L 8 SO 117/14 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
8
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 3 SO 26/14 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 SO 117/14 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Dem Sozialhilfeträger fehlt es auch dann nicht an einem Rechtsschutzinteresse für eine Beschwerde nach §§ 172 ff. SGG gegen eine einstweilige Anordnung, wenn er der vom SG ausgesprochenen Verpflichtung zur vorläufigen Leistungsgewährung zwischenzeitlich in vollem Umfang nachgekommen ist (entgegen Bayer. LSG, Beschlüsse vom 10.07.2009, L 7 AS 323/09 B ER, vom 24.02.2011, L 7 AS 54/11 B ER, und vom 11.04.2011, L 16 AS 168/11 B ER).
2. Besondere Lebensumstände mit sozialen Schwierigkeiten iS des § 67 SGB XII liegen grundsätzlich vor, wenn bei Haftentlassung Wohnungslosigkeit besteht (BSG, Urteil vom 12.12.2013, B 8 SO 24/12 R).
3. Bei der Erbringung von Leistungen nach §§ 67 ff. SGB XII steht dem Sozialhilfeträger ein Auswahlermessen zu. Dabei kommt der (gesamten oder verbleibenden) Haftdauer jedenfalls kein allein entscheidendes Gewicht zu (BSG, a.a.O.).
I. Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 24. April 2014 aufgehoben.

II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.



Gründe:


I.

Das vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes betrifft die Frage, ob dem Antragsteller gegen den Antragsgegner ein Anspruch auf Übernahme von Mietkosten für die Zeit seiner Inhaftierung zusteht.

Der 1955 geborene Antragsteller stellte am 11.11.2013 beim Beklagten Antrag auf Übernahme der Mietkosten für die Zeit seiner Inhaftierung. Er legte eine Haftbescheinigung vor, der zu entnehmen ist, dass er sich seit 18.03.2013 in Haft befand. Als frühest mögliches Haftende war der 17.07.2014 angegeben, als voraussichtliches Haftende der 17.03.2015. Weiter legte der Antragsteller eine Bescheinigung der Wohnungsbau GmbH A-Stadt vor, der zu entnehmen ist, dass er seit 01.09.2009 eine 45,77 m² große Wohnung angemietet hat, für die ab 01.09.2013 eine Bruttowarmmiete von monatlich 298,05 Euro zu entrichten war, ab 01.01.2014 eine solche von 312,69 Euro.

Mit Bescheid vom 12.11.2013 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Übernahme der Mietkosten ab. Eine Mietübernahme komme grundsätzlich nur bei einer Haftdauer von bis zu 6 Monaten in Betracht. Die Entscheidung entspreche pflichtgemäßem Ermessen. Gegen den Bescheid wurde mit Schreiben vom 27.11.2013 Widerspruch eingelegt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass es nicht auf die Haftdauer, sondern auf die Beachtung des Resozialisierungsgebotes ankomme und infolgedessen die Mietaufwendungen auch bei einer längeren Haftdauer zu übernehmen seien. Weiter führte der Antragsteller an, dass ein Wegzug oder ein Wohnungswechsel für ihn nicht akzeptabel sei. Der Widerspruch wurde mit Schreiben vom 20.01.2014 der Regierung von Schwaben vorgelegt. Ein Widerspruchsbescheid ist noch nicht ergangen.

Am 30.01.2014 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht (VG) B-Stadt um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Er hat beantragt, den Antragsgegner zur Übernahme der Mietkosten ab 30.10.2013 zu verpflichten. Mit Beschluss vom 10.02.2014 hat das VG das Verfahren an das Sozialgericht Augsburg (SG) verwiesen.

