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob ein von der Klägerin erlittener Verkehrsunfall als Wegeunfall anzuerkennen und zu entschädigen ist.

Die 1982 geborene Klägerin verunfallte am Sonntagmorgen des 14.04.2002 im Spessart auf der Fahrt von R. (R) nach J. (J). Sie hatte sich von Freitag bis Sonntag bei ihrem Freund in R aufgehalten. Am Sonntagmorgen wollte sie zu ihren Eltern nach Hause fahren, um - wie üblich - in deren Gastwirtschaft auszuhelfen. Bei dem Unfall erlitt sie einen Beckenbruch, eine Prellung und ein Hämatom der Lunge sowie einen Milzverlust.

Auf Anfrage der Beklagten ließ die Klägerin angeben, ihr Lebensmittelpunkt sei in J gewesen. Bei ihrem Freund halte sie sich seit ca. einem Jahr (an Wochenenden) auf. Von Montag bis Freitag wohne sie bei ihren Eltern und fahre täglich von J nach A. zu ihrer Ausbildungsstelle. Mit Bescheid vom 26.11.2002 lehnte die Beklagte eine Entschädigung des Unfalles als Arbeitsunfall ab. Sie führte im Wesentlichen aus, der Weg zur Arbeitsstätte am Unfalltag unterscheide sich so erheblich von dem üblichen Weg nach und von der Arbeitsstätte, dass er nicht mehr rechtlich wesentlich von dem Vorhaben geprägt gewesen sei, sich zur Arbeit zu begeben. Der notwendige Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit sei nicht mehr gegeben. Die Risikoerweiterung des normalen Arbeitsweges von einigen Metern auf 32 km sei unverhältnismäßig. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13.03.2003).

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Würzburg hat die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verpflichten, den Unfall vom 14.04.2002 als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Grunde nach zu entschädigen. Sie hat geltend gemacht, der Weg von R nach J sei ausnahmslos von dem Vorhaben bestimmt gewesen, die versicherte Tätigkeit aufzunehmen. Damit bestehe ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit. Es sei nicht sachgerecht, den inneren Zusammenhang deswegen abzulehnen, weil die Fahrt von 32 km eine Risikoerweiterung im Verhältnis zum normalen Arbeitsweg von wenigen Metern dargestellt habe. Im Rahmen der Abwägung sei zu beachten, dass sie die beabsichtigte Tätigkeit regelmäßig sonntags im Gaststättenbetrieb ihrer Eltern erbracht habe.

Mit Urteil vom 19.05.2004 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe im Elternhaus in J ihre Familienwohnung und ihren Lebensmittelpunkt gehabt. Der Weg von R nach J habe in keinem Verhältnis zu dem üblichen Arbeitsweg von wenigen Metern (im Haus der Eltern) gestanden. Erholungsfahrten in andere Ortschaften seien vom Versicherungsschutz ausgeschlossen.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt und geltend gemacht, der Weg von ihrem Freund zurück zu ihrer Wohnung sei durchaus als "üblich" anzusehen, da sie ihren Freund über einen längeren Zeitraum hinweg regelmäßig besucht habe. Es sei nicht einsehbar, dass sie dadurch benachteiligt werden solle, da sie im Rahmen ihrer privaten Lebensführung regelmäßig ihren Freund aufsuche, mit welchem sie in einer festen Beziehung lebe und von dessen Wohnung aus sie zu ihrer Arbeitsstelle fahre. Bei der Entfernung von 32 km könne auch nicht von einer "ungewöhnlichen Entfernung" ausgegangen werden. Da gemäß § 8 Abs 2 Nr 4 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) bei Bestehen einer Unterkunft auch der Weg von und zur Familienunterkunft geschützt werde, seien die dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Beweggründe für die Fahrt zur Familienwohnung außer Acht zu lassen.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Würzburg vom 19.05.2004 und des Bescheides vom 26.11.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2003 zu verurteilen, den Unfall vom 14.04.2002 als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Grunde nach zu entschädigen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 19.05.2004 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, aber unbegründet. Sie hat am 14.04.2002 keinen versicherten Arbeitsunfall (Wegeunfall) erlitten.

Gemäß § 8 Abs 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer dem Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherte Tätigkeiten sind gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit.

