L 10 AL 291/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 AL 243/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 10 AL 291/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 22.06.2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist im Rahmen eines Zugunstenverfahrens die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) und Arbeitslosenhilfe (Alhi) und die Pflicht zur Erstattung überzahlter Leistungen sowie überzahlter Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 44.698,96 EUR für die Zeit vom 22.05.1998 bis 31.05.2001.

Der am 1945 geborene Kläger war bis 31.03.1998 als Vorarbeiter (Kraftwerker) bei der Firma E. tätig. Am 26.03.1998 meldete er sich unter der Adresse F.str. 16 in N. persönlich arbeitslos und beantragte Alg. Die Beklagte bewilligte dieses nach amtsärztlicher Untersuchung am 04.06.1998 ab 22.05.1998 für 789 Tage unter Berücksichtigung einer vom Kläger erhaltenen Abfindung (Bescheid vom 08.07.1998). Nach Erschöpfung des Anspruches auf Alg beantragte der Kläger unter derselben Adresse am 16.06.2000 Alhi, die ihm mit Bescheid vom 14.09.2000 für die Zeit vom 19.07.2000 bis 18.07.2001 gewährt wurde.

Während dieser Zeit meldete sich der Kläger am 26.03.1998, 26.06.1998, 28.09.1998, 29.03.1999, 29.09.1999, 29.03.2000, 04.09.2000 und 15.03.2001 persönlich arbeitslos. Am 26.06.2001 gab er telefonisch an, ab 27.04.2001 nach Griechenland ausgereist zu sein. Am 04.09.2001 teilte er der Beklagten mit, aus dem Leistungsbezug abgemeldet bleiben zu wollen. Seine Ausreise habe er am 14.05.2001 mitgeteilt.

Mit Veränderungsmitteilung vom 30.09.2000 hatte der Kläger als neue Wohnanschrift angegeben: V.str. in N ...

Nach einem anonymen Hinweis auf einen Aufenthalt in Griechenland befragte die Beklagte den unter der vom Kläger angegebenen Wohnanschrift V.str. 13 wohnenden Zeugen (A) und den dortigen Hausmeister (D). Beide erklärten, der Kläger habe dort nicht gewohnt. Die im Briefkasten des A - auf diesem steht auch der Name des Klägers - befindliche Post für den Kläger würde A an D weitergeben, der den Kläger telefonisch informierte. Die Zeugin (M), wohnhaft in der F.str. 16 in N. und Eigentümerin des dortigen Anwesens, gab bei ihrer Befragung am 26.06.2001 an, der Kläger habe dort nicht gewohnt. Er habe sie aber gebeten, die Adresse als Postanschrift angeben zu dürfen. Wo er sich aufgehalten habe, wisse sie nicht, er habe in Abständen von zwei bis drei Monaten Post abgeholt. Die Zeugin (S) führte aus, der Kläger sei nach Griechenland ausgewandert. Die Zeugin M habe seine Post öffnen und ihm Termine mitteilen sollen. Sie selbst sei von ihm sogar gebeten worden, Termine bei der Beklagten abzusagen und sich dabei als seine Ehefrau auszugeben. Dies habe sie nicht getan. Der Kläger sei dann aus Griechenland angereist und habe sich rückwirkend krank schreiben lassen.

Angehört hierzu erklärte der Kläger, er habe das Merkblatt 1 für Arbeitslose erhalten, aber nicht verstanden. Er sei Mitte September 1997 nach Griechenland gereist und habe seinen Haushalt in N., K.str. 28, aufgelöst. Als Postanschrift habe er die Adresse der Zeugin M angegeben. Da er das Klima in Griechenland nicht vertragen habe, sei er im März 1998 wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Seine Ehefrau, eine Griechin, sei pflegebedürftig und sei in Griechenland geblieben. Die Zeugin M habe ihn über eingehende Post informiert. Er habe hier und dort übernachtet, bis er eine Bekanntschaft gemacht habe. Er sei aber immer in N. gewesen. Wegen eines tragischen Unfalles sei er am 27.04.2001 nach Griechenland gefahren. Dies habe er auch der Beklagten mitgeteilt und erklärt, er melde sich wieder, wenn er von dort zurückkehren könne (wohl im September). Vor dem 27.04.2001 sei er zweimal in Griechenland gewesen, allerdings nur zwei Wochen. Bei wem er sich in Deutschland aufgehalten habe, werde er nicht sagen, er sei aber immer pünktlich zu Meldeterminen erschienen.