Der Antragsteller hat zur Begründung ausgeführt, bis Oktober 2013 habe seine "Noch-Ehefrau" die Miete überwiesen. Grund für das Begehren seien der Resozialisierungsanspruch und die damit verbundenen vollzugsoffenen Maßnahmen, wie z. B. Ausgang und Urlaub sowie eine Entlassungsperspektive. Er benötige die Wohnung dringend nach seiner Entlassung zum Zweidrittelzeitpunkt (17.07.2014) um nicht in die Obdachlosigkeit zu fallen, insbesondere für die übergangslose Aufnahme einer Tätigkeit als Transportunternehmer. Auf Grund einer Knieoperation sei er auf Nachbarschaftshilfe und Sozialkontakte angewiesen. Im Übrigen würden Abbau und Einlagerung der Möbel mehr kosten als die Übernahme der Miete. Die Wohnung sei in einem tadellosen Zustand und werde regelmäßig gelüftet und gesäubert.

Der Antragsteller hat schließlich ein Kündigungsschreiben seiner Vermieter vom 05.03.2014 und eine Räumungsklage vom 17.03.2014 vorgelegt.

Der Antragsgegner ist dem Eilantrag entgegengetreten.

Mit Beschluss vom 24. April 2014 hat das SG den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller die Miete ab 1. November 2013 für die Wohnung in der A-Straße 23 in A-Stadt zu gewähren. Die Leistungen für die Unterkunft seien direkt an den Vermieter, die Wohnungsbau GmbH A-Stadt, zu entrichten.

Zur Begründung hat das SG ausgeführt, dem nun auf den Zeitraum 01.11.2013 bis 17.07.2014 eingeschränkten Antrag sei stattzugeben. Beim Antragsteller bestehe sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund. Auch die Interessenabwägung falle zu seinen Gunsten aus. Der Anordnungsanspruch, ergebe sich aus §§ 67 bis 69 SGB XII in Verbindung mit der Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach §§ 67, 68 SGB XII. Gemäß § 67 Abs. 1 Satz 1 SGB XII seien leistungsberechtigt Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden seien. Derartige besondere Lebensverhältnisse beständen nach der in § 1 Abs. 2 der Verordnung genannten Typik bei Personen, die aus einer geschlossenen Einrichtung entlassen würden. Das sei bei der Entlassung aus der Haft der Fall. Nach dem Ende der Haft drohe dem Betreffenden Obdachlosigkeit, wenn er nicht in seine Wohnung zurückkehren könne.

Aufgrund der Räumungsklage vom 17.03.2014 drohe Wohnungslosigkeit. Der frühestmögliche Entlassungstermin sei der 17.07.2014. Zu diesem Zeitpunkt habe der Antragsteller bereits mehr als 12 Monate Haft verbüßt. Das LSG Nordrhein-Westfalen habe in seinem Beschluss vom 30.06.2005 (L 20 B 2/05 SO ER) offen gelassen, ob für die Leistung während der Inhaftierung nur ein Zeitraum von bis zu 6 Monaten angemessen sei.

Das Bundessozialgericht habe nun in seinem Urteil vom 12.12.2013 (B 8 SO 24/12 R) ausgeführt, dass es nicht auf die Gesamtdauer der Haft, sondern auf den (voraussichtlichen) Leistungszeitraum bis zur Haftentlassung ankomme. Aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität biete es sich an, Leistungen im Regelfall nur für einen Zeitraum von bis zu einem Jahr zu bewilligen. Der Antragsteller habe den Antrag ab 01.11.2013 gestellt. Bis 17.07.2014 würden somit lediglich 9 Mietzahlungen anfallen. Deshalb könne hier für den gesamten beantragten Zeitraum die Mietzahlung angeordnet werden.

Nach den Ausführungen des Klägerbevollmächtigten sei der Vermieter nicht bereit, das Mietverhältnis fortzusetzen, wenn die Miete lediglich ab 14.02.2014 bezahlt würde. Daher seien ausnahmsweise im Eilverfahren Leistungen für einen Zeitraum vor Antragstellung bei Gericht - nämlich ab 01.11.2013 - zuzusprechen. Bei vollständiger Zahlung der offenen Miete greife § 569 Abs. 3 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ein und die außerordentliche Kündigung werde kraft Gesetzes unwirksam.

Auch ein Anordnungsgrund liege vor.

Der Beschluss ist dem Antragsgegner am 30.04.2014 zugestellt worden.

