Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 16 AS 421/12 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 222/12 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Entziehung nach § 66 SGB I im einstweiligen Rechtsschutz
Ein Entziehungsbescheid nach § 66 SGB I wird von § 39 SGB II in der ab 01.04.2011 geltenden Fassung nicht mehr erfasst. Widerspruch und Anfechtungsklage haben deshalb nach § 86a Abs. 1 SGG automatisch aufschiebende Wirkung.
Beschlüsse des Sozialgerichts im einstweiligen Rechtsschutz entfalten formelle und materielle Rechtskraft. Sie schaffen eine für die Beteiligten bindende Entscheidung über eine vorläufige Regelung. Die Verwaltung ist daher gehindert, Verwaltungsakte zu vollziehen, die die Rechtskraft der vorangehenden Eilentscheidung unterlaufen.
Ein Entziehungsbescheid nach § 66 SGB I wird von § 39 SGB II in der ab 01.04.2011 geltenden Fassung nicht mehr erfasst. Widerspruch und Anfechtungsklage haben deshalb nach § 86a Abs. 1 SGG automatisch aufschiebende Wirkung.
Beschlüsse des Sozialgerichts im einstweiligen Rechtsschutz entfalten formelle und materielle Rechtskraft. Sie schaffen eine für die Beteiligten bindende Entscheidung über eine vorläufige Regelung. Die Verwaltung ist daher gehindert, Verwaltungsakte zu vollziehen, die die Rechtskraft der vorangehenden Eilentscheidung unterlaufen.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 29. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
Der Beschluss des Sozialgerichts München vom 29. Februar 2012 wird dahingehend abgeändert, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Entziehungsbescheid vom 02.02.2012 festgestellt wird
II. Der Beschwerdeführer hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist eine Entziehung von Arbeitslosengeld II wegen fehlender Mitwirkung des Antragstellers nach § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) strittig.
Der 1964 geborene Antragsteller und Beschwerdegegner bezieht seit Mitte 2006 Arbeitslosengeld II vom Antragsgegner.
Im Oktober 2011 kündigte der Antragsgegner dem Antragsteller eine Einladung zur Untersuchung beim psychologischen Dienst der Agentur für Arbeit an. Ein dagegen vom Antragsteller angestrengtes Eilverfahren (Az. S 16 AS 2822/11 ER) blieb erfolglos. Die Agentur für Arbeit bestellte den Antragsteller Ende Oktober 2011 zu psychologischen Untersuchung am 04.11.2011 ein. Der Antragsteller nahm den Termin nicht wahr.
Am 21.11.2011 beantragte der Antragsteller Leistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts "nach dem Grundgesetz". Die Vorschriften des SGB II seien verfassungswidrig. Mit Bescheid vom 05.12.2011 (S. 1223 der Verwaltungsakte) lehnte der Antragsgegner die Weitergewährung von Leistungen ab. Es bestehe lediglich eine sachliche Zuständigkeit für Leistungen nach dem SGB II, nicht für Leistungen direkt nach dem Grundgesetz.
Der Antragsteller legte gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch ein und beantragte gleichzeitig einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht München. Mit Beschluss vom 12.01.2012 (Az. S 16 AS 3250/11 ER) verpflichtete das Sozialgericht München den Antragsgegner für Januar 2012 vorläufig 777,60 Euro zu gewähren sowie für die Monate Februar bis Juni 2012 jeweils 814,- Euro. Zur Umsetzung dieses Beschlusses verfügte der Antragsgegner den Bescheid vom 23.01.2012 (S. 1264). Er bewilligte darin "aufgrund vorliegenden Beschluss des Sozialgerichts München" Leistungen gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) in der vom Sozialgerichts verfügten Höhe zuzüglich 10,- Euro monatlich infolge der Erhöhung des Regelbedarfs.
Mit Bescheid vom 02.02.2012 (S. 1289) entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die bewilligten Leistungen ab 01.03.2012 vollständig gemäß §§ 62, 66 SGB I. Der Antragsteller sei darüber informiert worden, dass aufgrund seiner wiederholten schriftlichen Äußerungen bzw. Verunglimpfungen Zweifel an seiner Erwerbsfähigkeit bestünden. Der Antragsteller sei trotz Rechtsfolgenbelehrung der Einladung zu Untersuchung zum psychologischen Dienst nicht gefolgt.
