L 15 VH 1/15

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 VH 1/13
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 VH 1/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Wenn die Behörde in ihrem Überprüfungsbescheid in die Sachprüfung eingestiegen ist, ist die vollständige Überprüfung des Ausgangsbescheids auch im gerichtlichen Verfahren eröffnet (Fortführung der st. Rspr. des Senats, vgl. Urteile v. 27.03.2015 – L 15 VK 12/13 – sowie 26.09.2017 – L 15 VS 14/14).
2. Es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit nur einem GdB/GdS von 20 bei der Bildung des Gesamt-GdB/GdS erhöhend zu berücksichtigen sein können, wenn sie sich auf eine andere Beeinträchtigung besonders nachhaltig, verstärkend auswirken und so zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen.
3. An die Abgrenzung des schädigungsbedingten Anteils an den Gesundheitsstörungen des Betroffenen dürfen keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Dass dem vom Gesetzgeber gewollten System der Kausalitätsbeurteilungen auch gewisse geringe Unschärfen innewohnen, ist hinzunehmen.
4. Zur Ablehnung eines Antrags nach § 109 SGG.
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 7. Mai 2015 aufgehoben und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 9. Januar 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. September 2013 verurteilt, den Bescheid vom 6. Februar 2008 in der Fassung des Bescheids vom 3. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. März 2009 sowie den Bescheid vom 21. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juni 2012 abzuändern und als weitere Schädigungsfolge relative Harninkontinenz im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in Höhe von 1/8 zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer höheren Versorgungsrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) i.V.m. dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) nach einem GdS von 70 streitig.

Der 1965 geborene Kläger, der seit 01.05.2004 eine Erwerbsminderungsrente der Deutschen Rentenversicherung bezieht, war vom 12.10.1983 bis 09.08.1984 in der DDR wegen Fluchtversuchs aus Ost-Berlin interniert. Er reiste am 10.07.1985 in die Bundesrepublik ein. Für den Kläger liegt eine Bescheinigung nach § 10 Abs. 4 Häftlingshilfegesetz (HHG) der Regierung von Schwaben vom 02.01.1987 vor. Zudem wurde der Kläger vom Bezirksgericht Potsdam durch Beschluss vom 19.03.1992 nach dem Rehabilitierungsgesetz (RehabG) vom 06.09.1990 rehabilitiert; die Urteile des Kreisgerichts Potsdam-Land vom 29.11.1983 und des Bezirksgerichts Potsdam vom 21.12.1983 wurden aufgehoben.

Der Kläger stellte erstmals am 03.08.2005 beim Beklagten Antrag auf Beschädigtenversorgung, zunächst nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), wegen Misshandlungen in der Haft und unter Berufung auf physische und psychische Folter sowie tägliches Nasenbluten. Der Kläger wies darauf hin, dass er seit langem in psychiatrischer Behandlung sei und dass gesundheitliche Dauerfolgen wie schwere Depressionen etc. bestünden. Nach der Durchführung umfangreicher Ermittlungen durch den Beklagten erließ dieser am 06.02.2008 einen Bescheid nach dem StrRehaG und erkannte ab 01.08.2005 als Folgen der Freiheitsentziehung vom 12.10.1983 bis 09.08.1984 eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Depressionen, chronische Schmerzen sowie Loch in der Nasenscheidewand mit Krusten- und Borkenbildung und behinderter Nasenatmung, Schiefnase, Schmerzempfindlichkeit im Stirnbereich nach Entnahme eines Stirnlappens im Sinne der Entstehung mit einem GdS von 40 an. Versorgungsrente stehe ab dem genannten Zeitpunkt zu. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 29.02.2008 Widerspruch ein. Im Rahmen umfangreicher Ermittlungen erstellte der HNO-Arzt Dr. N. eine versorgungsärztliche Stellungnahme vom 17.09.2008 und wies darauf hin, dass in der Behandlungskarte des Klägers am 13.12.1983 eingetragen sei, das rezidivierende Nasenbluten sei schon seit Jahren bekannt. Es sei eine HNO-Vorstellung veranlasst worden; auch am 07.02. und 21.04.1984 sei Nasenbluten in der Behandlungskarte vermerkt. Ein stärkerer Blutverlust durch Nasenbluten sei durch entsprechende Laboruntersuchungen nicht nachgewiesen. Eine Analogiebewertung mit einer chronischen Nasennebenhöhlenentzündung schweren Grades mit ständiger erheblicher Eiterabsonderung, Trigeminusreizerscheinungen, Polypenbildung sei nicht angemessen. Eine Stinknase mit Borkenbildung und Foetor liege ebenfalls nicht vor.

