L 15 SB 81/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 SB 451/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 SB 81/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Beklagte unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Regensburg vom 11. Juni 2003 sowie des Bescheides vom 21. Januar 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2000 verurteilt, den GdB des Klägers ab Februar 2002 mit 50 festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu einem Drittel zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist zuletzt noch streitig, ob beim Kläger die Schwerbehinderteneigenschaft bereits ab November 1999, hilfsweise ab Juli 2000 bis einschließlich 09.07.2003 festzustellen ist.

Der 1946 geborene Kläger beantragte erstmals im November 1999 die Feststellung von Behinderungen und des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Nach Beiziehung von Befundberichten von dem HNO-Arzt Dr.K. , dem Allgemeinarzt Dr.B. , der zahlreiche Fremdbefunde vorlegte (Entlassungsbericht des Klinikums N. , Arztbriefe des Internisten/Kardiologen Dr.R. , des Augenarztes Dr.K. , des Lungenarztes Dr.G. , des Nervenarztes Dr.R. , des Radiologen Dr.M. , des Hautarztes Dr.S. , Bericht des Klinikums N. sowie Reha-Entlassungsbericht der Herz-Kreislauf-Klinik in Bad W.), erging nach versorgungsärztlicher Stellungnahme durch Dr.H. am 21.01. 2000 ein Bescheid des Beklagten, in dem als Behinderungen festgestellt wurden:

1. Seelische Störung

2. Herzrhythmusstörungen, Herzmuskelerkrankung

3. Schwerhörigkeit beidseits mit Ohrgeräuschen

4. Schilddrüsenüberfunktion

5. Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseits.

Für die Behinderungen Nr. 1) bis 3) wurde jeweils ein Einzel-GdB von 20, für die übrigen Behinderungen von 10 angenommen; der Gesamt-GdB wurde mit 30 eingeschätzt.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und beantragte die Feststellung eines GdB von über 50. Nach versorgungsärztlicher Stellungnahme von Dr.R. wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16.05.2000 zurückgewiesen.

Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Regensburg erhoben und einen höheren GdB als 30 beantragt. Zur Begründung hat er sich auf seine Widerspruchsbegründung bezogen und ergänzend vorgetragen, die Schilddrüsenoperation am 17.01.2000 im Klinikum N. habe keine Besserung seiner Herzrhythmusstörungen gebracht. Auch die Schrittmacherimplantation am 19.04. 2000 habe zu keiner nennenswerten Besserung der Herzschlagfolge geführt. Sein Lebenswertgefühl sei erheblich reduziert, er leide unter Angstgefühlen und Niedergeschlagenheit.

Nach Beiziehung zahlreicher ärztlicher Unterlagen (Befundberichte von Dr.R. mit Bericht von Dr.D. über die Herzschrittmacherimplantation, Dr.R. , Dr.K. , Dr.B. mit Bericht des Klinikums N. über die Schilddrüsenoperation und von Dr.R. , Orthopädin, hat das Sozialgericht am 04.10.2001 von dem Nervenarzt Dr.G. ein Terminsgutachten eingeholt. Der gerichtliche Sachverständige hat darin nach Untersuchung des Klägers die Feststellungen des Beklagten bestätigt. Seines Erachtens habe zum Zeitpunkt der Untersuchung keine tief greifende Depression vorgelegen. Eine antidepressive Therapie im eigentlichen Sinne werde nicht durchgeführt. Der GdB von 20 sei diesbezüglich zutreffend.

In der mündlichen Verhandlung vom selben Tag hat der Kläger eine HNO-ärztliche Stellungnahme von Dr.S. vom 12.01.2001 für die Bau-BG vorgelegt und die Auffassung vertreten, dass der bei ihm vorliegende Hörschaden nach den "Anhaltspunkten" mit einem GdB von 40 einzuschätzen sei. Daraufhin ist die mündliche Verhandlung vertagt und die Akte der Bau-BG beigezogen worden mit einem Gutachten des HNO-Arztes Dr.H. vom 13.06.2000, der einen beidseitigen Hörverlust von 30 % sprach- audiometrisch, eine Gesamt-MdE für die Schwerhörigkeit von 15 % und eine Lärmschwerhörigkeit (ausgehend von Messdaten vom Dezember 1996) von unter 10 % annahm. Dementsprechend erkannte die Bau-BG eine Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit an, lehnte jedoch eine Rentengewährung ab.