Der Antragsteller legte gegen den Einziehungsbescheid am 14.02.2012 Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist. Ebenfalls am 14.02.2012 stellte der Antragsteller beim Sozialgericht München einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Mit Beschluss vom 29.02.2012 ordnete das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Einziehungsbescheid an. Der Einziehungsbescheid falle unter § 39 Nr. 1 SGB II und sei deshalb sofort vollziehbar. Es bestünden jedoch ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Bescheids. Es handele sich um einen Verstoß gegen eine Meldepflicht nach § 59 II i.V.m. § 309 SGB III, der lediglich nach § 32 SGB II zu sanktionieren sei, nicht aber nach § 66 SGB I.
Der Antragsgegner hat am 09.03.2012 Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt. Bei einer Einziehung nach § 66 SGB I und einer Sanktion nach § 32 SGB II handle es sich um zwei verschiedene Verfahrensarten, die nebeneinander stünden. Eine Sanktion nach § 32 SGB II diene der Arbeitsvermittlung und unterscheidet sich hinsichtlich Voraussetzungen und Rechtsfolgen von einem Verfahren nach §§ 60 ff SGB I, das der Prüfung der Leistungsberechtigung diene.
Der Antragsgegner beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts München vom 29.02.2012 aufzuheben und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Entziehungsbescheid vom 02.02.2012 abzulehnen.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Antragsteller hat zur Beschwerde dahingehend Stellung genommen, dass das Gericht ihm mitteilen möge, ob er als natürliche oder juristische Person angeschrieben worden sei. Er berufe sich auf die Grundgesetzartikel 1, 2, 3, 4, 5, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20 und 21 sowie § 1 BGB und die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akte des Antragsgegners, die Akte des Sozialgerichts und die Akte des Beschwerdegerichts verwiesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Beschwerde ist unbegründet, weil das Sozialgericht den Vollzug des Entziehungsbescheids im Ergebnis zu Recht unterbunden hat. Der Tenor des sozialgerichtlichen Beschlusses wurde aus Gründen der Klarheit der Entscheidung neu gefasst.
Streitgegenstand ist, ob der Entziehungsbescheid vom 02.02.2012 vollzogen werden darf oder der dagegen erhobene Widerspruch aufschiebende Wirkung hat.
Seit der Neufassung des § 39 SGB II zum 01.04.2011 ist eine Entziehung der bewilligten Leistung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I nicht mehr sofort vollziehbar gemäß § 39 Nr. 1 SGB II. Ein Widerspruch hat daher automatisch gemäß § 86a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung (ebenso LSG Hessen, Beschluss vom 16.01.2012, L 6 AS 570/11 B ER). Diese kraft Gesetzes bestehende aufschiebende Wirkung ist durch einen deklaratorischen Beschluss analog § 86b Abs. 1 Satz 1 SGG festzustellen, da die Behörde diese bestreitet (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 10. Auflage 2012, § 86b Rn. 15).
Für die bis zum 31.03.2011 geltende Fassung von § 39 SGB II hat der erkennende Senat den Sofortvollzug einer Entziehung nach § 66 SGB I bejaht, weil in der damaligen Fassung von § 39 Nr. 1 SGB II auch Verwaltungsakte erfasst waren, die "Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ... herabsetzten". Unter diesen weiten Begriff fiel auch die Entziehung von Leistungen (BayLSG, Beschluss vom 11.04.2011, L 7 AS 214/11 B ER).
In der ab 01.04.2011 geltenden Fassung (Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011, BGBl I, S. 453) wurde die Herabsetzung gestrichen und die Wendung "die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt" eingefügt. Diese Wendung bezieht sich nach dem Wortlaut und ausweislich der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 17/3404, S. 114) auf Sanktionen nach §§ 31 ff SGB II. Damit enthält die abschließende Aufzählung in § 39 Nr. 1 SGB II nunmehr nur noch präzise Fachbegriffe des Verwaltungsverfahrensrechts, ohne die Entziehung nach § 66 SGB I zu erfassen. Eine erweiternde Auslegung des § 39 Nr. 1 SGB II ist angesichts des Ausnahmecharakters dieser Vorschrift nicht möglich.