Mit Teilabhilfebescheid vom 03.03.2009 erkannte der Beklagte (anstelle von "chronische Schmerzen") ein chronisches Schmerzsyndrom mit Schmerzmittelabhängigkeit als Schädigungsfolge an und setzte den GdS (ab 01.08.2005) auf insgesamt 50 fest. Auch dieser Bescheid erging nach dem StrRehaG.

Mit Widerspruchsbescheid vom 25.03.2009 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers, soweit ihm nicht abgeholfen worden war, zurück. Insbesondere sei kein höherer GdS als 50 anzusetzen und sei ein übermäßiges Nasenbluten nicht zu berücksichtigen, so dass durch die Schädigung auch kein außergewöhnlicher Kleiderverschleiß i.S.v. § 15 BVG vorliege. Es lasse sich insbesondere auf HNO-ärztlichem Fachgebiet keine weitere Schädigungsfolge feststellen; vor allem seien die geltend gemachten Tinnitusbeschwerden bereits ausreichend bei den auf nervenärztlichem Gebiet anerkannten Schädigungsfolgen mit berücksichtigt und es bestehe keine zeitnahe messbare Hörstörung parallel zum Auftreten des Tinnitus.

Hiergegen erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) München (S 30 VH 3/09). Im Klageverfahren wurde u.a. ein Gutachten der HNO-Ärztin Prof. Dr. S. vom 11.07.2011 eingeholt. Die Sachverständige hat in ihrem Gutachten festgestellt, dass beim Kläger ein regelrechtes Hörvermögen bestehe. Aufgrund einer eingeschränkten Trommelfellbeweglichkeit bei ausgefallenen Stapediusreflexen sei jedoch ein fluktuierender Tubenmittelohrkatarrh möglich, besonders in Phasen von verstärkter Schleimbildung, möglicherweise mit Entzündung in der Nase. Ein Tinnitus sei am Untersuchungstag nicht vorhanden gewesen. Aus dem Gedächtnis sei er vom Kläger mit einem 4000 Hertz-Ton verglichen worden. Da dieser nur selten vorkomme und dann nur einige Minuten lang anhalte, falle er, so die Sachverständige, nicht ins Gewicht. Auf HNO-Fachgebiet bestünden als Schädigungsfolgen durch die Verletzung der Nase des Klägers eine große Septumperforation, die eine rezidivierende Epistaxis, rezidivierenden Nasen- und Stirnkopfschmerz, Verstopfung der Nase durch Rezirkulation des Sekrets, Entzündungsneigung der Nase und der Nebenhöhlen (ggf. mit Tubenmittelohrkatarrh) und eine wechselnde Einschränkung des Riechvermögens bedingen würde. Weiter hat die Sachverständige Prof. Dr. S. u.a. darauf hingewiesen, dass die vom Kläger beklagten Beschwerden (u.a. immer wieder auftretendes Nasenbluten) für eine Septumperforation charakteristisch seien. Ungewöhnlich sei allerdings, dass die Epistaxis im Winter täglich auftreten solle. Der Kläger sei mit einem blutigen T-Shirt und einer blutverschmierten Jeans zu ihr, Prof. Dr. S., gekommen, und während der Untersuchung sei es zu einer kurzfristigen Epistaxis gekommen. Es falle auf, dass sich der Kläger sehr atypisch die Nase putze und dass auch allein dadurch ein Reiz entstehen könne. Obwohl die Nase nicht sehr eng imponiere und die Nasenatmung nur rechts eingeschränkt sei, seien die Angaben des Klägers plausibel. Durch den zirkulierenden Schleim entstünden, so die Sachverständige, nicht nur Entzündungen, die sich bis in die Nebenhöhlen fortsetzen könnten, sondern auch eine Verstopfung der Nase. Die Sachverständige setzte den GdS für die Septumperforation mit den daraus resultierenden o.g. Begleiterscheinungen mit 20 fest. Der Rechtstreit wurde durch Klagerücknahme am 22.09.2011 beendet.

