L 19 R 510/05 ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 R 4048/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 510/05 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Der Antrag der Beklagten auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem mit der Berufung angefochtenen Urteil des Sozialgerichts Würzburg wird abgelehnt.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Gründe:

Das Sozialgericht Würzburg (SG) hat mit Urteil vom 18.05.2005 die Beklagte verpflichtet, dem 1958 geborenen Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ab 01.07.2001 bis 30.06.2007 zu gewähren. Das SG geht zwar entsprechend den Feststellungen in dem gerichtsärztlichen Gutachten von Dr.D. und in den im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten von Dr.K. und Dr.A. von einer vollschichtigen Leistungsfähigkeit des Klägers aus, sieht jedoch den Arbeitsmarkt für den Kläger als verschlossen an. Die im Vordergrund der die Leistungsfähigkeit beeinträchtigenden Gesundheitsstörungen stehende Blindheit stelle eine spezifische Leistungsbehinderung dar. Nach einer Auskunft des Landesarbeitsamtes Bayern vom 19.09.2003 seien Arbeitsplätze für Sehbehinderte und Blinde nicht unter den üblichen Bedingungen des Arbeitslebens zu erreichen. Sie müssten regelmäßig erst im Einzelfall erschlossen und bei Einstellungsbereitschaft des Arbeitgebers behindertengerecht ausgestattet werden. Außerdem könne der Kläger den Weg zu einer Arbeitsstelle ohne zusätzliche Hilfestellung nicht bewältigen.

Zwar könne die verminderte Erwerbsfähigkeit des Klägers durch das Anbieten von entsprechenden Rehabilitationsleistungen überwunden werden, aber hierzu sei eine verbindliche Bewilligung bestimmter Leistungen nötig. Eine Erklärung, dass Rehabilitationsleistungen dem Grunde nach unter weiteren Bedingungen gewährt würden, sei nicht ausreichend. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Dauerrente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit verneinte das SG, da der Kläger noch in seinem Beruf als Jurist, den er vor seiner Übersiedlung in Kasachstan ausgeübt habe bzw als Telefonist, zu dem er umgeschult worden sei, tätig sein könne.

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil am 22.07.2205 Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie ausführt, den Entscheidungsgründen im angefochtenen Urteil könne nicht gefolgt werden. Der Kläger sei durch berufliche Rehabilitationsmaßnahmen zum Telekommunikationsoperator ausgebildet worden, und zwar in einer auf seine Sehbehinderung abgestimmten Weise. Es stehe außer Frage, dass die Beklagte, die bereits eine kostenintensive Ausbildung zur beruflichen Integration auf dem Arbeitsmarkt gefördert habe, auch bereit sei, die erforderlichen Kosten für eine Arbeitsplatzausstattung zu tragen, damit das eigentliche Ziel, die Eingliederung in den Arbeitsmarkt erreicht werden könne. Einer gesonderten Zusicherung hierfür bedürfe es nicht. Die vom SG zitierte Rechtsprechung des BSG bzw des BayLSG sei auf den vorliegenden Rechtsstreit nicht übertragbar.

Mit der Berufungseinlegung beantragt die Beklagte auch, die Vollstreckung aus dem angefochtenen Urteil auszusetzen. Eine eventuelle Rückforderung überzahlter Leistungen scheine nicht erfolgversprechend.

Nach § 154 Abs 2 SGG bewirkt die Berufung eines Versicherungsträgers Aufschub, soweit es sich um Beträge handelt, die für die Zeit vor Erlass des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen. Keine aufschiebende Wirkung tritt dagegen kraft Gesetzes für die Zeit nach Erlass des Urteils ein, wenn ein Versicherungsträger verurteilt wurde, dem Kläger eine Rente zu zahlen. Der Versicherungsträger ist daher verpflichtet, die sog. "Urteilsrente" einzuweisen, die der Kläger aber wieder zu erstatten hat, wenn das Urteil des Erstgerichts auf die Berufung hin oder in einem eventuellen Revisionsverfahren aufgehoben wird.

Auf Antrag oder von Amts wegen kann jedoch der Vorsitzende des für die Berufung zuständigen Senats des Landessozialgerichts gemäß § 199 Abs 2 SGG durch einstweilige Anordnung die Vollstreckung aus dem Urteil aussetzen - soweit die Berufung gemäß § 154 Abs 2 SGG keine aufschiebende Wirkung hat. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) soll eine Aussetzung allerdings nur dann erfolgen, wenn das Rechtsmittel offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat (BSG 12, 138; 33, 118, 121). Nach der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung ist der Auffassung des BSG nicht uneingeschränkt zu folgen und eine Aussetzung der Vollstreckung auch dann anzuordnen, wenn es nur überwiegend wahrscheinlich ist, dass er Leistungsträger mit seinem Rechtsmittel jedenfalls in wesentlichem Umfang Erfolg haben wird (s. Niesel, der Sozialgerichtsprozess, 4.Aufl, RdNr 400; Meyer-Ladewig, SGG, 7.Auflage, § 199, RdNrn 8 und 8a mwN). Zu berücksichtigen ist auch, ob in der Zwischenzeit geleistete Beträge nach Aufhebung des Urteils dann eingetrieben werden können. Das Interesse des Leistungsträgers an der Rüccerstattung der Leistung ist umso höher zu bewerten, je größer die Erfolgsaussichten der Berufung des Leistungsträgers einzuschätzen sind. Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass insbesondere dann, wenn in absehbarer Zeit ein Anspruch auf Altersrente entsteht, der Versicherungsträger nach § 51 Abs 2 SGB I aufrechnen kann bzw. sonst nach § 52 SGB I eventuell einen anderen Leistungsträger mit der Verrechnung beauftragen kann.

Vorliegend hängt die Erfolgsaussicht der Berufung wesentlich von der Beantwortung der Rechtsfrage ab, ob die Bereitschaft der Beklagten, dem Kläger gegebenenfalls Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu gewähren, ausreicht, um die Ausnahme eines verschlossenen Arbeitsmarktes bei einer besonderen spezifischen Leistungsbehinderung wie Blindheit auszuräumen, oder ob es hierzu einer verbindlichen Bewilligung konkreter Maßnahmen bedarf, wovon das SG unter Hinweis auf höchstrichterlicher Rechtsprechung (SozR 2200 § 1246 Nr 1349, SozR 3-2600 § 44 Nr 8 und Nr 10) ausgeht. Eine im Rahmen einer einstweiligen Anordnung lediglich kursorisch durchzuführende Prüfung spricht weder für eine offensichtliche Aussicht auf Erfolg der Berufung noch für eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass die Berufung der Beklagten jedenfalls in wesentlichem Umfang Erfolg haben wird, vielmehr ist der Ausgang des Berufungsverfahrens als offen anzusehen.

Unter diesen Umständen besteht unter Abwägung einerseits des Ineresses der Klägerin an der Vollstreckung des Urteils und andererseits des Interesses der Beklagten daran, vor endgültiger Klarstellung der Rechtslage nicht leisten müssen, kein Anlass, von der im Gesetz vorgesehenen Regelung, dass die Berufung gemäß § 154 Abs 2 SGG für die Zeit ab Erlass des angefochtenen Urteils keine aufschiebende Wirkung hat, abzuweichen.

Die Entscheidung über die Kosten (siehe BayLSG NZS 97, 96) beruht auf der Erwägung, dass der Antrag der Beklagten abgelehnt wurde.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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