Das Sozialgericht hat anschließend von Prof.Dr.T. vom Klinikum N. ein HNO-ärztliches Gutachten eingeholt (vom 26.02.2002). Unter Berücksichtigung eines prozentualen Hörverlustes von 30 aufgrund eines neuen Tonaudiogramms und eines sprachaudiometrischen prozentualen Hörverlusts von 60 sowie des als sehr störend empfundenen Tinnitus sei insgesamt ein GdB von 30 ab Untersuchungstag anzunehmen; ein GdB von 20 gelte sowohl ab 12.11.1999 als auch ab 05.06.2000. Die Hörstörung werde mit GdB 30 einschließlich des beidseitigen Tinnitus (bis zu GdB 10) eingeschätzt. Möglicherweise werde der Kläger in seinem Sprachverständnis stark durch den Tinnitus beeinträchtigt.

Das Sozialgericht hat außerdem ein nervenärztliches Gutachten von Dr.R. vom 23.05.2002, das in einem Rentenklageverfahren (S 9 RJ 734/00) eingeholt worden war, zu den Akten genommen, ebenso eine ärztliche Bescheinigung von Dr.R. vom 28.03.2002. Dr.R. hat bei seiner Untersuchung am 02.04. 2002 eine mittelgradige bis schwere Depression festgestellt, die im Vordergrund des Beschwerdebildes stehe und die körperliche Symptomatik teilweise überlagere.

Das Sozialgericht hat auch ein orthopädisches Gutachten von Prof.Dr.L. vom 11.11.2002 eingeholt, der beim Kläger endlagige Bewegungsbehinderungen der Hals- und Rumpfwirbelsäule festgestellt hat (GdB 20); ferner eine Bewegungsbehinderung in den Schultergelenken (GdB 10), eine Streckbehinderung beider Unterschenkel in den Kniegelenken, Innenmeniskusschäden beidseits und Knorpelschäden hinter beiden Kniescheiben (GdB 10).

In einem neuropsychiatrischen Zusatzgutachten vom selben Datum hat Dr.O. eine chronifizierte Depression multifaktorieller Genese in Form einer subdepressiven Stimmungsauslenkung mit gering eingeschränkter affektiver Schwingungsfähigkeit mit Einzel-GdB 20 ohne Berücksichtigung der Folgen der Ohrgeräusche festgestellt.

Schließlich hat das Sozialgericht ein internistisches Gutachten von Dr.E. vom 26.02.2003 eingeholt. Darin ist der GdB von 20 für die beim Kläger bestehenden Herzrhythmusstörungen und die Herzmuskelerkrankung bestätigt worden. Bei der Untersuchung sei ein Herzrasen medikamentös nicht suffizient gebremst gewesen, möglichweise durch Absetzen entsprechender Medikamente vor der Untersuchung. Das Belastungs-EKG im Sitzen sei vom Kläger bei 75 Watt unter Angabe von Druckgefühl hinter dem Brustbein abgebrochen worden. Eine Lungenfunktionsuntersuchung sei mangels aktiver Mitarbeit des Klägers nicht möglich gewesen.

Der Beklagte hat versorgungsärztlich zu den eingeholten Gutachten Stellung genommen. Der HNO-Arzt Dr.N. ist dem Gutachten von Prof.Dr.T. grundsätzlich gefolgt; allerdings hat er nur einen GdB von 20 für die Schwerhörigkeit einschließlich der Ohrgeräusche angesetzt, da die möglicherweise durch die Ohrgeräusche beeinflussten psychischen Beschwerden bereits eigenständig mit einem GdB von 20 erfasst seien. Die starke Diskrepanz zwischen dem Tonaudiogramm (prozentualer Hörverlust von 25 rechts bzw. 30 links) und Sprachaudiogramm (prozentualer Hörverlust 60) hat Dr.N. möglicherweise durch psychische Beschwerden erklärt.