Mit Bescheid vom 21.03.2012 erkannte der Beklagte eine besondere berufliche Betroffenheit des Klägers i.S.v. § 30 Abs. 2 BVG an und setzte den GdS mit Wirkung ab 01.08.2005 auf insgesamt 60 fest. Ab dem genannten Zeitpunkt habe der Kläger dem Grunde nach Anspruch auf Berufsschadensausgleich und auch auf Ausgleichsrente. Über die Berechnung des Berufsschadensausgleich und der Ausgleichsrente erhalte der Kläger demnächst gesondert Bescheid.

Mit dem Vortrag, dass er mit seiner Ausbildung ohne die Gesundheitsschäden jederzeit als Handwerksmeister hätte arbeiten können, legte der Kläger am 26.04.2012 gegen den Bescheid vom 21.03.2012 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 06.06.2012 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Kläger begehre die Aufhebung des angefochtenen Bescheides und die Berechnung des Berufsschadensausgleichs gem. § 30 Abs. 3 ff BVG i.V.m. dem StrRehaG unter Zugrundelegung des Vergleichseinkommens eines selbständigen Handwerksmeisters. Die Berechnung des Vergleichseinkommens sei zutreffend. Gegen den Widerspruchsbescheid erhob der Kläger am 02.07.2012 Klage zum SG München (S 30 VH 1/12). Dieses Verfahren ruft derzeit, nach Auskunft der Beteiligten bis zum Abschluss des gegenständlichen Berufungsverfahrens.

Mit Schreiben vom 01.10.2012 stellte der Kläger über seine Bevollmächtigte den hier gegenständlichen Überprüfungsantrag gem. § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Dabei wurde auf das "Expertengutachten" von Freyberger u.a., Gesundheitliche Folgen politischer Haft in der DDR, herausgegeben von der Konferenz der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, verwiesen. Hieraus sei zu entnehmen, dass aufgrund neuer Forschungsergebnisse traumabedingte Störungen einschließlich der PTBS auch mit jahrzehntelanger Latenz auftreten könnten. Zur Bewertung dieser Schäden sei vorliegend aus Sicht des Klägers ein auf Traumafolgeschäden spezialisierter Sachverständiger heranzuziehen. Eine Begründung, weshalb lediglich ein GdS von 40 für die Diagnosen der PTBS, Depression und chronisches Schmerzsyndrom mit Schmerzmittelabhängigkeit festgesetzt worden sei, sei hier nicht erfolgt und auch nicht nachvollziehbar. Zudem verwies die Bevollmächtigte auf das in der Verwaltungsakte des Beklagten enthaltene, im Auftrag des SG München im rentenversicherungsrechtlichen Rechtsstreit Az. S 4 RJ 545/01 von Dr. K. erstellte nervenärztliche Gutachten vom 09.10.2003. Der Sachverständige habe damals u.a. auch eine Soziophobie und Klaustrophobie und eine angstabhängige Enuresis nocturna diagnostiziert.

In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme der Psychiaterin Dr. M. vom 07.01.2013 wurde u.a. darauf hingewiesen, dass eine Enuresis nocturna im Entlassungsbericht der Klinik R. vom 10.02.2003 nicht beschrieben worden sei; Entsprechendes gelte für phobische Ängste. Weiter wurde u.a. hervorgehoben, dass zwischen der PTBS, der Depression und dem chronischen Schmerzsyndrom wechselseitige Beeinflussungen bestünden, die sich überschneiden würden. Daraufhin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 09.01.2013 den Überprüfungsantrag ab, da die im Bescheid vom 03.03.2009 anerkannten Schädigungsfolgen korrekt bewertet worden seien.

