L 6 R 684/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 7 RJ 565/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 6 R 684/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 25. Oktober 2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.

Der 1963 geborene Kläger hat von 1978 bis 1981 den Beruf des Bäckers erlernt. Nach eigenen Angaben war er in diesem Beruf kaum beschäftigt. Im Zuge einer Maßnahme der Arbeitsverwaltung wurde er 1988 bis 1990 zum Betonbauer umgeschult. In diesem Beruf arbeitete der Kläger bis 31.12.2002.

Am 12.02.2003 beantragte der Kläger die Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Die Beklagte holte eine Stellungnahme der Nervenärztin, Sozialmedizin Dr. K. vom 25.03.2003 ein, in der es heißt, die Erwerbsfähigkeit des Klägers in den erlernten Berufen als Bäcker und Betonbauer sei erheblich gefährdet, mittelschwere Arbeiten von täglich sechs Stunden seien zumutbar. Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 28.03.2003 mit der Begründung ab, seine Erwerbsfähigkeit sei nicht erheblich gefährdet oder gemindert. Der Kläger sei in der Lage, eine zumutbare Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin auszuüben. Dem im anschließenden Widerspruchsverfahren eingeholten Gutachten des Arztes für Chirurgie, Sozialmedizin Dr. B. vom 18.07.2003 ist zu entnehmen, dass der Kläger sowohl in seinem Beruf als Betonbauer, als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in der Lage sei, schwere Arbeiten von sechs Stunden und mehr auszuüben. Dagegen führte die Ärztin für Chirurgie, Sozialmedizin A. P. aus, die Erwerbsfähigkeit des Klägers in den erlernten Berufen als Bäcker und Betonbauer sei erheblich gefährdet. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.08.2003 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, in Auswertung der medizinischen Unterlagen sei festzustellen, dass der Versicherte den Beruf als Betonbauer ausüben könne und ihm auch mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von sechs Stunden und mehr zuzumuten seien. Die Erwerbsfähigkeit sei demzufolge nicht erheblich gefährdet oder gemindert.

Dagegen richtet sich die zum Sozialgericht Regensburg erhobene Klage vom 18.09.2003 mit der Begründung, der Kläger sei auf Dauer nicht mehr in der Lage, seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Betonbauer auszuüben. Verwiesen werde auf die Stellungnahme von Dr. B. vom 23.01.2003 für die Arbeitsverwaltung, wonach Tätigkeiten als Betonbauer wegen der Gefahr der Verschlimmerung nicht mehr zu befürworten seien. Empfohlen werde eine berufliche Umorientierung.

Zur Aufklärung des Sachverhalts holte das Sozialgericht Befundberichte des Allgemein- und Sportmediziners Dr. P. vom 28.04.2004 und des Orthopäden und Chirurgen Dr. D. vom 27.04.2004 ein und veranlasste die Begutachtung des Klägers durch den Arzt für Orthopädie Dr. S. (Gutachten vom 19.05. 2004). Dr. S. stellte an Gesundheitsstörungen ein pseudoradikuläres Lumbalsyndrom bei beginnenden degenerativen Veränderung und Fehlhaltung der Lendenwirbelsäule fest, ein Halswirbelsäulensyndrom bei ausgeprägter Fehlhaltung der Halswirbelsäule, jeweils ohne Nervenwurzelreizerscheinungen, ein Schulter-Arm-Syndrom rechts, eine mäßiggradige Epicondylopathia humeri radialis rechts (sog. Tennisarm), einen Zustand nach partieller Daumenendgliedamputation links ohne wesentliche funktionelle Auswirkungen, eine Chondropathia patellae beidseits bei Zustand nach Teilmeniscektomie linkes Knie, Migräne (nach Angaben) sowie eine allergische Diathese. Dem Kläger seien noch mittelschwere Tätigkeiten von sechs Stunden täglich und mehr zuzumuten, die Exposition mit Kälte, Nässe und Zugluft, längere vornüber gebeugte Zwangshaltungen sowie häufige Hockstellungen oder Trepp- bzw. Bergabgehen seien zu vermeiden. Durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben könne eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit abgewendet werden, sofern eine derartige Maßnahme zum Ziel hätte, in der neuen Berufsausübung besonders wirbelsäulen- bzw. kniegelenksbelastende Einflüsse zu vermeiden. Derzeit bestehe noch keine wesentliche Minderung der Erwerbsfähigkeit auch als Betonbauer, sofern die erwähnten Zwangshaltungen vermieden würden.