Die Versorgungsärztin Dr.N. hat aufgrund des orthopädischen Gutachtens von Prof.Dr.L. als weitere Behinderungen eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit muskulären Verspannungen (Einzel-GdB 20, tendiert zu 10) und eine Bewegungsbehinderung beider Arme in den Schultergelenken mit Einzel-GdB 10 sowie beider Unterschenkel mit GdB 10 festgestellt, den Gesamt-GdB jedoch weiterhin mit 30 eingeschätzt.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schriftsatz vom 14.04.2003 geltend gemacht, dass die Auswirkung des Tinnitus bei der psychischen Beurteilung laut psychiatrischem Zusatzgutachten noch nicht berücksichtigt sei. Die Schwerhörigkeit sei daher mit GdB 30 bis 40 einzuschätzen. Da beim Kläger zwei Wirbelsäulenabschnitte betroffen seien, müsse ein GdB von mindestens 30 festgestellt werden. Offensichtlich seien die schmerzhaften Knorpelschäden an den beiden Kniegelenken übersehen worden. Die Nervenärztin Dr.O. habe im Widerspruch zu den Befunden des behandelnden Nervenarztes Dr.R. ein unzutreffendes Beschwerdebild gezeichnet.

Nach entsprechender Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid vom 11.06.2003 den Beklagten verurteilt, ab 05.02.2002 einen GdB von 40 aufgrund folgender Behinderungen festzustellen: 1. Seelische Störung - Einzel-GdB 20 -

2. Herzrhythmusstörungen, Herzmuskelerkrankung - Einzel-GdB 20 -

3. Schwerhörigkeit beidseits mit Ohrgeräuschen - Einzel-GdB 30 -

4. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit muskulären Verspannungen - Einzel-GdB 10 -

5. Bewegungsbehinderung beider Arme in den Schultergelenken bei röntgenologisch nachweisbarem Impingement beidseits - Einzel-GdB 10 -

6. Streckbehinderung beider Unterschenkel in den Kniegelenken bei röntgenologisch nachweisbaren beginnenden umformenden Veränderungen. Innenmeniskusschaden beidseits. Diskretes O-Bein beidseits. Knorpelschaden hinter beiden Kniescheiben. Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseits - Einzel-GdB 10 -

7. Schilddrüsenfunktionsstörung - Einzel-GdB 10 -.

Das Sozialgericht ist dabei hinsichtlich Behinderung Nr.1 den Gutachten von Dr.G. und Dr.O. gefolgt, hinsichtlich Behinderung Nr.2 dem Gutachten von Dr.E. und für Behinderung Nr.3 dem Gutachten von Prof.Dr.T. ab dem Tag der Untersuchung (05.02.2002). Behinderung Nr.4 sei lediglich mit Einzel-GdB 10 einzuschätzen, obwohl Prof.Dr.L. einen höheren GdB vorgeschlagen habe; da es sich nur um "endlagige" Bewegungsbehinderungen der Hals- und Rumpfwirbelsäule handele, werde ein GdB von 20 noch nicht erreicht. Bezüglich der Behinderungen Nr.5 und 6 werde der Vorschlag von Prof.Dr.L. übernommen. Insgesamt ergebe sich ein GdB von 40, nicht jedoch von 50. Im Übrigen ist daher die Klage abgewiesen worden.

Mit Schriftsatz vom 27.06.2003 hat der Kläger Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt und im Wesentlichen mit derselben Begründung wie bisher die Erhöhung des GdB auf 50 ab 12.11.1999 (Antragstellung) spätestens ab 16.11.2000 begehrt. Der Kläger sei 1998 an Herzrhythmusstörungen erkrankt und habe gesundheitsbedingt 1999 seinen Arbeitsplatz als Betonbauer/Maurermeister verloren. Seitdem sei eine Existenzangst mit erkennbar depressiver Symptomatik aufgetreten. Dies werde verstärkt durch die Tatsache, dass der Vater des Klägers mit 67 Jahren an derselben Herzerkrankung verstorben sei.

Der Senat hat das Gutachtensheft der LVA Niederbayern-Oberpfalz beigezogen und dieses zusammen mit der ebenfalls beigezogenen erledigten Rentenklageakte des Sozialgerichts Regensburg (S 9 RJ 734/00), das auch ein internistisches Gutachten von Dr.L. vom 14.11.2001 enthält, dem Beklagten mit der Bitte um Stellungnahme insbesondere zur GdB-Bewertung der Hörminderung einschließlich des Tinnitus und der psychischen Beeinträchtigung zugeleitet.