Der Antragsgegner hat die Mieten für die Monate November 2013 bis Juli 2014 am 12.05.2014 an den Vermieter überwiesen. Dies wurde dem Bevollmächtigten des Antragstellers mitgeteilt. Die Zahlung erfolge unter dem Vorbehalt des Obsiegens in einem möglichen Beschwerdeverfahren.

Am 27.05.2014 hat der Antragsgegner Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Es sei nicht glaubhaft dargelegt worden, inwieweit die Voraussetzungen des § 67 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit der hierzu ergangenen Verordnung beim Antragsteller vorlägen. Zwar bestehe ein Mangel an Wohnraum. Der Begriff der besonderen Lebensverhältnisse meine aber deutlich mehr als die Verwirklichung eines typischen gesellschaftlichen Lebensrisikos wie Arbeitslosigkeit und Wohnungsverlust. Erforderlich sei eine besondere Mangelsituation, die sich hinsichtlich ihrer Art und Intensität von der Verwirklichung und dem Eintritt eines allgemeinen Lebensrisikos unterscheide. Eine derartige Situation sei vorliegend nicht erkennbar. Darüber hinaus sei in dem angefochtenen Beschluss nicht ausreichend gewertet worden, ob der Antragsteller zum Personenkreis mit sozialen Schwierigkeiten gehöre, bei dem im Sinne der Verordnung die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft wesentlich eingeschränkt sei. Dies sei der Fall, wenn ein Leben in der Gemeinschaft durch ausgrenzendes Verhalten des Hilfesuchenden oder eines Dritten wesentlich eingeschränkt sei. Es müssten Umstände bestehen, die dazu führten, dass bei der betreffenden Person eine erhebliche Beeinträchtigung vorliege, die auf Dauer eine Ausgliederung aus der Gemeinschaft erwarten lasse. Das BSG habe in seinem Urteil vom 12.12.2013 (B 8 SO 24/12 R) dazu ausgeführt, dass es sich nicht in erster Linie um wirtschaftliche Schwierigkeiten handele, sondern "die Beeinträchtigung der Interaktion mit dem sozialen Umfeld und damit die Einschränkung der Teilhabe am Leben und in der Gemeinschaft" gemeint sei. Eine derartige Einschränkung sei jedoch auf Grund der bisherigen Ausführungen zur Lebenssituation des Antragstellers nicht ersichtlich und auch nicht zu erwarten. Insbesondere nach der Erklärung des Bevollmächtigten, dass eine "befreundete Familie" die Wohnung des Antragstellers lüfte und säubere, könne unzweifelhaft die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft angenommen werden. Das BSG habe in dem bereits zitierten Urteil ausgeführt, dass der drohende Wohnungsverlust nach der Haftentlassung dem Grundsatz nach den besonderen Lebensumständen mit sozialen Schwierigkeiten zugeordnet werde und infolge dessen eine weiter gehende Überprüfung, ob soziale Schwierigkeiten mit dem drohenden Wohnungsverlust einhergingen, angezeigt sei. Die für den Antragsteller geltend gemachten Probleme stellten nur Lebensschwierigkeiten allgemeiner Art dar und reichten nicht aus, um eine Hilfegewährung gem. §§ 67, 68 SGB XII zu begründen.

Im Übrigen seien bisher keinerlei Eigenbemühungen des Antragstellers auf Erlangung von neuem Wohnraum oder andere Lösungsmöglichkeiten zur Überwindung seiner Schwierigkeiten nachgewiesen worden. Andere Hilfsangebote (Einlagerung der Wohnungseinrichtung) habe der Antragsteller grundsätzlich verweigert. Daher könne nicht festgestellt werden, dass der Antragsteller aus eigener Kraft nicht fähig sei, die vorhandenen Schwierigkeiten zu überwinden.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 24. April 2014 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Es fehle an einem Rechtsschutzinteresse des Antragsgegners für die Beschwerde. Die streitgegenständlichen Leistungen seien vorläufig gewährt worden. Ob diese Leistungen dem Antragsteller tatsächlich zuständen oder zu erstatten seien, sei nicht im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens, sondern im Hauptsacheverfahren zu klären. Ein gesondertes Interesse des Antragsgegners an einer kurzfristigen Entscheidung bestehe nicht. Die Einlagerung der Wohnungseinrichtung sei unwirtschaftlich und stelle deshalb keine Alternative dar. Die Anmietung neuen Wohnraums aus der Haft heraus sei ausgeschlossen.