Die Beklagte führte dazu aus, es sei dem Kläger möglich, unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten Erwerbseinkommen zu erzielen. Seine Erwerbsfähigkeit sei nicht erheblich gefährdet oder gemindert, so dass die persönlichen Voraussetzungen für eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht vorliegen würden. Für die Erfüllung dieser Voraussetzungen sei bei Versicherten, die nach dem 01.01.1961 geboren seien, das Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt maßgeblich. In der von der Beklagten vorgelegten sozialmedizinischen Stellungnahme von A. P. vom 22.06.2004 heißt es, dass der Kläger zwar mittelschwere Arbeiten von sechs Stunden und mehr täglich erbringen könne, aber die von Dr. S. genannten Einschränkungen in der Tätigkeit als Betonbauer nach der Arbeitsplatzbeschreibung nicht realisierbar seien. Aus medizinischer Sicht seien Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu befürworten.

Mit Gerichtsbescheid vom 25.10.2004 verurteilte das Sozialgericht die Beklagte, dem Kläger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 10 SGB VI beurteile sich anhand der letzten beruflichen Tätigkeit des Klägers. Unerheblich sei, ob er mit den vorhandenen qualitativen Leistungseinschränkungen unproblematisch in den sog. Verweisungsberufen arbeiten könnte. Soweit der Sachverständige Dr. S. keine wesentliche Minderung der Erwerbsfähigkeit als Betonbauer sehe, führe er einschränkend aus, dass dies nur gelte, sofern Zwangshaltungen vermieden werden könnten. Nach § 33 Abs.4 Satz 1 SGB IX seien bei der Auswahl der Leistungen Eignung, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angemessen zu berücksichtigen. Unter Beachtung dieser Zielsetzung der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sei für einen Anspruch entscheidend, ob dadurch die Fähigkeit des Versicherten zur möglichst dauernden Ausübung seines bisherigen Berufs oder seiner Eignung, Neigung und bisherigen Tätigkeit angemessenen Erwerbs- oder Berufstätigkeit wesentlich gebessert oder wieder hergestellt werden könne. Bei dem Kläger sei dies zum Beispiel durch eine Umschulung in einem nicht wirbelsäulen- und kniebelastenden Beruf möglich.

Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten zum Bayer. Landessozialgericht vom 10.12.2004 mit der Begründung, der Kläger könne noch durchgehend mittelschwere körperliche Arbeiten mit den genannten Einschränkungen sechs Stunden und mehr täglich ausüben. Im vorliegenden Fall sei entscheidend, wie der Begriff der Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 10 SGB VI zu definieren sei. Erstmals sei in § 8 Abs.1 SGB II eine positive Definition des Begriffs der Erwerbsfähigkeit eingeführt worden. Nach der Gesetzesbegründung lehne sich diese Regelung an § 43 Abs. 2 Satz 2 SBB VI an. Bei der Prüfung, ob die Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet oder gemindert sei, sei nicht auf die bisherige Berufstätigkeit, sondern auf den gesamten Arbeitsmarkt abzustellen.

Die Beklagte beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgericht Regensburg vom 25.10.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor, die Vorschriften des SGB II würden ein völlig anderes Rechtsgebiet betreffen und seien deshalb mit den Vorschriften des SGB VI nicht zu vergleichen. Während § 8 Abs.1 SGB II die Frage betreffe, ob überhaupt Erwerbsfähigkeit vorliege, damit die Voraussetzung für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II dem Grunde nach erfüllt sei, betreffe die Vorschrift des § 10 SGB VI die Frage, ob die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit erheblich gefährdet oder gemindert sei.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen und zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten und des Sozialgerichts Regensburg, der Akte des Bayer. Landessozialgerichts sowie auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 25.10.2004 ist nicht zu beanstanden. Die Beklagte ist verpflichtet, ihre Entscheidung aufzuheben und dem Kläger nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu bewilligen.