Von Klägerseite ist mit Schriftsatz vom 01.10.2003 eine Bescheinigung des Nervenarztes R. vom 21.08.2003 übergeben worden, wonach sich aus dessen Gutachten vom 22.05.2003 im Rentenklageverfahren ein GdB von mindestens 40 für die psychische Beeinträchtigung ergebe. Es ist außerdem von dem Internisten Dr.N. auf Ersuchen des Prozessbevollmächtigten des Klägers eine fachinternistische Stellungnahme vom 22.08.2003 zum Gutachten von Dr.E. übersandt worden. Seines Erachtens gehe beim Kläger die Leistungsbeeinträchtigung des Herzens eindeutig über einen GdB von 20 hinaus und liege näher bei 30.

Mit Schriftsatz vom 31.10.2003 hat der Beklagte zunächst keine Möglichkeit gesehen, einen höheren GdB als 40 festzustellen. Dies ergibt sich einerseits aus einer weiteren Stellungnahme des HNO-Arztes Dr.N. vom 22.10.2003: Dieser hat die in der Sozialgerichtsakte vorhandenen Hörprüfungen vom 11.10.1999, 05.06.2000, 22.01.2000 und 05.02.2002 sowie die Befunde von Prof.Dr.T. und die Stellungnahme von Dr.S. (für die Berufsgenossenschaft) ausgewertet und festgestellt, dass sowohl im Ton- als auch im Sprachaudiogramm ein stark schwankender Kurvenverlauf auffalle, der für eine organische Hörstörung ungewöhnlich sei.

Der Versorgungsmediziner Dr.K. hat in den nervenärztlichen Stellungnahmen vom 30.10. und 19.12.2003 auch zu einem vom Senat nachträglich eingeholten Befundbericht des Nervenarztes Dr.R. vom 21.11.2003 ausgeführt: Die psychische Symptomatik sei mit der seelischen Störung bereits festgestellt; eine zusätzliche Erhöhung hinsichtlich der Hörstörungen würde zu einer Doppelbewertung führen. Dem Vorschlag von R. in seiner Bescheinigung vom 21.08.2003 hinsichtlich eines GdB von 40 könne nicht gefolgt werden, weil er in seinem Gutachten keine Störungen von Aufmerksamkeit oder Gedächtnis geschildert habe und auch bisher keine stationäre psychiatrische Behandlung stattgefunden habe. Die unterschiedlichen Bewertungen der Gutachter (einerseits R. , andererseits Dr.G. , Dr.O., Dr.L.) lassen sich nach Auffassung von Dr.K. durch den ausführlichen Befundbericht von Dr.R. vom 21.11.2003 gut erklären. Danach liege beim Kläger eine phasenhaft schlechte Stimmungslage vor. So habe Dr.R. am 10.07.2003 wieder eine verstärkte soziale Rückzugsneigung festgestellt. Unter Berücksichtigung der Chronifizierung der Depression und der erforderlichen regelmäßigen nervenärztlichen Behandlung könne die seelische Störung mit Einzel-GdB 30 ab Juli 2003 vorgeschlagen werden. Der Gesamt-GdB liege ab demselben Zeitpunkt bei 50.

Der Versorgungsmediziner Dr.S. hat sich am 02.12.2003 auf internistischem Fachgebiet zu der Stellungnahme von Dr.N. geäußert: Gegen dessen Annahme, dass ein Herzrasen des Klägers medikamentös nicht suffizient zu bremsen sei, spreche eine Reihe von unauffälligen Befunden zur Herzfrequenz im Anschluss an die Schrittmacherimplantation im April 2000. Da somit weder dauerhafte noch häufige Tachyarrhythmien nachgewiesen seien, sei der Einzel-GdB von 20 für das Herzleiden weiterhin richtig.

Mit Schriftsatz vom 23.12.2003 hat der Beklagte ein Vergleichsangebot vorgelegt, in dem er sich bereit erklärt hat, ab 10.07. 2003 einen GdB von 50 festzustellen. Dieses Angebot hat der Kläger mit Schriftsatz vom 09.01.2004 abgelehnt und beantragt, den GdB von 50 bereits ab 12.07.2000 anzunehmen.

Nach erneuten versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Dres. N. und K. hat der Kläger einen Brief von Dr.R. vom 18.03.2004 vorgelegt, wonach seit 22.03.2000 bei ihm eine anhaltende mittelgradige Depression vorgelegen habe, die im Verlauf des Jahres 2000 zu einer stärkeren psychischen Behinderung geführt habe. Aufgrund der Befundberichte vom 07.02., 15.12.2000, 09.01., 17.09.2001, 28.03.2002 und 21.11.2003 habe sich diese psychische Behinderung ab 12.07.2000 ohne Besserungstendenz manifestiert.