Nach Mitteilung seines Bevollmächtigten wurde der Antragsteller am 04.08.2014 aus der Haft entlassen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und auf die beigezogenen Akten des Antragsgegners verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist nach §§ 172, 173 SGG zulässig. Sie ist nach § 172 Abs. 1 SGG statthaft; die Ausschlussvorschrift des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG greift nicht ein, weil in der Hauptsache die Berufung ohne Zulassung statthaft wäre. Die Beschwerde wurde form- und fristgerecht eingelegt (§ 173 SGG).

Auch ein Rechtsschutzbedürfnis liegt vor. Es ist insbesondere nicht dadurch entfallen, dass der Antragsgegner seiner Verpflichtung aus dem Beschluss des SG vom 24. April 2014 in vollem Umfang nachgekommen ist (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 86b Rn. 47 m.w.N.). Der Senat folgt damit nicht der Rechtsprechung des 7. Senats (Beschlüsse vom 10.07.2009, L 7 AS 323/09 B ER, und vom 24.02.2011, L 7 AS 54/11 B ER) und des 16. Senats (Beschluss vom 11.04.2011, L 16 AS 168/11 B ER) des Bayer. Landessozialgerichts, sondern wiederholt seine Rechtsansicht aus dem Beschluss vom 31.07.2012, L 8 SO 78/12 B ER.

Zwar hat das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes lediglich den Zweck, eine vorläufige Regelung für den Zeitraum bis zur Hauptsacheentscheidung herbeizuführen. Die Eilentscheidung schafft nur eine prozessuale Zwischenregelung; es ist dem Hauptsacheverfahren vorbehalten zu klären, ob bei einer Regelungsanordnung das materielle Recht tatsächlich besteht oder nicht (Bayer. LSG, Beschluss vom 10.07.2009, L 7 AS 323/09 B ER m.w.N.). Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Gesetzgeber im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes das Rechtsmittel der Beschwerde vorgesehen hat, das allen Beteiligten gleichermaßen zusteht, soweit sie ihr prozessuales Ziel im erstinstanzlichen Eilverfahren nicht erreicht haben. Der Gesetzgeber macht den Zugang zur Beschwerdeinstanz nicht vom Ausgang des erstinstanzlichen Verfahrens abhängig. Die inhaltliche Überprüfung einer erstinstanzlichen Entscheidung müssen also Sozialleistungsträger, die sich gegen eine einstweilige Anordnung wehren wollen, unter denselben Voraussetzungen erreichen können wie Antragsteller, die sich gegen die Ablehnung eines Eilantrags wehren wollen.

Eine Beschränkung des Zugangs zur Beschwerdeinstanz liegt insbesondere nicht darin, dass der Gesetzgeber die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen eine einstweilige Anordnung nicht vorgesehen hat. Dieser Umstand hat zwar zur Folge, dass die streitgegenständliche Leistung zunächst zu erbringen ist. Dies führt aber ebensowenig zum Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses im Beschwerdeverfahren wie die Ausführung eines erstinstanzlichen Urteils zum Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses im Berufungsverfahren führt.

