L 4 KR 125/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 47 KR 981/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 125/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 27. April 2004 in Ziffer I. aufgehoben und insoweit die Klage abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Versorgung mit einem Leichtgewichtsrollstuhl.

Die am 04.06.1910 geborene Klägerin lebt seit 06.05.1999 im Altenheim H. (M.). Zum Betreuer ist ihr Sohn A.H. bestellt worden. Im Pflegevertrag ist unter anderem geregelt, dass das Heim die in der Anlage 1 aufgeführten Hilfsmittel vorhält und sie den Bewohnern bei Bedarf zur Verfügung stellt. Hilfsmittel im Sinne des Krankenversicherungsrechts sind nicht Bestandteil dieses Vertrages. Die Anlage 1 zum Rahmenvertrag gemäß § 75 SGB XI nennt unter der Hilfsmittelgruppe Krankenfahrzeuge (Gruppe 18) den Zimmerrollstuhl, Toilettenstuhl und Duschrollstuhl. Nach dem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Bayern (MDK) vom 16.05.2003 besteht bei der Klägerin ein Verdacht auf cerebrale Ischämie mit Verwirrtheitszuständen und Abwehrverhalten, Harn- und Stuhlinkontinenz, Demenz, Polyarthrose, koronare Herzkrankheit und Herzinsuffizienz (Pflegestufe III). Die Klägerin wurde im Rollstuhl gefahren und wegen Sturzgefahr dort fixiert.

Der Internist Dr.Z. erstellte am 13.05.2003 eine vertragsärztliche Verordnung über einen Rollstuhl zum Selbstfahren. Der von der Beklagten eingeholte Kostenvoranschlag der Firma b. Medizintechnik GmbH vom 19.05.2003 gab die Kosten für die Wiedereinsatzpauschale eines vorhandenen Rollstuhl mit 406,00 EUR an.

Auf Anfrage der Beklagten teilte der Betreuer am 29.05.2003 in einem Fragebogen mit, dass der Rollstuhl ausschließlich von der Klägerin genutzt werde und dass sie den Rollstuhl selbst bedienen könne, verneinte aber die Frage, dass die Klägerin von Angehörigen, Freunden oder Bekannten unabhängig vom Pflegepersonal zu Aktivitäten außerhalb des Heimgeländes mitgenommen werde.

Mit Bescheid vom 04.06.2003 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für einen Leichtgewichtsrollstuhl ab. Es handle sich nicht um ein individuell angepasstes Hilfsmittel und es werde auch nicht als Einzelstück zur ausschließlichen Nutzung für einen bestimmten Versicherten angefertigt. Der Rollstuhl diene auch nicht der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses außerhalb der Sphäre der stationären Einrichtung.

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 13.10.2003 den Widerspruch zurück. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung umfasse die über die Bereitsstellungspflicht des Heimträgers hinausgehende Leistungspflicht der Krankenkasse nur die Hilfsmittel, die nicht mehr der Sphäre der vollstationären Pflege zuzurechnen sind. Dazu zähle nicht der verordnete Rollstuhl. Leichtgewichtsrollstühle seien Hilfsmittel, die grundsätzlich vom Heimträger aufgrund des Heimvertrages zur Verfügung zu stellen seien. Sie gehörten nicht zu den individuell angepassten Hilfsmitteln, für die stets die Krankenkassen zuständig sind, auch wenn der Versicherte sie allein nutzt.

Die Klägerin hat hiergegen mit der Klage vom 14.11.2003 geltend gemacht, sie werde von ihren Söhnen und Enkeln sowie von Zivildienstleistenden und ehrenamtlichen Besuchern spazieren gefahren. Sie selbst fahre tagsüber in der Einrichtung mit dem Rollstuhl und nehme an Aktivitäten teil. Dazu benötige sie den begehrten Rollstuhl. Sie verbringe täglich etwa zehn Stunden im Rollstuhl. Ihr Betreuer habe die Frage zu den Aktivitäten außerhalb des Heimgeländes missverstanden und stelle fest, dass die Klägerin regelmäßig ausgefahren werde. Der Leichtgewichtsrollstuhl gehöre nach dem Heim- bzw. Pflegevertrag nicht zur Heimausstattung. Werde der Rollstuhl abgelehnt, sei für sie die Mobilität nicht anders herstellbar. Da für außerhalb des Pflegeheimes benötigte Hilfsmittel das Pflegeheim in keinem Fall zuständig ist, handle es sich nicht um ein typisches Pflegehilfsmittel.