In der mündlichen Verhandlung am 22.06.2004 hat der Bevollmächtigte des Beklagten folgendes Teilanerkenntnis abgegeben: "Der GdB des Klägers wird ab 10.07.2003 mit 50 festgestellt."

Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen und weiterhin begehrt, seinen GdB ab November 1999, hilfsweise ab Juli 2000, bis einschließlich 09.07.2003 mit 50 festzustellen.

Die mündliche Verhandlung ist daraufhin zur Durchführung weiterer Ermittlungen vertagt worden.

Der Senat hat anschließend ein Gutachten nach Untersuchung des Klägers von Prof.Dr.B. vom Klinikum N. , HNO-Klinik (Nachfolger von Prof.Dr.T.) eingeholt. In diesem Gutachten vom 04.08.2004 hat der gerichtliche Sachverständige festgestellt, der allgemeine Grundsatz, dass ein Sprachaudiogramm Vorrang vor einem Tonaudiogramm habe, gelte auch im vorliegenden Fall. Für den Tinnitus sei ab Oktober 1999 ein GdB von 10 nach den Anhaltspunkten gerechtfertigt, der GdB für die Hörstörung einschließlich des Tinnitus betrage ab Oktober 1999 20 und erst ab Februar 2002 (Begutachtung durch Prof. Dr.T.) 30. Seit Februar 2002 sei eine Hörverschlechterung nachgewiesen, die durch die jetzige Begutachtung bestätigt worden sei. Noch im Juni 2000 habe das von Dr.H. angefertigte Sprachaudiogramm nur eine geringgradige Schwerhörigkeit ergeben. Der Tinnitus sei beim GdB für die Hörstörung integrierend berücksichtigt worden. Die Untersuchung am 15.07.2004 habe - möglicherweise aufgrund verbesserter Adaption an das Ohrgeräusch, evtl. auch durch geänderten Störschallcharakter des Tinnitus - rechts- wie links- seitig sprachaudiometrisch nur eine gering- bis mittelgradige Schwerhörigkeit ergeben. Es habe sich beidseitig ein prozentualer Hörverlust von 40 ergeben, d.h. ein GdB von 20.

Nach Einholung von Stellungnahmen der Beteiligten hat Prof. Dr.B. am 17.12.2004 auf gerichtliche Anfrage mitgeteilt, es habe sich bei seiner Untersuchung tatsächlich ein geringerer Hörschaden als am 05.02.2002 gezeigt. Der GdB von 30 für die Schwerhörigkeit sowie den Tinnitus werde als Zusammensetzung eines GdB von 20 für die Hörstörung und eines Tinnitus mit dem GdB in Höhe von 10 verstanden. Eine Doppelbewertung von Hör- und seelischer Störung finde nicht statt. Auf die Frage nach einer Begründung für die unterschiedlichen Hörverluste hat der gerichtliche Sachverständige Folgendes ausgeführt: Die Bewertung von unterschiedlichen prozentualen Hörverlusten (zwischen 40 und 60) mit GdB 20 widerspreche nicht den Anhaltspunkten Nr.26.5 Tabelle D, weil dort lediglich Abstufungen der Hörverluste von 20 bis 40 und 40 bis 60, jedoch keine Zwischenwerte vorgegeben seien. Die schlechteren Werte in den Untersuchungsbefunden von Dr.K. vom Oktober 1999 könnten möglicherweise auf einen Übertragungsfehler zurückzuführen sein. Weshalb Dr.H. im Juni 2000 beidseits einen Hörverlust von nur 15 % ermittelt hat, könne nicht geklärt werden. Die späteren schlechteren Hörprüfergebnisse seien jedoch hinreichend abgesichert.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 07.01.2005 ist die Beklagte gebeten worden zu prüfen, ob ab Februar 2002 die Schwerbehinderteneigenschaft angenommen werden kann, da es nachvollziehbar erscheine, für die Hörstörung einschließlich des Tinnitus ab diesem Zeitpunkt einen GdB von 30 anzunehmen. In ihren versorgungsärztlichen Stellungnahmen blieben Dr.N. und Dr.K. bei der Auffassung, dass sich für die Schwerhörigkeit einschließlich der Ohrgeräusche ab Februar 2002 nur ein GdB von 20 ergebe, weil ein Tinnitus mit Einzel-GdB 10 den GdB für die Schwerhörigkeit von 20 nicht erhöhen könne.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schriftsatz vom 23.02.2005 darauf hingewiesen, dass der Befundbericht von Dr.K. vom 10.01.2001 und die Stellungnahme der Prüfärztin Dr.S. vom 12.01.2001 von einem Hörverlust von 50/60 % bzw. 60/70 % ausgingen. Ein Druck- oder Übertragungsfehler sei ausgeschlossen. Zwar sei die bessere Hörfähigkeit laut Dr.H. nicht nachvollziehbar, dennoch spreche mehr für als gegen das schlechtere Hörvermögen des Klägers. Auch führe ein durchschnittlicher Hörverlust von 40 bis 60 % zu einem vollwertigen GdB von 30, unter Berücksichtigung des Tinnitus mit Tendenz zu 40. Hinsichtlich des Tinnitus dürfe nicht die Regel angewandt werden, dass ein Einzel-GdB von 10 nicht zur Erhöhung des Gesamt-GdB führe, zumal es sich hier um die Bildung eines Einzel-GdB handle. Schließlich werde darauf hingewiesen, dass die Einschätzung des GdB für das Herzleiden in Höhe von 30 auch vertretbar erscheine. Der Gerichtsgutachter R. habe in seinem Gutachten vom 23.05.2002 den Bewertungen von Dr.O. überzeugend widersprochen. Auch die orthopädischen Leiden mit einem GdB von 10 entsprächen nicht dem Untersuchungsergebnis vom 11.11.2002.