Aus der vorläufigen Natur einer einstweiligen Anordnung ergibt sich nichts anderes. Dies lässt sich aus § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG ableiten. Danach entscheidet über die Aussetzung der Vollstreckung der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat. Dies bedeutet, dass die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung eine vorläufige Regelung für den Zeitraum bis zum Abschluss des jeweiligen Rechtsmittelverfahrens darstellt. Wird ein Antrag nach § 199 Abs. 2 SGG während eines Berufungsverfahrens gestellt, betrifft die Entscheidung über den Antrag den Zeitraum bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens. Wird der Antrag im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens gestellt, betrifft die Entscheidung lediglich den Zeitraum bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens. Sie hat also innerhalb eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes nochmals vorläufigen Charakter (in diesem Sinne auch Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl., § 199 Rn. 12). Diese Auslegung führt zwar dazu, dass Anträge nach § 199 Abs. 2 SGG im Rahmen von Beschwerdeverfahren, die existenzsichernde Leistungen betreffen, wegen deren Eilbedürftigkeit praktisch kaum eine Rolle spielen (Breitkreuz, a.a.O.). Sie vermeidet aber Widersprüche und trägt dazu bei, den gleichmäßigen Zugang der Beteiligten eines Eilverfahrens zur Beschwerdeinstanz sicherzustellen

Demgegenüber hätte eine Auslegung, die einen im erstinstanzlichen Eilverfahren unterlegenen Sozialleistungsträger den Zugang zum Beschwerdegericht allein im Rahmen des § 199 Abs. 2 SGG - und damit vor Auszahlung der streitgegenständlichen Leistung - eröffnen wollte, Friktionen zur Folge. Denn ein solcher Antrag setzt voraus, dass das Rechtsmittel, also hier die Beschwerde, bereits eingelegt ist (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/
Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 199 Rn. 7; Breitkreuz, a.a.O., Rn. 11). Ein Antrag nach § 199 Abs. 2 SGG kann also nicht an Stelle einer Beschwerde gestellt werden. Wenn ein Sozialleistungsträger seine Rechte wahren und sich rechtstreu verhalten wollte, müsste er zunächst Beschwerde einlegen und dann die Aussetzung der Vollstreckung beantragen. Würde dieser Antrag abgelehnt, müsste der Träger vorläufig die streitgegenständliche Leistung erbringen, wodurch das Rechtsschutzbedürfnis für die Beschwerde nachträglich entfiele. Das Verhältnis zwischen Beschwerde und Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung wäre damit widersprüchlich: Zunächst hinge die Zulässigkeit des Antrags nach § 199 Abs. 2 SGG davon ab, ob eine Beschwerde anhängig ist; später hinge dann die Zulässigkeit der Beschwerde (sofern der Sozialleistungsträger sich rechtstreu verhält) indirekt davon ab, wie über den Antrag nach § 199 Abs. 2 SGG entschieden wurde.

Die Beschwerde ist auch begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Das ist etwa dann der Fall, wenn dem Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.

Eine Regelungsanordnung setzt sowohl einen Anordnungsgrund (Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung) als auch einen Anordnungsanspruch (materielles Recht, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird) voraus. Sowohl der Anordnungsgrund als auch der Anordnungsanspruch müssen glaubhaft sein (§ 86b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO -; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 86b Rn. 41). Aus den genannten Vorschriften ist der Überzeugungsgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit abzuleiten (vgl. BVerfG vom 29.07.2003, 2 BvR 311/03, juris Rn. 16), wobei auch im Eilverfahren der Amtsermittlungsgrundsatz des § 103 SGG gilt (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 103 Rn. 3a). Dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch im Hinblick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, NVwZ 2005, 927 m.w.N.).

Im vorliegenden Fall ist ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft.

Einschlägige Rechtsgrundlage sind §§ 67, 68 SGB XII in Verbindung mit §§ 1, 2 und 4 der Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten. Das BSG hat in seinem Urteil vom 12.12.2013 (B 8 SO 24/12 R, Rn. 16 ff.) zu einem ähnlich gelagerten Fall Folgendes ausgeführt:

"Das Tatbestandsmerkmal der "besonderen Lebensverhältnisse" bezieht sich auf die soziale Lage des Betroffenen, die durch eine besondere Mangelsituation - etwa an Wohnraum - gekennzeichnet sein muss ( ...) und wird in § 1 Abs 2 Satz 1 der VO durch eine abstrakte Beschreibung verschiedener typischer Situationen konkretisiert, in denen aus Sicht des Verordnungsgebers von solchen besonderen Lebensverhältnissen ausgegangen werden kann. Demgegenüber geht es bei den "sozialen Schwierigkeiten" nicht in erster Linie um wirtschaftliche Schwierigkeiten ( ...), sondern um die Beeinträchtigung der Interaktion mit dem sozialen Umfeld und damit um die Einschränkung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ( ...). Es muss sich insoweit um soziale Schwierigkeiten handeln, die typischerweise mit besonderen Lebensverhältnissen einhergehen und die über solche sozialen Schwierigkeiten hinausgehen, die bereits für die Inanspruchnahme anderer Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII vorausgesetzt werden.