Das SG hat einen Befundbericht des behandelnden Arztes Dr.Z. beigezogen und in der mündlichen Verhandlung den Betreuer der Klägerin als Zeugen gehört.

Es hat mit Urteil vom 27.04.2004 die Beklagte verurteilt, der Klägerin einen Leichtgewichtsrollstuhl gemäß der Verordnung des Internisten Dr.Z. vom 13.05.2003 zur Verfügung zu stellen. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung zählen zu den von Pflegeheimen vorzuhaltenden Hilfsmitteln alle Mittel, die der Sphäre der vollstationären Pflege zuzurechnen sind. Somit habe die gesetzliche Krankenkasse nur die Hilfsmittel, die nicht der Pflegesphäre zuzurechnen sind, zu gewähren. Hilfsmittel, die der Befriedigung von allgemeinen Grundbedürfnissen dienen, fallen auch bei Benutzung innerhalb des Pflegeheims in die Leistungspflicht der Krankenkasse. Nach der Aussage des Zeugen stehe fest, dass die Klägerin noch auf Kommunikation reagiert, an Gemeinschaftsveranstaltungen teilnimmt und noch insoweit mobil ist, als sie sich vom Sitzen in den Rollstuhl begeben und kurze Strecken noch selbst damit fortbewegen kann. Trotz der Erkrankungen der Klägerin (demenzielles Syndrom mit Verwirrtheit, Immobilität und Harn- und Stuhlinkontinenz) sei entscheidend, dass die Klägerin nicht dauerhaft bettlägrig ist. Der vom Heim zur Verfügung gestellte Rollstuhl sei von sehr einfacher Ausführung und nicht an die Bedürfnisse der Klägerin angepasst.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten vom 14.06.2004. Das von ihr eingeholte weitere sozialmedizinische Gutachten des MDK vom 25.10.2004 aufgrund eines Hausbesuches der Klägerin stelle fest, dass die Klägerin einen Standardrollstuhl älteren Modells benutze, der deutliche Abnutzungserscheinungen zeigt. Aus der Pflegedokumentation ergebe sich, dass im Zeitraum zwischen dem 17.09.2004 und 21.10.2004 keine Besuche durch Verwandte und Mobilisation außerhalb des Heimes stattfanden. Gelegentlich erfolge eine Mobilisation im vorhandenen Rollstuhl außerhalb des Heimes in der direkten Umgebung durch Praktikanten/ Helfer. Zweimal wöchentlich werde die Klägerin in die Tagespflege des Heimes gebracht, außerdem besuche sie heiminterne Veranstaltungen. Die Klägerin sei zur Person und zum Ort orientiert, jedoch nicht zur Zeit; die Tagesstruktur müsse vorgegeben werden. Bei der Klägerin bestehe die medizinische Indikation für ein Krankenfahrzeug. Eine zwingende medizinische Notwendigkeit für einen trippelfähigen Rollstuhl, wie im Kostenvoranschlag aufgeführt, sei nicht ersichtlich. Sie sei nicht in der Lage, den Rollstuhl selbständig durch Trippeln fortzubewegen. Zusammenfassend sei festzustellen, dass ein Rollstuhl im Rahmen der aktivierenden Pflege zur täglichen Mobilisation sinnvoll und zweckmäßig erscheint. Die Versorgung mit einem Standardrollstuhl sei bei der vorliegenden Rumpfstabilität ausreichend.

Demgegenüber hat der Klägerbevollmächtigte ausgeführt, wäre der beantragte Leichtgewichtsrollstuhl von der Beklagten geliefert worden, wäre die Klägerin außerhalb der vollstationären Einrichtung spazierengefahren worden. Entscheidend sei, ob der Klägerin eine verantwortungsbewusste Bestimmung über das eigene Schicksal möglich sei oder nicht, ob sie wegen des Fehlens eigengesteuerter Bestimmungsmöglichkeiten zum Objekt der Pflege geworden sei oder nicht. Hierzu habe der MDK im Gutachten festgestellt, dass die Klägerin zur Person und zum Ort orientiert sei, somit könne nicht von einem Objekt der Pflege gesprochen werden; vielmehr liege ein selbstbestimmtes Handeln weiterhin vor.

Der Klägerbevollmächtige hat mit Schriftsatz vom 14.04.2005 mitgeteilt, die Klägerin sei nunmehr überwiegend bettlägrig; sie benötige den seinerzeit verordneten Rollstuhl nicht mehr, da sie sich nicht mehr selbständig fortbewegen und sich auch nicht mehr in einem solchen Rollsstuhl halten könne.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 27.04.2004 aufzu- heben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Berufung zurückzuweisen.

Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten der Beklagten und des SG. Auf den Inhalt dieser Akten und die Sitzungsniederschrift wird im Übrigen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt 500,00 EUR (§ 144 Abs.1 Satz 1 Nr.1 SGG), denn es wird die Versorgung mit einem neuwertigen Gerät begehrt.

Die Berufung der Beklagten ist begründet. Denn die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt - dies ist bei der hier vorliegenden kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs.4 SGG) der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren - keinen Anspruch mehr auf Versorgung mit dem verordneten Rollstuhl zum Selbstfahren. Sie ist nach den Angaben ihres Prozessbevollmächtigten im Schriftsatz vom 18.04.2005 überwiegend bettlägrig und benötigt den Rollstuhl nicht mehr.

Da der Rollstuhl (z.B. durch die Angehörigen der Klägerin) nicht beschafft wurde, geht es im vorliegenden Fall nicht um einen Kostenerstattungs- bzw. Freistellungsanspruch gemäß § 13 Abs.3 Sozialgesetzbuch V (SGB V), sondern um den originären Leistungsanspruch.

Nach § 33 Abs.1 Sozialgesetzbuch V (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 SGB V ausgeschlossen sind. Der streitige Rollstuhl fällt hier nicht unter die Ermächtigungsnorm des § 34 Abs.4 SGB V, die Hilfsmittel von geringem oder umstrittenem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabenpreis betrifft.

Dass der Leichtgewichtsrollstuhl ein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung ist und dass die Klägerin aus medizinischen Gründen auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen war, ist zwischen den Hauptbeteiligten unstreitig.

Der Einsatz von Hilfsmitteln ist auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet. Hierzu zählen primär die ausgefallenen natürlichen Funktionen, zum Beispiel die Funktion von Armen oder Beinen. Teil der auszugleichenden Behinderung sind ferner auch weitergehende Folgen, soweit diese lebensnotwendige Grundbedürfnisse betreffen. Dazu gehört im vorliegenden Fall die Schaffung eines körperlich und geistigen Freiraums und die hinreichende Kommunikation. Allerdings nur insoweit, als es um ein Basisbedürfnis und in der Folge nur um einen Basisausgleich geht. Der Freiraum im Sinne der Bewegungsmöglichkeit oder Mobilität umfasst zum Beispiel bei Rollstuhlfahrern mindestens den Bereich, der durch einen Rollstuhl für Selbstfahrer in der Regel eröffnet ist. Der Ausgleich der Behinderung erfolgt allgemein dadurch, dass fehlende Körperteile oder deren Funktion wieder hergestellt, ermöglicht, ersetzt, erleichtert oder ergänzt werden. Art und Weise des Behinderungsausgleichs sind unerheblich. Die ausgefallene oder beeinträchtigte Funktion muss nicht unmittelbar ersetzt oder verbessert werden; es genügt zum Beispiel der indirekte Ausgleich über eine andere Körperfunktion (Höfler in Kasseler Kommentar, § 33 Rdnrn.12, 15 mit Nachweisen der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)).

Entscheidend ist zunächst, dass auch Heimbewohnern das lebensnotwendige Grundbedürfnis eines körperlichen Freiraums und der Möglichkeit der Inanspruchnahme einer hinreichenden Kommunikation (zum Beispiel durch Ausfahren in der Umgebung des Heims, Teilnahme an Veranstaltungen des Heims) zusteht. Dass sie hierbei der Hilfe anderer Personen bedürfen, steht dem Anspruch nach § 33 SGB V nicht entgegen. Die Klägerin war nach den letzten Feststellungen des MDK noch zur Person und zum Ort orientiert und damit wohl auch in der Lage, den Leichtgewichtsrollstuhl zu nutzen, so dass das Sozialgericht noch von der Erforderlichkeit im Sinne des § 33 Abs.1 SGB V ausgehen konnte.

Darauf kommt es aber nicht mehr an.

Aufgrund des Schriftsatzes ihres Prozessbevollmächtigten vom 14.04.2005 kann die Klägerin sich wegen einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht mehr in dem seinerzeit verordneten Rollstuhl fortbewegen und halten. Daraus ergibt sich, dass der Selbstfahrrollstuhl nicht mehr erforderlich ist, im Sinne von §§ 33 Abs.1, 15 Abs.1 SGB V. Zu einer weiteren Beweisaufnahme besteht kein Anlass (§ 103 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Hierbei hat der Senat berücksichtigt, dass zunächst ein Leistungsanspruch bestanden hat; daher wird die Kostenentscheidung des SG nicht geändert.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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