Die Entscheidung der Frage, ob dem Kläger Rehabilitaionsleistungen zustehen, steht nicht im Ermessen der Beklagten, sondern unterliegt nach § 54 Abs.2 Satz 1 SGG der vollen gerichtlichen Überprüfung. Einer nur eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegt dagegen die Ermessensentscheidung des Rentenversicherungsträgers bezüglich der Art der Rehabilitaionsleistung, ihrer Dauer bzw. ihres Umfangs, der Durchführung und des Ortes der Maßnahme (vgl. § 54 Abs.2 Satz 2 SGG). Dem Rentenversicherungsträger ist damit nur bei der konkreten Auswahl der Leistung ein Ermessen eingeräumt (KassKomm-Niesel § 9 SGB VI Rdnr.9; § 13 SGB VI Rdnr.5). Diese Ermessensentscheidung obliegt hier der Beklagten im Zuge der neuen Bescheiderteilung.

Die Rentenversicherung erbringt Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, um den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wieder einzugliedern (§ 9 Abs.1 SGB VI). Voraussetzung der Leistungserbringung ist, dass die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind (§ 9 Abs.2 SGB VI).

Zunächst ist festzuhalten, dass kein Streit darüber besteht, dass der Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, nämlich die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt (§ 11 Abs.1 Nr.1 SGB VI). Der Kläger hat 198 anrechnungsfähige Kalendermonate zurückgelegt. Daneben liegen bei dem Kläger aber auch die persönlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vor.

Diese sind gemäß § 10 Abs.1 SGB VI gegeben, wenn die Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist (Nr.1) und voraussichtlich bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit deren Minderung durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann (Nr.2 a), bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch entsprechende Leistungen wesentlich gebessert, wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann (Nr.2 b) oder, bei bereits bestehender teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung, der Arbeitsplatz durch entsprechende Leistungen erhalten werden kann (Nr.3 c).

Das Sozialgericht hat das berufliche Leistungsvermögen des Klägers auf der Grundlage des Gutachtens von Dr. S. richtig eingeschätzt. Danach kann der Kläger noch täglich sechs Stunden und mehr mittelschwere körperliche Arbeiten ausführen. Zu vermeiden sind Arbeiten mit längeren vorüber gebeugten Zwangshaltungen, häufigen Hockstellungen, treppauf- und treppabgehen sowie Arbeiten, die mit einer Exposition mit Kälte, Nässe und Zugluft verbunden sind. Der Kläger leidet an einem Wirbelsäulensydrom bei ausgeprägter Fehlhaltung der Halswirbelsäule und beginnenden degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule bei Fehlhaltung. Außerdem liegt ein Schulter-Arm-Syndrom rechts, degenerative Knorpelveränderungen an beiden Kniescheiben sowie eine partielle Daumenendgliedamputation links vor.

Unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsstörungen kann der Kläger den Beruf eines Betonbauers nicht mehr zumutbar ausüben. Dieser Einschätzung entspricht auch die Bewertung des Sozialärztlichen Dienstes der Beklagten. Sowohl Dr. K. als auch A. P. haben ausgeführt, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers im erlernten Beruf als Betonbauer erheblich gefährdet bzw. gemindert ist. A. P. befürwortet dementsprechend aus medizinischer Sicht in ihrer Stellungnahme zum Gutachten von Dr. S. die Bewilligungen von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.

Zutreffend hat das Sozialgericht auch ausgeführt, dass bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich auf den zuletzt ausgeübten Beruf abzustellen ist (vgl. Bayer. Landessozialgericht, Urteil vom 06.02.2001 - L 6 RJ 337/99 - m.w.N.); die beruflichen Tätigkeiten in den letzten Jahren sind in die Betrachtung einzubeziehen (KassKomm-Niesel § 10 SGB VI Rdnr.3). Diese Auffassung ist auch den Auslegungsgrundsätzen der Rentenversicherungsträger zu den persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Leistungen zur Teilhabe und zur Mitwirkung der Versicherten vom 08.02.1995 in der Fassung vom 18.07.2002 zu entnehmen. Danach bedeutet "Minderung der Erwerbsfähigkeit" eine infolge gesundheitlicher Beeinträchtigungen erhebliche und länger andauernde Einschränkung der Leistungsfähigkeit, wodurch der Versicherte seine bisherige oder zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit nicht mehr oder nicht mehr ohne wesentliche Einschränkungen ausüben kann. Die Beklagte handelt hier also entgegen ihren selbst auferlegten verwaltungsinternen Vorgaben, die grundsätzlich eine Selbstbindung mit dem Anspruch auf Gleichbehandlung zur Folge haben (BSG SozR 2200 § 1237 a Nr.11).