Der vom Kläger geltend gemachte drohende Wohnungsverlust nach der Haftentlassung gehört danach im Grundsatz zu den "besonderen Lebensumständen mit sozialen Schwierigkeiten" iS des § 67 SGB XII, weil der Verlust der Wohnung ähnlich dem Verlust des Arbeitsplatzes für einen Haftentlassenen deutlich schwerer zu kompensieren ist als für andere Bürger, selbst dann, wenn der aus der Haft Entlassene nicht auf existenzsichernde Leistungen angewiesen ist ...

Zwar besteht vorliegend die von § 67 SGB XII erfasste Bedarfslage (soziale Schwierigkeiten bei Entlassung) nicht schon im Zeitpunkt der beantragten Leistung, sondern erst zukünftig; vorbeugende Sozialhilfeleistungen zum Erhalt der Wohnung für die Zeit nach der Haftentlassung können aber ggf nach § 15 SGB XII beansprucht werden. Nach Abs 1 Satz 1 dieser Vorschrift, die nicht zu Leistungen eigener Art berechtigt, sondern rechtlich im Zusammenhang mit der jeweiligen Hilfeart steht, soll die Sozialhilfe vorbeugend gewährt werden, wenn prognostisch dadurch eine dem Einzelnen drohende Notlage ganz oder teilweise abgewendet werden kann ( ...). Auch im Rahmen des § 67 SGB XII ist der Träger der Sozialhilfe ermächtigt und verpflichtet zu prüfen, ob der Zweck dieser Art von Sozialhilfe (Vermeidung von Wohnungslosigkeit bei Haftentlassung) nicht dadurch besser erreicht werden kann, dass die danach in Betracht kommenden Leistungen bereits vor Eintritt der Notlage gewährt werden ...

Ein möglicher Anspruch scheitert jedenfalls nicht von vornherein an der Haftdauer. Die Ausführungen des LSG, ein Anspruch auf Übernahme von Mietkosten scheide vorliegend aus, weil die (Auswahl-)Ermessensentscheidung der Beklagten, bei einer Haftdauer von über einem Jahr (10.1.2008 bis 23.1.2009) keine Übernahme von Mietschulden zu gewähren, nicht zu beanstanden sei, halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Eine solche abstrakte Beurteilung für alle Fälle findet einen Anknüpfungspunkt weder im Gesetz noch in der Verordnung. Da die "besonderen Lebensumstände" verbunden mit "sozialen Schwierigkeiten" in Fällen wie dem vorliegenden eine Prognoseentscheidung im Hinblick auf die zu erwartende Situation bei Haftentlassung notwendig machen (siehe oben), ist eine Abgrenzung der Fallgruppen voneinander in zeitlicher Hinsicht vorgegeben: Je näher die Haftentlassung bevorsteht, desto konkreter kann sich die Notwendigkeit von Geldleistungen anstelle sonstiger Hilfen ergeben. Umgekehrt kann eine ausreichend sichere Prognose dann nicht erstellt werden, wenn die Umstände nach Haftentlastung schon wegen der noch bevorstehenden Haftdauer noch nicht eingeschätzt werden können. Jedenfalls ist aber entgegen der Auffassung des LSG bei dieser Prognoseentscheidung an die verbleibende Restdauer der Haft bis zum möglichen Eintritt der Notlage anzuknüpfen."