Die Klägerin stand nicht nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII unter Unfallversicherungsschutz. Danach ist - wie nach der Vorgängervorschrift des § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) - der Versicherungsschutz für die Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit nicht auf die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte beschränkt. Die Vorschrift verlangt nur, dass die Arbeitsstätte Ziel oder Ausgangspunkt des Weges ist; der andere Grenzpunkt des Weges ist - nach wie vor - gesetzlich nicht festgelegt (BSG SozR 3-2700 § 8 Nr 13 = Breith 2003, 217 - 223 unter Verweisung auf SozR 3-2200 § 548 Nr 39 mwN). Der Gesetzgeber hat aber nicht schlechthin jeden Weg unter Versicherungsschutz gestellt, der zur Arbeitsstätte hinführt oder von hier aus begonnen wird. Vielmehr ist es auch nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII darüber hinaus erforderlich, dass der Weg mit der Tätigkeit in dem Unternehmen (rechtlich) zusammenhängt, d.h. dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Weg und der Tätigkeit in dem Unternehmen besteht. § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII verlangt insoweit ausdrücklich, dass das Zurücklegen des Weges mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängen muss. Dieser innere Zusammenhang setzt voraus, dass der Weg, den der Versicherte zurücklegt, wesentlich dazu dient, den Ort der Tätigkeit oder nach deren Beendigung - in der Regel - die eigene Wohnung oder einen anderen Endpunkt des Weges von dem Ort der Tätigkeit zu erreichen. Maßgebend ist dabei die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalles bestätigt wird (BSG SozR 3-2700 § 8 Nr 13 mwN). Fehlt es aber an einem solchen inneren Zusammenhang, scheidet ein Versicherungsschutz selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf der selben Strecke ereignet, die der Versicherte auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit gewöhnlich benutzt (BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 4 mwN = Breith 1992, 200 - 203). Für die tatsächlichen Grundlagen des Vorliegens versicherter Tätigkeit muss der volle Beweis erbracht werden, das Vorhandensein versicherter Tätigkeit als sicher feststehen (vgl BSG SozR 2200 § 548 Nr 70 = Breith 1985, 743 - 746 und SozR 2200 § 548 Nr 84 mwN = Breith 1987, 833 - 837), während für die kausale Verknüpfung zwischen ihr und dem Unfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt (BSG SozR 2200 § 555a Nr 1 mwN = Breith 1985, 664 - 667).

Die Klägerin befand sich im Unfallzeitpunkt auf dem Weg von der Wohnung des Freundes in R zu der Gaststätte ihrer Eltern in J. Nach der Dauer des Aufenthalts in der Wohnung des Freundes in R mit Übernachtung ist dieser Ausgangspunkt des Weges der Klägerin zur Arbeitsstätte als sogenannter "dritter Ort" anzusehen. Der "dritte Ort" tritt in diesem Fall funktional an die Stelle des häuslichen Bereichs der Klägerin in J (BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 18 = Breith 1999, 289 - 293).

Allein deswegen kann die Klägerin im Unfallzeitpunkt allerdings nicht als versichert angesehen werden. Wenn nicht der häusliche Bereich, sondern ein "dritter Ort" der Ausgangspunkt bzw Endpunkt des nach oder von dem Ort der Tätigkeit angetretenen Weges ist, ist für den inneren Zusammenhang entscheidend, ob dieser Weg noch von dem Vorhaben des Versicherten rechtlich wesentlich geprägt ist, sich zur Arbeit zu begeben oder von dieser zurückzukehren (vgl BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 5 = Breith 1992, 631 - 635, BSG aaO Nr 13 und SozR 3-2700 § 8 Nr 6, alle mwN) oder davon rechtlich wesentlich geprägt ist, einen eigenwirtschaftlichen Besuch am "dritten Ort" abzuschließen (BSG SozR 3-2700 § 8 Nr 6 mwN = Breith 2001, 778 - 782). Darüber- hinaus muss ein nicht von oder nach der Wohnung angetretener Weg nach Sinn und Zweck des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII grundsätzlich unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit stehen (vgl BSG SozR 3-2700 § 8 Nr 13 = Breithaupt 2003, 217 - 223 mwN).