Der Kläger beantragt, den Beklagten unter Änderung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Regensburg vom 11.06.2003 sowie des Bescheides vom 21.01.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2000 zu verurteilen, den GdB ab November 1999, hilfsweise ab Juli 2000, bis einschließlich 09.07.2003 mit 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 11.06.2003 zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogene Akte des Beklagten, die erledigte Klageakte des Sozialgerichts Regensburg (S 9 RJ 734/00), das Gutachtensheft der LVA Niederbayern-Oberpfalz und den Inhalt der Akte des vorangegangenen Klageverfahrens beim Sozialgericht Regensburg sowie der Berufungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 51 Abs.1 Nr.7, i.V.m. 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), erweist sich jedoch nur teilweise als begründet.

Die vom Kläger ab Antragstellung im November 1999, hilfsweise ab 12.07.2000 begehrte Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft kann erst ab Februar 2002 als nachgewiesen gelten; denn ab diesem Zeitpunkt war die Schwerhörigkeit des Klägers einschließlich eines Tinnitus mit einem GdB von 30 statt bisher 20 zu bewerten, so dass bereits ab diesem Zeitpunkt zusammen mit den übrigen Gesundheitsstörungen ein GdB von 50 vertretbar erscheint.

Im vorliegenden Fall war zu prüfen, ob der Beklagte nach § 4 SchwbG bzw. seit 01.07.2001 nach § 69 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) im Rahmen einer Erstfeststellung den GdB für die beim Kläger vorliegende Behinderung zu Recht zunächst mit 30 eingeschätzt hat und ob das Sozialgericht den Beklagten zutreffend verurteilt hat, ab 05.02.2002 einen GdB von 40 festzustellen.

Dabei war das Ausmaß der beim Kläger seit seiner Antragstellung vorliegenden körperlichen, geistigen oder seelischen Funktionsbeeinträchtigungen, die von dem für das Lebensalter typischen Zustand nicht nur vorübergehend (d.h. länger als sechs Monate) abweichen und daher die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigen, gemäß § 3 SchwbG bzw. 2 SGB IX, zu bewerten. Zu diesem Zweck war auf das normähnliche Bewertungssystem der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AP) abzustellen, da diese nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (BSG-Urteil vom 23.06.1993 - SozR 3-3870 § 4 Nr.6) als antizipierte Sachverständigengutachten im Interesse der Gleichbehandlung aller Behinderten sowohl im Verwaltungs- als auch im Gerichtsverfahren zu beachten sind.