Ein Entziehungsbescheid eines Jobcenters wird auch nicht von § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG erfasst, weil dort nur der Sofortvollzug von Entziehungsbescheiden der Bundesagentur für Arbeit angeordnet wird. Das Sozialgerichtsgesetz unterscheidet auch sonst die Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit und die Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende, vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 4 und 4a SGG (Keller, a.a.O., § 86a Rn. 14).
Selbst wenn man - wie das Sozialgericht - davon ausginge, dass § 39 Nr. 1 SGB II noch immer den Sofortvollzug eines Entziehungsbescheids anordnen würde, müsste der Vollzug dieses Bescheids im Eilverfahren unterbunden werden, weil dieser Bescheid rechtswidrig ist.
Der Bescheid vom 23.01.2012 dient erkennbar dem Vollzug des Beschlusses des Sozialgerichts vom 12.01.2012 im vorangegangenen Eilverfahren S 16 AS 3250/11 ER. Dass dieser Bescheid zu Unrecht als vorläufige Entscheidung nach § 328 SGB III erging (diese Vorschrift setzt voraus, dass die Behörde selbst einen Leistungsanspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit dem Grunde nach bejaht) und nicht nur als reiner Ausführungsbescheid ohne weitere Rechtsgrundlage, ändert daran nichts.
Beschlüsse des Sozialgerichts im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entfalten formelle und materielle Rechtskraft. Sie schaffen eine für die Beteiligten endgültige Entscheidung über eine vorläufige Regelung (Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Auflage 2008, Rn. 40; Keller, a.a.O., § 86b Rn. 19a und 44a). Die Behörde ist aufgrund der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung gezwungen, die ihr im Eilverfahren auferlegten Leistungen zur erbringen. Dies gilt soweit, wie die materielle Rechtskraft reicht, also über den Streitgegenstand entsprechend § 141 SGG entschieden wurde.
Diese Leistungsverpflichtung entfällt nur, wenn sie im Beschwerdeverfahren vom LSG aufgehoben wird, ein Abänderungsbeschluss ergeht (vgl. Keller, a.a.O., § 86b Rn. 20 und 45), in der Hauptsache eine ablehnende Entscheidung bestandskräftig wird (vgl. Keller, a.a.O. zur aufschiebenden Wirkung § 86b Rn. 19a) oder sich ein neuer Streitgegenstand ergibt. Vorläufig wird die Leistungsverpflichtung aufgeschoben, wenn die Vollstreckung vom Vorsitzenden des Beschwerdegerichts nach § 199 Abs. 2 SGG ausgesetzt wird oder vom Sozialgericht nach § 175 Satz 3 SGG.
Derartige Ereignisse liegen hier nicht vor. Insbesondere betrifft das Bestreiten der Erwerbsfähigkeit im Entziehungsbescheid die Voraussetzungen der vorläufigen Leistungsverpflichtung. Der Antragsgegner kann deshalb den Vollzug des sozialgerichtlichen Beschlusses vom 12.01.2012 nicht dadurch unterlaufen, indem er die Entziehung der vom Sozialgericht angeordneten Leistung verfügt und vollzieht.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Der Beschluss des Sozialgerichts München vom 29. Februar 2012 wird dahingehend abgeändert, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Entziehungsbescheid vom 02.02.2012 festgestellt wird
II. Der Beschwerdeführer hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist eine Entziehung von Arbeitslosengeld II wegen fehlender Mitwirkung des Antragstellers nach § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) strittig.
Der 1964 geborene Antragsteller und Beschwerdegegner bezieht seit Mitte 2006 Arbeitslosengeld II vom Antragsgegner.
Im Oktober 2011 kündigte der Antragsgegner dem Antragsteller eine Einladung zur Untersuchung beim psychologischen Dienst der Agentur für Arbeit an. Ein dagegen vom Antragsteller angestrengtes Eilverfahren (Az. S 16 AS 2822/11 ER) blieb erfolglos. Die Agentur für Arbeit bestellte den Antragsteller Ende Oktober 2011 zu psychologischen Untersuchung am 04.11.2011 ein. Der Antragsteller nahm den Termin nicht wahr.
Am 21.11.2011 beantragte der Antragsteller Leistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts "nach dem Grundgesetz". Die Vorschriften des SGB II seien verfassungswidrig. Mit Bescheid vom 05.12.2011 (S. 1223 der Verwaltungsakte) lehnte der Antragsgegner die Weitergewährung von Leistungen ab. Es bestehe lediglich eine sachliche Zuständigkeit für Leistungen nach dem SGB II, nicht für Leistungen direkt nach dem Grundgesetz.