Danach liegen grundsätzlich "besondere Lebensumstände mit sozialen Schwierigkeiten" iS des § 67 SGB XII vor, wenn bei Haftentlassung Wohnungslosigkeit besteht. Besondere weitere Umstände müssen nicht hinzutreten. Sofern schon eine ausreichend sichere Prognose der Umstände bei Haftentlassung möglich ist, muss auf deren Grundlage entschieden werden, ob die Abwendung dieser Notlage vorbeugende Leistungen nach § 15 Abs. 1 SGB XII erfordert oder ob Leistungen, die mit der Haftentlassung einsetzen, ausreichend sind. Dabei steht aber die konkrete Hilfe ihrer Art und ihrem Umfang nach im Ermessen des Sozialhilfeträgers (Auswahlermessen; Wehrhahn, in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl., § 67 Rn. 13, 42 f.).

Im vorliegenden Fall drohte angesichts der fehlenden Mittel des Antragstellers, die Miete zu bezahlen, die außerordentliche fristlose Kündigung und damit bei Haftentlassung Wohnungslosigkeit. Die verbleibende Haftzeit war auch nicht so lang, dass eine ausreichend sichere Prognose bezüglich der übrigen bei Haftentlassung zu erwartenden Umstände von vornherein unmöglich war. Allerdings kann wegen des Auswahlermessens, das dem Antragsgegner hinsichtlich der Art und des Umfangs der Hilfe eingeräumt ist (s.o.), eine einstweilige Anordnung nur ergehen, wenn das Ermessen ausschließlich in einem bestimmten Sinne rechtmäßig ausgeübt werden kann und jede andere Entscheidung rechtswidrig wäre (Ermessensreduzierung auf Null). Das Gericht ist nämlich nicht befugt, sein Ermessen an die Stelle des der Verwaltung eingeräumten Ermessens zu setzen (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 86b Rn. 30a m.w.N.; Bayer. LSG, Beschluss vom 11.02.2014, L 7 AS 86/14 B ER).

Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung auf Null liegen nicht vor. Der Antragsteller hat verschiedene ermessensrelevante Gesichtspunkte genannt, deren Stichhaltigkeit allerdings derzeit nicht festgestellt werden kann. So ist nicht geklärt, wie schwer die Knieverletzung des Antragstellers ist und in welchem Umfang er in der streitgegenständlichen Wohnung Hilfe erhält, die er anderswo nicht (oder z.B. nur gegen Entgelt) erhalten könnte. Auch ist nicht deutlich, wie realistisch sein Vorhaben ist, eine unternehmerische Tätigkeit im Transportgewerbe aufzunehmen (wenn der Plan realistisch ist, so spricht dies dafür, dem Antragsteller nicht gleichzeitig den für die Wohnungssuche erforderlichen Zeitaufwand zuzumuten; allerdings wird eine Tätigkeit im Transportgewerbe durch eine schwere Knieverletzung möglicherweise erschwert). Schließlich ist den Akten auch nicht hinreichend konkret zu entnehmen, welche Möglichkeiten zur Einlagerung der Möbel des Antragstellers bestanden hätten und welche Kosten angefallen wären. Ebenfalls ermessensrelevant ist die Frage, ob der Antragsteller seine Wohnungslosigkeit mit Hilfe von Bezugspersonen hätte überbrücken können, die bereit gewesen wären, ihn für die Übergangszeit der Wohnungssuche bei sich aufzunehmen.

Zwar ist der Bescheid des Antragsgegners vom 12.11.2013 rechtswidrig, weil die Ermessensentscheidung ausschließlich auf die Dauer der Inhaftierung gestützt wird. Gerade eine solche Handhabung ist mit der zitierten Rechtsprechung des BSG nicht vereinbar. Daraus folgt aber nicht, dass eine rechtmäßige Ermessensentscheidung zwangsläufig zu Gunsten des Antragstellers ausfallen muss.

Damit durfte eine einstweilige Anordnung nicht ergehen; der Beschluss des SG war aufzuheben.

Ob der Antragsgegner nunmehr umgehend die auf Grund der einstweiligen Anordnung geleistete Zahlung zurückfordert oder aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität den Ausgang des Widerspruchs- und ggf. des Hauptsacheverfahrens abwartet, bleibt ihm überlassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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