Laut den Angaben des Einwohnermeldeamtes N. war der Kläger vom 09.10.1959 bis 09.09.1997 in der K.str. 28, vom 09.09.1997 bis 28.09.2000 in der F.str. 16 und vom 28.09.2000 unter V.str. 13 gemeldet.

Daraufhin nahm die Beklagte die Bewilligung von Alg ab 22.06.1998 (zutreffend: 22.05.1998) sowie von Alhi ab 19.07.2000 ganz zurück und forderte die Erstattung überzahlter Leistungen einschl. überzahlter Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 44.698,93 EUR (Bescheid vom 01.08.2002). Der Kläger habe seit 22.06.1998 sich außerhalb des Nahbereiches des Arbeitsamtes Nürnberg aufgehalten und sei damit nicht verfügbar gewesen. Den Widerspruch hiergegen nahm der Kläger zurück.

Am 13.12.2002 beantragte der Kläger die Überprüfung des Bescheides vom 01.08.2002. Er habe sich jeweils rechtzeitig bei der Beklagten gemeldet und sei arbeitslos gewesen. Laut Angaben der Beklagten sei er nicht vermittelbar gewesen. Mit Bescheid vom 22.01.2003 wies die Beklagte den Antrag ab. Eine Überprüfung habe ergeben, dass der Bescheid vom 01.08.2002 nicht zu beanstanden sei. Den Widerspruch dagegen begründete der Kläger damit, er habe sich wegen seiner gesundheitlichen Beschwerden, die zur Zuerkennung einer Rente wegen Erwerbsminderung geführt hätten, nur alle sechs Monate melden müssen. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.03.2003 zurück.

Zur Begründung der dagegen zum Sozialgericht Nürnberg erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen: Im Rahmen eines wegen der Streitsache durchgeführten Strafverfahrens (Az: 45 Ds 206 Js 23404/02) habe der dortige Richter der Beklagten aufgegeben, eine neue Berechnung vorzunehmen; dies sei von der Bklagten auch zugesichert worden. Der für das Vergehen des Betruges erforderliche Vorsatz sei nur für den tatsächlichen Aufenthalt in Griechenland gegeben. Im Übrigen sei der Kläger nie länger als zwei Wochen nicht verfügbar gewesen. Der Kläger hat einen Brief an die Beklagte vom 10.07.2001 vorgelegt, in dem er erklärt, bei der Zeugin M hätte er aus persönlichen Gründen nicht übernachten können.

Das SG hat mit Urteil vom 22.06.2004 die Klage abgewiesen. Die Rücknahme der von Anfang an zu Unrecht erfolgten Bewilligung von Alg und Alhi sei rechtmäßig. Der Kläger habe nie unter der angegebenen Adresse F.str. 16 bzw. V.str. 13 gewohnt. Dies hätten die Zeugen übereinstimmend bestätigt. Er habe dafür gesorgt, dass die dort eintreffende Post an ihn weitergeleitet würde bzw. er hierüber informiert werde und habe über die Zeugin S bzw. über eine nachträglich ausgestellte AU-Bescheinigung versucht, eine Entdeckung zu vermeiden. Er sei nicht verfügbar gewesen, denn er habe nie unter der angegebenen Wohnanschrift gewohnt. Seine gesundheitlichen und damit zeitlichen Einschränkungen habe er bei der Arbeitslosmeldung nicht angegeben. Die Beklagte habe an ihn Leistungen unter Berücksichtigung vollschichtiger Einsatzfähigkeit erbracht. Der Kläger habe dies akzeptiert. Zweifelhaft sei, dass er sich in Deutschland bei einer Bekannten aufgehalten haben will, obwohl er gleichzeitig seine Ehefrau in Griechenland gepflegt haben will. Auch bei Annahme der erleichterten Leistungsvoraussetzung des § 428 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III), die aber nicht vorlägen, hätte er erreichbar sein und die Beklagte bei einem Auslandsaufenthalt verständigen müssen. Der Kläger habe durch arglistige Täuschung Leistungen der Beklagten erwirkt. Er sei auch vor dem Strafgericht geständig gewesen. Zumindest aber habe er grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unzutreffende Angaben gemacht, obwohl er durch das ausgehändigte Merkblatt, das er verstanden habe, auf die Notwendigkeit zutreffender Angaben hingewiesen worden sei. Die Höhe der Erstattungsforderung sei korrekt. Der Kläger sei nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses nach Griechenland ausgewandert.