Hiergegen erhob der Kläger am 18.01.2013 Widerspruch. Zur Begründung wurde im Wesentlichen bemängelt, dass vorliegend keine entsprechenden Testverfahren für Betroffene mit PTBS durchgeführt worden seien. Im Übrigen sei auch nicht nachvollziehbar, weshalb ein GdS von 40 ausreichend sein solle, wenn beim Kläger sicher stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, Beeinträchtigungen im Alltag sowie verminderter Einsatzfähigkeit in beruflicher Hinsicht bestehen würden, wie in der o.g. versorgungsmedizinischen Stellungnahme von Dr. M., festgestellt worden sei. Nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG; Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizinverordnung - VersMedV) betrage der Rahmen insoweit 50 bis 70. Für die von Dr. M. in den Raum gestellte anlagebedingte vorbestehende psychische Störung sei der Beklagte beweispflichtig. Nach der Auswertung von ärztlichen Unterlagen und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme der Neurologin und Psychiaterin B. des Beklagten, in der diese darauf hinwies, dass der aktuelle Befundbericht von Dr. V. vom März 2013 die bisherigen Diagnosen bestätige und dass Erinnerungen an die Erlebnisse in der früheren Haft auch mit spezifischen Alpträumen und Panikattacken geschildert würden sowie dass die vorgelegten Befundberichte insgesamt dafür sprechen würden, "das bisherige Anerkenntnis mit einem GdS 50 (rein medizinisch)" beizubehalten, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.09.2013 den Widerspruch als unbegründet zurück. In Abänderung des Bescheids vom 03.03.2009 nahm der Beklagte jedoch die geschilderten Ängste und Panikattacken als Symptome der bereits anerkannten PTBS "zur Klarstellung in den Wortlaut der anerkannten Schädigungsfolgen" auf. Die vom Kläger gewünschten Testuntersuchungen seien aus versorgungsärztlicher Sicht insoweit nicht erforderlich, als eine PTBS bereits diagnostiziert und anerkannt worden sei. Der GdS könne nicht weiter erhöht werden, da der vom Kläger angesprochene GdS-Rahmen von 50 bis 70 für schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten nach den vorliegenden Befunden nicht erreicht werde und da eine Enuresis nach den aktenkundigen Befunden nicht belegt sei.

Am 27.09.2013 hat der Kläger gegen den Widerspruchsbescheid Klage zum SG München erhoben. Zur Klagebegründung ist darauf verwiesen worden, dass beim Kläger unter Einschluss einer besonderen beruflichen Betroffenheit ein höherer GdS als 60 festzustellen sei. Im Übrigen hat sich die Klägerseite entsprechend der Widerspruchsbegründung geäußert.

Am 02.10.2013 hat der Kläger auch einen Neufeststellungsantrag gestellt, später aber erklärt, dass dieser gegenüber dem SG-Verfahren nachrangig sein solle.

Zur Sachverhaltsaufklärung hat das SG Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte eingeholt, nämlich von Dr. V., Dr. D., Dr. C. und Dr. H ... Der HNO-Arzt Dr. H. hat am 19.02.2014 als Diagnosen Tinnitus beidseits, Nasen-Septum-Perforation und Epistaxis mitgeteilt. Die Befunde seien gleichbleibend mit Verschlechterungstendenz, neue Leiden nicht hinzugekommen.