Im Rahmen der Wertung der Prägung des unfallbringenden Weges berücksichtigt die neuere Rechtsprechung des BSG anders als die frühere, die stärker auf die unterschiedlichen Entfernungen an sich zwischen Wohnung und Arbeitsstätte einerseits und "drittem Ort" und Arbeitsstätte andererseits abstellte, zwar weiterhin die genannten Entfernungen, misst ihnen aber ausdrücklich nicht die allein entscheidende Bedeutung bei und verlangt, dass die Umstände des jeweiligen Einzelfalles stärker zu berücksichtigen sind (BSG aaO mwN). Dabei kommt insbesondere der Frage eine besondere Bedeutung zu, ob am "dritten Ort" Verrichtungen des täglichen Lebens erledigt wurden oder werden sollten, die keinerlei Bezug zur versicherten Tätigkeit an sich haben, oder ob es sich um Verrichtungen handelt, die zumindest mittelbar auch dem Betrieb zugute kommen sollen, wie z.B. dringende Arztbesuche zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit (BSG aaO). Diese betriebsbezogenen Umstände beeinflussen zwar nicht die Beurteilung der Angemessenheit des Weges vom "dritten Ort", können ihn aber iS einer Betriebsdienlichkeit prägen (BSG SozR 3-2700 § 8 Nr 6). Es kann hier nicht jeder Zweck des Aufenthaltes am "dritten Ort", der in irgendeiner mittelbaren Weise auch dem Betrieb zugute kommen könnte, ausreichen, sondern die betreffende Verrichtung muss sich zumindest unmittelbar auf die "körperliche und/oder geistige" Leistungsfähigkeit, die für die versicherte Tätigkeit benötigt wird, in positiver Weise auswirken und so mittelbar dem Betrieb nutzen. Dabei müssen im Interesse einer hinreichend klaren Grenzziehung und zur Vermeidung einer mit dem Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung nicht mehr zu vereinbarenden Ausweitung des Wegeunfallversicherungsschutzes von vorneherein in einer generalisierenden Betrachtung solche Verrichtungen am "dritten Ort" ausscheiden, die nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht primär zur Wiederherstellung, Aufrechterhaltung oder Verbesserung der für die versicherte Tätigkeit benötigten körperlichen und/oder geistigen Leistungsfähigkeit, sondern lediglich der geistigen Anregung, der Entspannung oder etwa der Aufrechterhaltung zwischenmenschlicher Beziehungen dienen sollen, mögen diese auch mittelbar das körperliche bzw geistige Wohlbefinden heben und so auch die Leistungsfähigkeit verbessern (aaO).

Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Sachverhalt kann ein innerer Zusammenhang der Fahrt von R nach J mit der beabsichtigten Tätigkeit nicht angenommen werden. Zum einen stehen die zu beurteilenden Entfernungen von wenigen Metern von der Wohnung in J zur Gaststätte im gleichen Haus und von 32 km zwischen dem "drittem Ort" und der Gaststätte nicht in einem angemessenen Verhältnis zueinander. Zwar hat das BSG bisher keine festen Vorgaben dafür aufgestellt, wann das Verhältnis der beiden Strecken nicht mehr als angemessen anzusehen ist, jedoch ist die Grenze zur Unangemessenheit schon bei einem Zehnfachen der üblichen Entfernung nach der Verkehrsanschauung deutlich überschritten (aaO). Zum anderen war der Aufenthalt der Klägerin am "dritten Ort" nicht hinreichend betriebsbezogen, sondern eigenwirtschaftlich geprägt. Zwar mag die Beziehung der Klägerin zu ihrem Freund ihrer "emotionalen Stabilität" dienen. Dies stellt aber gerade eine Verrichtung dar, die primär der Aufrechterhaltung zwischenmenschlicher Beziehungen dienen soll, und - wenn auch geeignet, mittelbar in irgendeiner Weise das körperliche bzw geistige Wohlbefinden zu heben und so auch die Leistungsfähigkeit zu verbessern - nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht primär zur Wiederherstellung der Aufrechterhaltung oder Verbesserung der für die versicherte Tätigkeit benötigten körperlichen und/oder geistigen Leistungsfähigkeit unternommen wird.

Die Vorschrift des § 8 Abs 2 Nr 4 SGB VII ist vorliegend nicht einschlägig. Nach dieser Vorschrift sind versicherte Tätigkeiten auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben. Ein Sachverhalt, der zu einer Anwendung des § 8 Abs 2 Nr 4 SGB VII führen würde, liegt entgegen den Ausführungen des Sozialgerichts und des Bevollmächtigten der Klägerin nicht vor. Die Wohnung des Freundes in R stellte keine Unterkunft am Ort der Tätigkeit oder in dessen Nähe dar.

Nach alldem war die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision iS des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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