Der Gesetzesbegründung zu § 10 SGB VI ist zu entnehmen, dass Leistungen zur Teilhabe auch nach dem In-Kraft-Treten des SGB IV und der ab 01.01.2001 vorgenommen Änderungen nicht erst dann zu bewilligen sind, wenn eine Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens in einem Ausmaß droht, das Rente wegen Erwerbsminderung zur Folge hat. Dort heißt es, dass die abstrakte Betrachtungsweise bei den Erwerbsminderungsrenten und der damit verbundenen Abschaffung der Berufsunfähigkeitsrente und der Wegfall des Berufsschutzes bei der Rente eine Klarstellung des künftigen Umgangs von Leistungen zur beruflichen Rehabilitation in der Rentenversicherung erfordern und, auch wenn eine Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliegt, die einen Rentenanspruch nicht begründet, gleichwohl eine Rehabilitation möglich ist, wenn eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit sowohl bei einer Gefährdung als auch bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit aussichtsreich erscheint (BT-Drs. 13/8671, S. 117).

Die Auffassung der Beklagten widerspricht auch der Intention des Gesetzgebers durch die Einführung des SGB IX, so weitgehend wie immer möglich die eigenen Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und damit auch zur Selbsthilfe zu stärken, zu unterstützen und eine möglichst selbständige Lebensführung zu ermöglichen (BT-Drs. 14/5074, S.98). § 4 SGB IX stellt eine Verknüpfung zu § 10 SGB I her. Als Zielsetzungen sind in beiden Vorschriften bestimmt, Einschränkungen u.a. der Erwerbsfähigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten und die Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend den Neigungen und Fähigkeiten dauerhaft zu sichern (§ 10 Nr.2, 3 SGB I; § 4 Abs.1 Nr.2, 4 SGB IX). In § 33 Abs.1 bis 3 SGB IX ist beschrieben, welche Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben von den Rehabilitationsträgern zu erbringen sind, um eine angemessene und geeignete Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit zu ermöglichen. Gemäß § 33 Abs.4 SGB IX sollen dabei Eignung, Neigung, die bisherige Tätigkeit sowie die Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt und, soweit erforderlich, dabei die berufliche Eignung abgeklärt werden.

Ein Anspruch auf Rehabilitationsleistungen bestünde aber nach Meinung der Beklagten erst dann, wenn dem Versicherten droht, auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt irgend eine Tätigkeit nicht mehr sechs Stunden täglich verrichten zu können. Damit gingen die genannten Vorgaben zur Zielsetzung beruflicher Fördermaßnahmen im SGB IX, jedenfalls für die Rentenversicherungsträger weitgehend ins Leere. Dies wird besonders deutlich, wenn der Versicherte, wie hier der Kläger, nach dem 02.01.1961 geboren wurde und somit eine Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht mehr in Betracht kommen kann.

Diese Auffassung wird im Übrigen auch durch den Wortlaut von § 10 Abs.1 Nr.2 c SGB VI gestützt, der bei fehlender Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit die Möglichkeit für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben eröffnet, wenn dadurch der bestehende Arbeitsplatz erhalten werden kann. Damit macht der Gesetzgeber deutlich, dass er besonderen Wert darauf legt, dass unter Zuhilfenahme dieser Leistungen der aktuell ausgeübte Beruf möglichst lange ausgeübt werden kann.