Sodann hat das SG Beweis erhoben durch ein Sachverständigengutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie C ... Diese hat in ihrem Gutachten vom 20.12.2014 u.a. die Angaben des Klägers festgehalten, dieser sei während der Haftzeit psychisch ständig gedemütigt und angeschrien, aber auch mit Händen, Stöcken und Gegenständen an verschiedenen Körperteilen, so auch im Gesicht, massiv geschlagen worden. Zudem habe man ihm mit einer Schreibmaschine ins Gesicht geschlagen, so dass die Nase schwer verletzt worden sei. Er habe daraufhin ständig Nasenbluten gehabt, sei dann nach der Haft mehrfach operiert worden, weil eine Nasenseptumperforation vorgelegen habe, die nur schwer bis heute abgedeckt habe werden können. Inzwischen müsse er dreimal am Tag die Nase pflegen; auch müsse er ständig inhalieren und leide immer noch massiv darunter. Die Nase würde oft bluten. Seine Kleidung und auch häufig das Bett seien beschmutzt; er müsse täglich seine Sachen waschen. Die Fachärztin C. hat im Gutachten festgestellt, dass auch in der Untersuchungssituation die Nase des Klägers, der mit blutigem, etwas verschmutztem T-Shirt bei ihr erschienen sei, teils leicht zu bluten begonnen habe.

Weiter habe der Kläger berichtet, dass er häufig einnässe, besonders wenn er Angst habe, angespannt sei oder schlecht träume. Er müsse auch deswegen ständig die Bettwäsche waschen und die andere Wäsche, was ihm auch sehr peinlich sei und wofür er sich schäme. Er habe sich deshalb verstärkt zurückgezogen. Nach Angaben der Fachärztin C. hat der Kläger bei ihr angegeben, dass dies besonders seit 2012 ganz schlimm geworden sei, dies passiere "auch tagsüber viel häufiger". Der Kläger sei auch in der Untersuchungssituation mit eingenässter Hose erschienen. Unter anderem hat die Gutachterin auch festgehalten, dass der Kläger angegeben habe, bis zu einem Arbeitsunfall (mit Fall auf den Rücken) im Jahr 1997 im psychischen Bereich völlig beschwerdefrei gewesen zu sein. Ca. 1998/1999 sei dann durch die ständige Arbeitsunfähigkeit die wichtige Kompensationsmöglichkeit über die Arbeit weggefallen. Der Kläger sei, so die Sachverständige, offensichtlich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage gewesen, die bis dahin ausgeprägte Vermeidung, sich mit seinen Hafterlebnissen zu konfrontieren, aufrechtzuerhalten. Sein Kompensationsvermögen sei so weit überstiegen worden, dass zunehmend auch eine deutliche posttraumatische Symptomatik eingetreten sei. In der jetzigen Untersuchungssituation sei durch ausführliche Befunderhebung - verifiziert durch die zusätzliche Testung - das Vollbild einer komplexen PTBS erhoben worden. Im Rahmen dieses Störungsbildes trete bei Konfrontation mit Hinweisreizen etc. mit Übelkeit und Erbrechen beispielsweise auch mitten auf der Straße bei Gefühlen von Angst und Platzangst auf. Weiter trete seit 2012 verstärkt auch eine Enuresis am Tag bei starker Anspannung auf; die vom Kläger berichtete Enuresis am Untersuchungstag sei durchaus glaubhaft.

Zusammenfassend hat die Fachärztin hervorgehoben, dass der Kläger durch die komplexe Traumafolgestörung und den damit zusammenhängenden ausgeprägten Symptomenkomplex in seiner Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, der Ausführung von sozialen Aktivitäten, im Kontakt- und Beziehungsverhalten, in seiner Sexualität, seiner Belastungsfähigkeit im Alltag und seiner beruflichen Belastungsfähigkeit eingeschränkt sei. Er habe sich massiv zurückgezogen, verbringe beinahe die gesamte Zeit zu Hause, so dass aus ihrer, der Gutachterin, Sicht im vorliegenden Fall schon eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten nach den VG vorliege. Aus gutachterlicher Sicht sei deshalb die Bewertung mit einem GdS von 40 im Sinne einer stärker behindernden Störung nicht ausreichend. Auch nach den Beschreibungen der Vorgutachter und der Behandlerin des Klägers liege bei diesem ein sehr umfangreiches Störungsbild vor. Es bestehe ein deutlicher inhaltlicher Zusammenhang zu den Hafterlebnissen und aufgrund der Reaktivierung während des Aufenthalts in der Klinik R. auch ein ausreichender zeitlicher Zusammenhang, da eine PTBS im Sinne einer Prozessstörung auch nach erheblichen Latenzzeiten durch Reaktivieren der Situationen oder bei Wegfall von Kompensationsmöglichkeiten auftreten könne.