Dagegen hat der Kläger Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt und um ein faires Verfahren gebeten. Laut arbeitsamtsärztlicher Untersuchung sei er nicht vermittelbar gewesen. Die Beklagte hätte ihm zur Rentenantragstellung raten müssen, er sei nicht vermittelbar gewesen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 22.06.2004 sowie den Bescheid vom 01.08.2002 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt (keinen Antrag gestellt), die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Akte der LVA Oberfranken/Mittelfranken und des Amtsgerichts Nürnberg - Strafabteilung - Ds 206 Js 23404/02 sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig, aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Der Bescheid vom 01.08.2002 ist nicht zu beanstanden und von daher auch nicht im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens zurückzunehmen. Der Kläger war spätestens vom 22.05.1998 bis 31.05.2001 nicht verfügbar.

Das Rücknahmebegehren findet in § 44 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) keine Rechtsgrundlage. Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltunsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Bei dem zu überprüfenden Bescheid vom 01.08.2002 handelt es sich um einen Bescheid, auf Grund dessen Sozialleistungen nicht erbracht worden sind, denn die vorausgegangenen Leistungsbewilligungen sind mit diesem aufgehoben und überzahlte Leistungen zurückgefordert worden. Diese Situation ist einem Nichterbringen von Leistungen gleichzusetzen. § 44 Abs 2 SGB X greift daher nicht ein.

Der Bescheid vom 01.08.2002 ist aber rechtmäßig. Rechtsgrundlage für diesen Bescheid stellt § 45 Abs 1, Abs 2 Satz 3 SGB III iVm § 330 Abs 2 SGB III dar. Hiernach ist ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X) oder der Betroffene die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kanne oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X).

Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Bewilligungsbescheide vom 08.07.1998 und 14.09.2000 sind von Anfang an rechtswidrig gewesen. Dabei ist nach der amtsärztlichen Untersuchung vom 04.06.1998 die Beklagte zu Recht von einer noch bestehenden vollschichtigen Einsetzbarkeit des Klägers ausgegangen; die zuletzt ausgeübte Tätigkeit war ihm allerdings nicht mehr möglich. Zur Rentenantragstellung war der Kläger daher nicht aufzufordern, wobei diese Aufforderung nicht dazu dient, den Arbeitslosen von der Notwendigkeit der Erreichbarkeit zu befreien, soweit er noch als vermittelbar anzusehen ist.