Aufgrund der vom Sozialgericht und vom Senat durchgeführten Ermittlungen, insbesondere aufgrund der von Amts wegen eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten von Dr.G. vom 04.10.2001, von Prof. Dr.T. vom 26.02.2002, von Prof. Dr.L. vom 11.11.2002 mit Zusatzgutachten von Dr.O. , ferner von Dr.E. vom 26.02.2003 und schließlich von Prof.Dr.B. vom 04.08./17.12.2004 ist der Senat zur Auffassung gelangt, dass beim Kläger ab November 1999 folgende Gesundheitsstörungen bzw. Einzel-GdB-Werte vorlagen:

1. Seelische Störung (GdB 20)

2. Herzleiden (GdB 20)

3. Schwerhörigkeit beidseits mit Ohrgeräuschen (GdB 20)

4. Funktionsbehinderung beider Kniegelenke/Fußfehlform

5. beidseits (GdB 10) Schilddrüsenüberfunktion (GdB 10).

Aufgrund der Gutachtensergebnisse von Prof.Dr.T. , bestätigt durch Prof.Dr.B. , war ab 05.02.2002 ein GdB von 30 für die Hörstörung einschließlich des Tinnitus anzunehmen und zusätzlich aufgrund der Begutachtung durch Prof.Dr.L. eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit GdB 20 festzustellen.

Der ab November 1999 vom Beklagten zutreffend mit 30 eingeschätzte Gesamt-GdB war daher unter Berücksichtigung der AP 1996 bzw. 2004 Nr.19 Abs.4 bereits ab Februar 2002 auf 50 zu erhöhen.

Grund für diese im Vergleich zum Sozialgericht Regensburg günstigere GdB-Bewertung waren folgende Überlegungen: Die verschiedenen seit Oktober 1999 beim Kläger durchgeführten - insbesondere Sprach- Audiogramme ergaben kein einheitliches, sondern ein äußerst schwankendes Bild des Ausmaßes der Schwerhörigkeit des Klägers. Der behandelnde HNO-Arzt Dr.K. gab aufgrund eines Sprachaudiogramms vom 01.10.1999 rechts einen Hörverlust von 50 % und links von 60 % an. (Prof.Dr.B. entnahm diesem Audiogramm rechts lediglich einen prozentualen Hörverlust von 40 und schätzte den GdB für den gesamten Hörverlust nur mit 20 nach der maßgeblichen Tabelle ein). Es bestand damals bereits ein Tinnitus. Ein weiteres Sprachaudiogramm von Dr.K. vom 22.01.2000 wurde von Prof. Dr.B. als Dokumentation eines Hörverlustes rechts von 50 % und links von 60 %, entsprechend einem GdB von 30, ausgelegt. Allerdings sei nicht klar, weshalb Dr.K. abweichend von der ohrenärztlichen Verordnung vom 14.10.1999 ein unterschiedliches 50 %-iges Zahlenverständnis rechts eingetragen habe. Wäre dies im Januar 2000 nicht geschehen, ergäbe sich rechts nur ein prozentualer Hörverlust von 40 und damit insgesamt ein GdB von 20 für die Hörverluste. Erheblich abweichend von Dr.K. stellte Dr.H. im Juni 2000 für die Bau-BG Bayern und Sachsen einen beidseitigen prozentualen Hörverlust von 30 und eine MdE von 15 v.H. ohne Rücksicht auf die Ursache fest (eine Lärmschwerhörigkeit mit einer MdE von unter 10 v.H.). Im Gutachten von Dr.T. wurde im Tonaudiogramm ein prozentualer Hörverlust von 30, im Sprachaudiogramm ein prozentualer Hörverlust von 60 festgestellt. Dennoch wurde der GdB mit 30 vorgeschlagen, da der Kläger im Sprachverständnis möglicherweise durch den ständigen und sehr störend empfundenen Tinnitus stark beeinträchtigt werde. Bei der sprachaudiometrischen Untersuchung am 15.07.2004 wurde nur noch ein prozentualer Hörverlust von 40 auf beiden Ohren festgestellt.