Für das gesamte psychische Störungsbild hat die Sachverständige einen schädigungsbedingten GdS von 50 festgesetzt. Zusätzlich sei, so die Fachärztin, die Nasenverletzung des Klägers bereits mit einem schädigungsbedingten GdS von 20 gewürdigt und eine berufliche Betroffenheit festgestellt worden. Der bisherige Gesamt-GdS - einschließlich beruflicher Betroffenheit - müsse deshalb, so die Sachverständige, auf 70 angehoben werden. Dies sei ab August 2005 der Fall, da die Schwere des Störungsbildes schon damals nicht ausreichend gewürdigt worden sei.

In einer versorgungsmedizinischen Stellungnahme von PD Dr. K. vom 16.01.2016 ist darauf hingewiesen worden, dass es sich bei der Entstehung der Blasenstörung um eine organische Ursache und nicht um eine psychosomatische Symptomatik handele. Aus versorgungsärztlicher Sicht spreche die Zunahme im Verlauf vor allem seit 2012 ebenfalls eher für eine körperlich bedingte Symptomatik. Die Abgrenzung eines schädigungsbedingten Anteils an der Symptomatik erscheine nicht möglich und eher spekulativ. Das vermehrte Einnässen habe nach der aktuellen Anamnese zu einem verstärkten sozialen Rückzug geführt. Da es sich aber bei einer neurogenen Blasenfunktionsstörung um eine schädigungsunabhängige Gesundheitsstörung handele, seien auch deren Folgen nicht als schädigungsbedingt zu werten. Zudem sei nicht nachvollziehbar, weshalb eine stärkere Ausprägung der Blasenstörung ab 2012 mit nachfolgenden Beeinträchtigungen eine Höherbewertung ab 2005 begründen solle.

Mit Urteil vom 07.05.2015 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen dargelegt, dass sich der GdS von 20 für die Nasenproblematik nicht erhöhend auswirke, da der Beschwerdevortrag des Klägers sehr deutlich zum Ausdruck bringe, dass ein ganz erheblicher Teil insoweit von den Auswirkungen her psychischer Natur sei, weil genau dadurch besondere Probleme einer unbefangenen Kontaktaufnahme nach außen und einer unbeschwerten Alltagsgestaltung bedingt seien. Es könne nicht beanstandet werden, wenn der Beklagte für das Gesamtbild der psychischen Beeinträchtigung und der Nasenproblematik bei einem GdS von 50 verbleibe. Zudem hat das SG hervorgehoben, dass es nicht erkennen könne, dass die neurogene Blasenstörung schädigungsbedingt sei. Drei Jahrzehnte nach der Traumatisierung bleibe eine Kausalitätsvermutung spekulativ. Im Übrigen hat das SG darauf hingewiesen, dass in die psychische Situation des Klägers, außer der Schädigung durch DDR-Unrecht, auch die Folgen des Unfalls von 1997 einfließen würden. Es dränge sich der Eindruck auf, dass sich insoweit eine eigenständige Schmerzerkrankung entwickelt habe, wie sie auch wiederum nicht als Traumafolge typisch sei. Diese Schmerzerkrankung wiederum habe sich vor dem Hintergrund einer Skelettsituation mit altersuntypischer Degeneration entwickelt. Auch die Zwangsstörungen des Klägers seien ein unklares Element. Auch für sie gelte, dass eine Kausalität zu früheren Traumatisierungen selten belegt sei. Vielmehr scheine es sich dabei um bereits frühkindlich angelegte Fehlstörungen zu handeln. Inhaltlich folge das Gericht außer der Kausalzuschreibung der Blasenstörung durchaus der Sachverständigen C., könne ihr aber in der auffällig dünnen Argumentation zur Bemessung des GdS nicht beipflichten.