Der Antragsteller legte gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch ein und beantragte gleichzeitig einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht München. Mit Beschluss vom 12.01.2012 (Az. S 16 AS 3250/11 ER) verpflichtete das Sozialgericht München den Antragsgegner für Januar 2012 vorläufig 777,60 Euro zu gewähren sowie für die Monate Februar bis Juni 2012 jeweils 814,- Euro. Zur Umsetzung dieses Beschlusses verfügte der Antragsgegner den Bescheid vom 23.01.2012 (S. 1264). Er bewilligte darin "aufgrund vorliegenden Beschluss des Sozialgerichts München" Leistungen gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) in der vom Sozialgerichts verfügten Höhe zuzüglich 10,- Euro monatlich infolge der Erhöhung des Regelbedarfs.
Mit Bescheid vom 02.02.2012 (S. 1289) entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die bewilligten Leistungen ab 01.03.2012 vollständig gemäß §§ 62, 66 SGB I. Der Antragsteller sei darüber informiert worden, dass aufgrund seiner wiederholten schriftlichen Äußerungen bzw. Verunglimpfungen Zweifel an seiner Erwerbsfähigkeit bestünden. Der Antragsteller sei trotz Rechtsfolgenbelehrung der Einladung zu Untersuchung zum psychologischen Dienst nicht gefolgt.
Der Antragsteller legte gegen den Einziehungsbescheid am 14.02.2012 Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist. Ebenfalls am 14.02.2012 stellte der Antragsteller beim Sozialgericht München einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Mit Beschluss vom 29.02.2012 ordnete das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Einziehungsbescheid an. Der Einziehungsbescheid falle unter § 39 Nr. 1 SGB II und sei deshalb sofort vollziehbar. Es bestünden jedoch ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Bescheids. Es handele sich um einen Verstoß gegen eine Meldepflicht nach § 59 II i.V.m. § 309 SGB III, der lediglich nach § 32 SGB II zu sanktionieren sei, nicht aber nach § 66 SGB I.
Der Antragsgegner hat am 09.03.2012 Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt. Bei einer Einziehung nach § 66 SGB I und einer Sanktion nach § 32 SGB II handle es sich um zwei verschiedene Verfahrensarten, die nebeneinander stünden. Eine Sanktion nach § 32 SGB II diene der Arbeitsvermittlung und unterscheidet sich hinsichtlich Voraussetzungen und Rechtsfolgen von einem Verfahren nach §§ 60 ff SGB I, das der Prüfung der Leistungsberechtigung diene.
Der Antragsgegner beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts München vom 29.02.2012 aufzuheben und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Entziehungsbescheid vom 02.02.2012 abzulehnen.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Antragsteller hat zur Beschwerde dahingehend Stellung genommen, dass das Gericht ihm mitteilen möge, ob er als natürliche oder juristische Person angeschrieben worden sei. Er berufe sich auf die Grundgesetzartikel 1, 2, 3, 4, 5, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20 und 21 sowie § 1 BGB und die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akte des Antragsgegners, die Akte des Sozialgerichts und die Akte des Beschwerdegerichts verwiesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Beschwerde ist unbegründet, weil das Sozialgericht den Vollzug des Entziehungsbescheids im Ergebnis zu Recht unterbunden hat. Der Tenor des sozialgerichtlichen Beschlusses wurde aus Gründen der Klarheit der Entscheidung neu gefasst.
Streitgegenstand ist, ob der Entziehungsbescheid vom 02.02.2012 vollzogen werden darf oder der dagegen erhobene Widerspruch aufschiebende Wirkung hat.
Seit der Neufassung des § 39 SGB II zum 01.04.2011 ist eine Entziehung der bewilligten Leistung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I nicht mehr sofort vollziehbar gemäß § 39 Nr. 1 SGB II. Ein Widerspruch hat daher automatisch gemäß § 86a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung (ebenso LSG Hessen, Beschluss vom 16.01.2012, L 6 AS 570/11 B ER). Diese kraft Gesetzes bestehende aufschiebende Wirkung ist durch einen deklaratorischen Beschluss analog § 86b Abs. 1 Satz 1 SGG festzustellen, da die Behörde diese bestreitet (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 10. Auflage 2012, § 86b Rn. 15).