Dem Kläger hat vom 22.05.1998 bis 31.05.2001 keine Leistung zugestanden, denn er hat von Anfang an die Bewilligungsbescheide durch falsche Angaben über seine Post- und Wohnanschrift erwirkt bzw. er hat die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung gekannt. Der Kläger hat bei seiner Antragstellung am 22.03.1998 und 16.06.2000 sowie bei der Veränderungsmitteilung vom 30.09.2000 jeweils eine Wohn- und Postanschrift angegeben, unter der er nicht persönlich erreichbar war und auch nicht gewohnt hat. Er stand somit ab 22.05.1998 der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung, denn Anspruch auf Alg bzw. Alhi hat nur, wer u.a. arbeitslos ist (§ 117 Abs 1 Nr 1 SGB III iVm §§ 190 Abs 1, 198 Satz 2 SGB III). Arbeitslos ist aber nur, wer u.a. eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung sucht (§ 118 Abs 1 Nr 2 SGB III). Eine Beschäftigung sucht, wer u.a. den Vermittlungsbemühungen der Beklagten zur Verfügung steht (§ 119 Abs 1 Nr 2 SGB III), d.h. wer arbeitsfähig und arbeitsbereit ist. Arbeitsfähig ist, wer u.a. den Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann und darf (§ 119 Abs 3 Nr 3 SGB III). Die Pflichten des Arbeitslosen, Vorschlägen der Beklagten zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge zu leisten, sind in der Erreichbarkeitsanordnung (EAO) vom 23.10.1997 (ANBA 1997, 1695) geregelt, die auf der Anordnungsermächtigung des § 152 Nr 2 SGB III beruht (vgl hierzu: BSG SozR 3-4300 § 119 Nr 3). Gemäß § 1 Abs 1 Satz 1 EAO kann den Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten, wer in der Lage ist, unverzüglich (1.) die Mitteilungen des Arbeitsamtes zur Kenntnis zu nehmen, (2.) das Arbeitsamt aufzusuchen, (3.) mit einem möglichen Arbeitgeber oder Träger einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme in Verbindung zu treten und bei Bedarf persönlich mit diesem zusammenzutreffen und (4.) eine vorgeschlagene Arbeit anzunehmen oder an einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme teilzunehmen. Diese Regelungen der Erreichbarkeit des Arbeitslosen sind erfüllt, wenn er sich einmal werktäglich in seiner Wohnung aufhält, um Briefpost in Empfang und zur Kenntnis zu nehmen (BSG SozR 3-4300 § 119 Nr 2 mwN). Im Übrigen kann sich der Arbeitslose außerhalb seiner Wohnung aufhalten.

Der Arbeitslose hat dabei sicherzustellen, dass das Arbeitsamt ihn persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der von ihm benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann (§ 1 Abs 1 Satz 2 EAO). Bei der Frage der Erreichbarkeit handelt es sich um eine objektive Voraussetzung für den Anspruch auf Alg bzw. Alhi, so dass unerheblich ist, ob dem Arbeitslosen an der Nichterreichbarkeit ein Verschulden trifft (vgl Brandt in Niesel, SGB III, 2.Aufl, § 119 RdNr 43).

Diese Erreichbarkeit ist vorliegend nicht gegeben. Zum Einen wohnte der Kläger seit 22.05.1998 nicht unter der angegebenen Adresse F.str. 16. Dies bestätigt er durch seine eigenen Angaben, nämlich dass er nach seiner Rückkehr aus Griechenland im März 1998 einmal hier und einmal dort gewohnt habe, bis er eine Bekannte kennengelernt habe, bei der er dann gelebt habe. Deren Adresse will er jedoch nicht angeben. Auf Grund der Auskunft der Zeugin M steht jedoch fest, dass der Kläger sich nie in der F.str. 16 aufgehalten hat, sondern lediglich alle zwei bis drei Monate die Post abgeholt hat. Somit war der Kläger in der F.straße nicht täglich persönlich erreichbar. Aber auch unter der am 30.09.2000 angegebenen neuen Wohnanschrift: V.str. 13 war der Kläger für die Beklagte nicht täglich erreichbar, denn auch hier hat der Kläger nach den Aussagen der Zeugen A und D nicht gewohnt. Letztendlich wird vom Kläger auch nicht bestritten, dass er unter den angegebenen Adressen nie wohnhaft war. Damit ist der Kläger nicht in der Lage gewesen, orts- und zeitnah Vorschlägen der Beklagten zur beruflichen Eingliederung Folge zu leisten. Er war für die Beklagte unter der angegebenen Wohnanschrift nicht täglich erreichbar.

Offen gelassen werden kann, ob sich der Kläger während der streitigen Zeit in Griechenland oder in Nürnberg aufgehalten hat. Selbst wenn er nämlich in Nürnberg bei einer von ihm nicht angegebenen Person gewohnt hat, war er nicht verfügbar, denn der Arbeitslose kann sich zwar vorübergehend auch von seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt entfernen, jedoch nur dann, wenn er dem Arbeitsamt rechtzeitig seine Anschrift für die Dauer der Abwesenheit mitgeteilt hat, er auch von diesem vorübergehenden Aufenthaltsort zeit- und ortsnah Vorschlägen des Arbeitsamtes Folge leisten kann und er sich im Nahbereich des Arbeitsamtes aufhält (§ 2 Satz 1 EAO). Die Anschrift für die Dauer seiner Abwesenheit von den angegebenen Wohnanschriften hat der Kläger jedoch der Beklagten nicht mitgeteilt.