Festzuhalten ist somit an der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wonach als Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit zu verstehen ist, den bisherigen Beruf oder einer seiner Eignung, Neigung und bisherigen Tätigkeit angemessene Erwerbstätigkeit dauernd auszuüben (BSG SozR 2200 § 1237 a Nr.6). Eine Leistung zur Teilhabe kann somit auch nicht mit der Begründung versagt werden, der Versicherte sei in der Lage, eine zumutbare Verweisungstätigkeit zu verrichten. Die Grundsätze des vom Bundessozialgerichts entwickelten Mehrstufenschemas sind hier nicht anzuwenden (vgl. BSG SozR § 1236 Nr.4; SozR 2200 § 1237a Nr.16).

Auch der von der Beklagen ins Feld geführte § 8 Abs.1 SGB II stützt nicht deren Rechtsauffassung, und zwar ungeachtet dessen, dass die Entscheidung der Beklagten vor dem In-Kraft-Treten des § 8 Abs.1 SGB II erging. Denn diese Vorschrift hat keine Auswirkung auf die bisherige Rechtslage hinsichtlich der Verpflichtung der Rentenversicherungsträger, Leistungen zur Teilhabe im Sinne der §§ 9, 10 SGB VI zu erbringen. Der Vorschrift des § 8 Abs.1 SGB II kann nicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber die geltende Rechtslage zum Anspruch auf Teilhabe am Arbeitsleben geändert hat und bei der Prüfung, ob die Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet oder gemindert ist, nur noch auf den gesamten Arbeitsmarkt abzustellen ist. Gemäß § 8 Abs.1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außer Stande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. In der Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift heißt es, der Gesetzgeber habe sich an die Formulierung des § 43 Abs.2 SGB VI angelehnt, wonach eine Person erwerbsfähig ist, die unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein und darf. Zu berücksichtigen sind einerseits die individuelle gesundheitliche Leistungsfähigkeit der Person, andererseits mögliche rechtliche Einschränkungen (BT-Drs. 15/1516).

Festzuhalten ist zunächst, dass § 43 SGB VI nicht den Begriff der Erwerbsfähigkeit als solchen sondern die Begriffe teilweisen bzw. vollen Erwerbsminderung definiert. So sind nach § 43 Abs.2 Satz 2 SGB VI Versicherte voll erwerbsgemindert, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, und nach § 43 Abs.1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert, die unter den gleichen Voraussetzungen außer Stande sind, mindestens sechs Stunden erwerbstätig zu sein. § 10 Abs.1 SGB VI setzt dagegen bei Beachtung des Grundsatzes "Reha vor Rente" (vgl. § 9 Abs.1 Satz 2 SGB VI) für einen Anspruch der Teilhabe eine Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht in einem Umfang voraus, der bereits einen Rentenanspruch begründet.

Zwar lässt der bloße Wortlaut in § 8 Abs.1 SGB II verschiedene Varianten seiner Bedeutung zu, so dass vordergründig auch an eine auf das SGB VI übergreifende Regelung gedacht werden könnte. Die bloße Anlehnung an den Wortlaut des § 43 SGB VI reicht jedoch für eine solche Interpretation nicht aus. Der Wortlaut einer Vorschrift gibt nach den allgemeinen Auslegungskriterien allenfalls einen ersten Hinweis und einen Rahmen für die zutreffende Auslegung, die sich dann grundsätzlich aus dem Bedeutungszusammenhang und den Vorstellungen des Gesetzgebers ergibt.

§ 8 Abs.1 SGB II beinhaltet das zentrale Unterscheidungsmerkmal zum Geltungsbereich des SGB XII. Bis zum 31.12.2004 war die Erwerbsfähigkeit keine Anspruchsvoraussetzung für den Bezug von Sozialhilfeleistungen. Nur für die Frage der Zumutbarkeit der Beschaffung von Lebensunterhalt war die Leistungsfähigkeit des Betroffenen zu prüfen (vgl. § 18 Abs.3 Satz 1 BSHG). Die Prüfung dieser Zumutbarkeit wurde durch die jetzt erforderliche Prüfung der Erwerbsfähigkeit abgelöst. Dementsprechend erhält nach § 7 Abs.1 Nr.2 i.V.m. § 8 Abs.1 SGB II Leistungen nach dem SGB II, wer mindestens drei Stunden täglich arbeiten kann. Bezweckt wird damit ausschließlich die Zuordnung zu dem jeweiligen Bedürftigkeitssystem. Für die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen gilt das SGB II, das die Arbeitsverwaltung ausführt, nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige werden von den Sozialämtern betreut. Die Leistungsfähigkeit von Betroffenen als Ausdruck der in § 8 Abs.1 genannten drei Stunden zumutbarer Arbeitsleistung, die die Erwerbsfähigkeit begründet, dient somit lediglich als Abgrenzungskriterium.