Für die bis zum 31.03.2011 geltende Fassung von § 39 SGB II hat der erkennende Senat den Sofortvollzug einer Entziehung nach § 66 SGB I bejaht, weil in der damaligen Fassung von § 39 Nr. 1 SGB II auch Verwaltungsakte erfasst waren, die "Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ... herabsetzten". Unter diesen weiten Begriff fiel auch die Entziehung von Leistungen (BayLSG, Beschluss vom 11.04.2011, L 7 AS 214/11 B ER).
In der ab 01.04.2011 geltenden Fassung (Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011, BGBl I, S. 453) wurde die Herabsetzung gestrichen und die Wendung "die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt" eingefügt. Diese Wendung bezieht sich nach dem Wortlaut und ausweislich der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 17/3404, S. 114) auf Sanktionen nach §§ 31 ff SGB II. Damit enthält die abschließende Aufzählung in § 39 Nr. 1 SGB II nunmehr nur noch präzise Fachbegriffe des Verwaltungsverfahrensrechts, ohne die Entziehung nach § 66 SGB I zu erfassen. Eine erweiternde Auslegung des § 39 Nr. 1 SGB II ist angesichts des Ausnahmecharakters dieser Vorschrift nicht möglich.
Ein Entziehungsbescheid eines Jobcenters wird auch nicht von § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG erfasst, weil dort nur der Sofortvollzug von Entziehungsbescheiden der Bundesagentur für Arbeit angeordnet wird. Das Sozialgerichtsgesetz unterscheidet auch sonst die Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit und die Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende, vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 4 und 4a SGG (Keller, a.a.O., § 86a Rn. 14).
Selbst wenn man - wie das Sozialgericht - davon ausginge, dass § 39 Nr. 1 SGB II noch immer den Sofortvollzug eines Entziehungsbescheids anordnen würde, müsste der Vollzug dieses Bescheids im Eilverfahren unterbunden werden, weil dieser Bescheid rechtswidrig ist.
Der Bescheid vom 23.01.2012 dient erkennbar dem Vollzug des Beschlusses des Sozialgerichts vom 12.01.2012 im vorangegangenen Eilverfahren S 16 AS 3250/11 ER. Dass dieser Bescheid zu Unrecht als vorläufige Entscheidung nach § 328 SGB III erging (diese Vorschrift setzt voraus, dass die Behörde selbst einen Leistungsanspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit dem Grunde nach bejaht) und nicht nur als reiner Ausführungsbescheid ohne weitere Rechtsgrundlage, ändert daran nichts.
Beschlüsse des Sozialgerichts im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entfalten formelle und materielle Rechtskraft. Sie schaffen eine für die Beteiligten endgültige Entscheidung über eine vorläufige Regelung (Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Auflage 2008, Rn. 40; Keller, a.a.O., § 86b Rn. 19a und 44a). Die Behörde ist aufgrund der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung gezwungen, die ihr im Eilverfahren auferlegten Leistungen zur erbringen. Dies gilt soweit, wie die materielle Rechtskraft reicht, also über den Streitgegenstand entsprechend § 141 SGG entschieden wurde.
Diese Leistungsverpflichtung entfällt nur, wenn sie im Beschwerdeverfahren vom LSG aufgehoben wird, ein Abänderungsbeschluss ergeht (vgl. Keller, a.a.O., § 86b Rn. 20 und 45), in der Hauptsache eine ablehnende Entscheidung bestandskräftig wird (vgl. Keller, a.a.O. zur aufschiebenden Wirkung § 86b Rn. 19a) oder sich ein neuer Streitgegenstand ergibt. Vorläufig wird die Leistungsverpflichtung aufgeschoben, wenn die Vollstreckung vom Vorsitzenden des Beschwerdegerichts nach § 199 Abs. 2 SGG ausgesetzt wird oder vom Sozialgericht nach § 175 Satz 3 SGG.
Derartige Ereignisse liegen hier nicht vor. Insbesondere betrifft das Bestreiten der Erwerbsfähigkeit im Entziehungsbescheid die Voraussetzungen der vorläufigen Leistungsverpflichtung. Der Antragsgegner kann deshalb den Vollzug des sozialgerichtlichen Beschlusses vom 12.01.2012 nicht dadurch unterlaufen, indem er die Entziehung der vom Sozialgericht angeordneten Leistung verfügt und vollzieht.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
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