Auch die Regelung des § 3 EAO greift nicht zugunsten des Klägers ein, er hat eine Zustimmung der Beklagten zur Abwesenheit von seinem Wohnort nicht vorher eingeholt. Ebensowenig greifen die Voraussetzungen des § 428 SGB III hier ein, denn unabhängig vom Fehlen der sonstigen Voraussetzungen hierfür, muss auch nach dieser Regelung die objektive Verfügbarkeit gegeben sein (vgl Brandt aaO § 428 RdNr 2 sowie zur Vorgängerregelung des § 105 c AFG: BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 16, BSG SozR 3-4100 § 249 e Nr 9). Auch nach dieser Regelung soll es der Beklagten durch die sogenannte Residenzpflicht nämlich möglich sein, bei gegebenem Anlass zu überprüfen, ob die objektiven Voraussetzungen für den Bezug von Alg bzw. Alhi erfüllt sind. Diese Möglichkeit hat die Beklagte jedenfalls dann nicht, wenn - wie vorliegend - ihr die tatsächliche Wohn- und Postanschrift des Klägers nicht bekannt ist.

Dem Kläger stand somit von Anfang an weder Alg noch Alhi zu. Bei der von der Beklagten vorgenommenen Rücknahme ab 22.06.1998 handelt es sich lediglich um einen offensichtlichen Schreibfehler (§ 38 SGB X), denn sowohl Alg als auch Alhi sollten ab Beginn der Leistung (22.05.1998 und 19.07.2000) zurückgenommen werden. Dies ergibt sich auch aus Sicht des Empfängers eindeutig durch den Hinweis im Verfügungssatz des Bescheides vom 01.08.2002 auf die Rücknahme des Bescheides vom 08.07.1998, aber auch aus dem in der Bescheidbegründung angegebenen Datum (22.05.1998) und den Wörtern "ab Leistungsbeginn".

Die Bewilligung von Alg und Alhi beruhte hier darauf, dass der Kläger zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtige oder unvollständige Angben gemacht hat (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X). Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 HS 2 SGB X). Der Kläger hat hier zumindest grob fahrlässig falsche Angaben hinsichtlich seiner Wohn- und Postanschrift gemacht. Er hat nie unter der angegebenen Adresse in der F.str. 16 bzw. V.str. 13 gewohnt. Vielmehr hat er Absprachen mit den dortigen Bewohnern getroffen, diese Anschriften lediglich als Post- und Wohnanschriften angeben zu dürfen. Ob er hierbei vorsätzlich gehandelt und versucht hat arglistig zu täuschen, kann offen gelassen werden. Insofern sind auch etwaige Aussagen des Strafgerichts zur Höhe der Erstattungssumme, die weder im dortigen Protokoll noch im Urteil erwähnt sind, von Bedeutung. Das Strafgericht weist lediglich auf die Problematik des Vorsatzes hin.