Auch die Vorstellungen des Gesetzgebers im Vorfeld des In-Kraft-Tretens des SGB II geben keinen Hinweis darauf, dass die Regelung des § 8 Abs.1 SGB II Auswirkungen auf das SGB VI haben soll. Wenn in der Gesetzesbegründung von einer "Anlehnung" der Formulierung an § 43 SGB VI gesprochen wird, so bedeutet dies gerade nicht, dass der materielle Inhalt rentenrechtlicher Vorschriften tangiert werden soll. Im Gegenteil wäre es naheliegend gewesen, ausdrücklich eine Änderung des Rentenversicherungsrechts vorzunehmen, sofern der Gesetzgeber eine tiefgreifende Einschränkung bei der Bewilligung von Rehabilitationsleistungen zum Ziel gehabt hätte. Die in der Gesetzesbegründung zu § 8 Abs.1 SGB II angesprochene "Anlehnung" an § 43 SGB VI bedeutet ausschließlich, dass einzelne Tatbestandsmerkmale des § 43 SGB IV in § 8 Abs.1 SGB II übernommen wurden.

Die Definition der Erwerbsfähigkeit in § 8 Abs.1 SGB II lässt sich nicht, wie die Beklagte meint, als eine einheitliche Zielvorstellung auf andere Bereiche des Sozialgesetzbuches übertragen. Der Begriff der Erwerbsfähigkeit, der im Rentenversicherungsrecht nicht definiert ist, ist dem Unfallversicherungsrecht entlehnt. Danach ist unter Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit eines Versicherten zu verstehen, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheit, die sich ihm nach seinen gesamten Kenntnissen und körperlichen wie geistigen Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Diese für das Recht der Unfallversicherung entwickelte Definition wird auch für Rentenversicherung anerkannt (Eicher-Haase-Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, § 10 SGB VI Anm.2; Erläuterungen der Rentenversicherungsträger zum SGB VI § 10 Anm.2). Sofern der Gesetzgeber beabsichtigt hätte, im Zuge des In-Kraft-Tretens des SGB II eine Änderung der bisherigen Rechtslage mit Auswirkungen auf das Rehabilitationsrecht des Sozialgesetzbuches herbeizuführen, hätte er systemgerecht eine Änderung im Allgemeinen Teil (SGB I) oder in den Gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV) vorgenommen. Das SGB I enthält aber unverändert die Verpflichtung der Sozialversicherungszweige zur Berufsförderung mit dem Ziel der Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung (§ 4 Abs.2 Satz 1 Nr.1 SGB I). Auch der erste Abschnitt des SGB IV, der die für die einzelnen Sozialversicherungszweige gemeinsam maßgebenden Grundsätze und insbesondere Begriffsbestimmungen enthält, blieb unverändert.

Ausschlussgründe für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind bei dem Kläger nicht ersichtlich (vgl. § 12 SGB VI). Unter Berücksichtigung der ärztlichen Feststellungen kann bei dem Kläger voraussichtlich die Erwerbsfähigkeit auch wieder hergestellt werden. Damit ist die Beklagte verpflichtet, umgehend im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens tätig zu werden und zu entscheiden, welche Maßnahme dem Kläger insbesondere nach Art, Dauer und Umfang geleistet wird.

Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid vom 25.10.2004 war somit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs.2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor, insbesondere hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung. Es ist bereits höchstrichterlich geklärt, dass Leistungen zur Teilhabe schon dann in Betracht kommen, wenn der Versicherte nicht mehr in der Lage ist, den bisherigen Beruf auszuüben. Eine Änderung dieser Rechtsauffassung ist aufgrund neuerer Gesetzgebung offensichtlich nicht veranlasst.
Rechtskraft
Aus
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