In Anbetracht dieser unterschiedlichen sprachaudiometrischen Feststellungen und Schwankungen im Hörvermögen des Klägers, dem keine Aggravation unterstellt wurde, stimmt der Senat der Auffassung von Prof.Dr.B. und des Beklagten insoweit zu, als davon auszugehen ist, dass lediglich ein prozentualer Hörverlust von 40 % beidseits mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen ist. Allerdings war es auch zutreffend und mit den AP Nr.26.5 (AP 1996 Seite 74) vereinbar, den GdB von 20 um 10 wegen des (bei der Untersuchung durch Prof.Dr.T.) als sehr störend empfundenen Tinnitus auf 30 zu erhöhen. Durch die vom Sozialgericht und vom Senat eingeholten Gutachten auf HNO- und nervenfachärztlichem Gebiet kann davon ausgegangen werden, dass es sich um einen nicht mit nennenswerten psychischen Begleiterscheinungen verbundenen Tinnitus beim Kläger handelt. Durch die Erhöhung des GdB für die Hörstörung wegen des Tinnitus ergibt sich keine Überschneidung mit der beim Kläger vorliegenden seelischen Störung; sie stellt auch keine Doppelbewertung dar. Vielmehr kann die Hörstörung einschließlich des Tinnitus klar von der seelischen Störung getrennt werden. Dies hat auch Dr.O. in ihrer Begutachtung im November 2002 deutlich gemacht, die eine multifaktorielle Genese der chronifizierten depressiven Entwicklung des Klägers (auch i.S. einer Anpassungsstörung, abhängig von psychosozialen Belastungen) diagnostizierte. Somit ist der GdB von 30 für die Hörstörung ab Februar 2002 die gewichtigste Behinderung, von der für die Bewertung des Gesamt-GdB auszugehen ist (zur Tinnitusbewertung: Königsteiner Merkblatt, Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit, Anmerkung 4.3.5; Schönberger-Mehrtens-Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, Nr.7.3.3.3.5, Lösch, Jäger und andere in "Der Medizinische Sachverständige" 1998 Seite 183 ff.).

Der GdB für die seelische Störung des Klägers wurde ab Oktober 1999 bis Juli 2003 zutreffend mit 20 eingeschätzt. Dies haben die vom Sozialgericht eingeholten psychiatrischen Gutachten von Dr.G. und Dr.O. bestätigt. Den Feststellungen des Nervenarztes R. , der im Rentenklageverfahren im Mai 2002, der von einer mittelgradigen bis schweren Depression des Klägers (GdB 40) ausging, konnte nicht gefolgt werden, da weder die o.g., in der ersten Instanz gehörten Sachverständigen Hinweise auf eine tiefer greifende Depression feststellen konnten noch der behandelnde Arzt Dr.R ... Die Befundbeschreibungen dieses Nervenarztes ab Januar 2001, die eine phasenhaft und schwankend verlaufende chronifizierte Depression wiedergaben, erlaubten nach Auffassung des Beklagten die Anhebung des GdB von 20 auf 30 ab Juli 2003 für die seelische Störung wegen der inzwischen eingetretenen Chronifizierung der Depression und zusammen mit drei weiteren Einzel-GdB-Werten von 20 die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers ab diesem Zeitpunkt.

Unter Berücksichtigung des vom Senat bereits ab Februar 2002 angenommenen Einzel-GdB von 30 für die Hörstörungen des Klägers und der Tatsache, dass die seelische Störung bereits damals weitgehend chronifiziert war, nervenärztlicher Behandlung bedurfte und daher bereits ebenfalls zu einem GdB von 30 tendierte, war der Gesamt-GdB von 50 bereits ab Februar 2002 anzusetzen.

Hinsichtlich der Einschätzung der Gesundheitsstörungen des Klägers durch seine Herzrhythmusstörungen und Herzmuskelerkrankung war dem Gutachten von Dr.E. und der Stellungnahme von Dr.S. vom 01.12.2003 in Erwiderung auf die Stellungnahme von Dr.N. zu folgen.

Es besteht auch kein Zweifel, dass der von Prof.Dr.L. in seinem Gutachten vom 11.11.2002 vorgeschlagene GdB von 20 für die Wirbelsäule relativ großzügig ist. Die vom Kläger geforderte Zusammenschau von Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten ist nach den AP nicht möglich, weil es sich dabei nicht um ein einheitliches Funktionssystem handelt (vgl. Nr.18 Abs.4 der AP 1996/2004).

Die Berufung war somit nur teilweise erfolgreich. Die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers war vor Februar 2002 nicht nachweisbar.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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