Der Kläger hat zumindest grob fahrlässig gehandelt. Dafür ist ein in subjektiver Hinsicht gegenüber einfacher Fahrlässigkeit gesteigertes Verschulden nötig. Der Versicherte muss unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit seine Sorgfaltspflichten in außergewöhnlich hohem Maße, d.h. in einem das gewöhnliche Maß an Fahrlässigkeit erheblich übersteigendem Ausmaß verletzt haben. Die Nichtbeachtung eines nachweislich ausgehändigten Merkblattes zu einem konkreten Leistungstatbestand wird im Allgemeinen grobe Fahrlässigkeit begründen, wenn dieses so abgefasst war, dass der Begünstigte seinen Inhalt erkannt hat oder ohne weiteres erkennen konnte (vgl zum Ganzen: Wiesner in von Wulffen, SGB X, 5.Aufl, § 45 RdNr 24). In dem dem Kläger ausgehändigten und von diesem zur Kenntnis genommenen Merkblatt für Arbeitslose "Dienste und Leistungen des Arbeitsamtes", Stand Januar 1998, wird auf Seite 18 ausgeführt: "Außerdem müssen Sie für Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung stehen. Hierunter versteht man, 1. dass Sie persönlich für ihr Arbeitsamt jederzeit unter der von Ihnen benannten Anschrift erreichbar sind und das Arbeitsamt auch täglich aufsuchen können. Falls dies aus zwingenden, absehbaren Gründen einmal vorübergehend nicht möglich sein sollte, informieren Sie bitte frühzeitig Ihren Arbeitsvermittler. Wohn- und Postanschrift müssen identisch sein ..." Auf Seite 19 wird zusätzlich angegeben: "Grundsätzlich können bei einem Aufenthalt außerhalb der dem Arbeitsamt bekannten Wohnanschrift, Leistungen nicht gezahlt werden." Auf Seite 54 wird zusätzlich angegeben: "Insbesondere in den nachstehend aufgeführten Fällen ist es wichtig, dass Sie sofort Ihr Arbeitsamt benachrichtigen: ... 8. Wenn Sie Ihren Wohnort verlassen. 9. Wenn sich Ihre Anschrift ändert." Ebenso wird den Betroffenen auf Seite 53 erklärt: "Vor einer Bewilligung der Leistung und während Ihrer Zahlung kann auf Ihre Mitwirkung nicht verzichtet werden. Sie müsse alle Tatsachen angeben, die für die Bewilligung erheblich sind."

Aus diesen klaren und eindeutigen Erklärungen im ausgehändigten Merkblatt ist es für Kläger, an dessen intellektuellen Fähigkeiten - er war immerhin bis 31.03.1998 Vorarbeiter gewesen, Rente hat er erst ab 01.09.2001 bezogen - zur Erfassung der vorliegenden Zusammenhänge kein Zweifel besteht (subjektiver Sorgfaltspflichtmaßstab), klar und deutlich erkennbar, dass er die tatsächliche Post- und Wohnanschrift anzugeben habe. Auch an seiner strikten Einhaltung der drei- bzw. sechsmonatigen Meldetermine ist zu entnehmen, dass er die ihm als arbeitslosen Leistungsbezieher auferlegten Pflichten kannte. Zudem lässt die Organisation der Benachrichtigungskette, aber auch die beabsichtigte Einbeziehung der Zeugin S in seine Verschleierungsmaßnahmen nicht auf eine ausgeprägte Vergesslichkeit schließen. Der Kläger hat versucht, seinen Aufenthalt zu verschleiern, wobei offen bleiben kann, aus welchen Gründen er dies getan hat. Auch stimmen seine Angaben zu seinem gesundheitlichen Zustand nicht mit dem Inhalt eines Briefes vom Februar 2001 überein. Darin spricht er von Baumaßnahmen am Haus in Griechenland sowie vom Erscheinen von Feriengästen am 12. April und er will vier Wochen vorher in Amerika gewesen sein (61 AA). Davon, dass es ihm gesundheitlich - in Griechenland - schlecht ging, ist in diesem Brief keine Rede.

Die weiteren Voraussetzungen hinsichtlich der Rücknahme der bewilligten Leistungen leigen vor. Die Jahresfrist gemäß § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X ist eingehalten worden. Der Kläger ist vor Erlass des Rücknahmebescheides auch angehört worden.

Bezüglich der Rücknahmeentscheidung vom 01.08.2002 hatte die Beklagte kein Ermessen auszuüben (§ 330 Abs 2 SGB III).

Die Pflicht zur Erstattung überzahlter Leistungen ergibt sich aus § 50 Abs 1 SGB X. Die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung sind gemäß § 335 Abs 1 und Abs 5 SGB III zu erstatten. Bezüglich der Höhe der Rückforderung bestehen keine Bedenken. Es sind die gesamten Leistungen dieser Zeit zu erstatten.

Nach alledem hat der Kläger keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 01.08.2002. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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