Gegen das Urteil hat der Kläger am 01.07.2015 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) eingelegt und zur Begründung u.a. auf die Bandbreite der VG für schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten (von einem GdS von 50 bis 70) hingewiesen. Ob die neurogene Blasenstörung des Klägers schädigungsbedingt sei, sei nicht aufgrund gerichtlicher Erfahrungswerte zu treffen, sondern bedürfe der Entscheidung eines Sachverständigen. Die Mutmaßung des SG, dass es sich bei den Zwangsstörungen des Klägers um bereits frühkindlich angelegte Fehlsteuerungen zu handeln scheine, sei reine Spekulation und werde zurückgewiesen; im Übrigen sei der Beklagte hierfür beweispflichtig. Schließlich ist in der Berufungsbegründung darauf hingewiesen worden, dass es sich bei dem Urteil um eine Überraschungsentscheidung gehandelt habe, da die gem. § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beauftragte Sachverständige einen GdS von 70 festgestellt habe, das SG jedoch diese Feststellungen nicht zugrunde gelegt habe. Im Übrigen sei die Argumentation der Sachverständigen keineswegs auffällig dünn.

In der Berufungserwiderung ist der Beklagte weiterhin von einem (medizinischen) GdS von 50 ausgegangen und hat erneut hervorgehoben, dass die bestehende Enuresis organisch bedingt sei. In der ebenfalls vorgelegten HNO-fachärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 20.01.2016 hat Dr. N. darauf hingewiesen, dass von Seiten dieses Fachgebiets keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Er hat u.a. auf das o.g. HNO-ärztliche Gutachten von Prof. Dr. S. verwiesen.

Im Auftrag des BayLSG hat sodann die Sachverständige C. am 28.10.2017 zu ihrem o.g. Gutachten ergänzend Stellung genommen und u.a. auf die Notwendigkeit des Waschens verschmutzter Wäsche durch Nasenbluten und Einnässen verwiesen. Der Kläger könne häufig tagelang das Haus gar nicht mehr verlassen, seit 2012 verstärkt. Er sei hier aber auch schon vorher stark eingeschränkt gewesen. Der Kläger gehe lediglich noch in Zeiten zum Einkaufen, in denen die Geschäfte leer seien; er erledige dies sehr schnell aus Angst vor Menschenmengen und unternehme überhaupt nur noch einige wenige Aktivitäten wie kleinere Spaziergänge oder kurze Radfahrten. Er müsse erhebliche Kraft und Mühe aufbringen, um seinen Alltag zu bewältigen.

Die Sachverständige hat hervorgehoben, dass allein die erheblichen psychischen Störungen einen GdS von mindestens 50 bedingen würden, da es sich hier um eine schwere Störung mit mindestens mittelgradig sozialen Anpassungsschwierigkeiten handele. Auch ohne den Verschlimmerungsanteil der Blasenstörung und die damit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen sei bereits ein GdS von 50 zu rechtfertigen. Anteilig müsse dann HNO-ärztlich die Bewertung mit einem Einzel-GdB von 20 berücksichtigt werden, was aus ihrer Sicht zu einer Gesamterhöhung um 10 auf einen (medizinischen) GdS von 60 führe. Wie beschrieben, seien die HNO-Probleme mit einem erheblichen, täglich mehrstündigen Pflegeaufwand verbunden, was zusätzlich in den Einschränkungen berücksichtigt werden müsse. Die Gutachterin hat festgestellt, dass nur der Verschlimmerungsanteil der Blasenstörung schädigungsbedingt sei, da es sich im Übrigen um eine diagnostizierte neurogene Blasenstörung handele. Bereits vor 2012 sei die Verschlimmerung (häufig nächtlich) gegeben gewesen. Die stressbedingte Verschlimmerung sei immer im Zusammenhang zu einer Stressreaktion zu sehen und deshalb nicht organisch bedingt. Bei weiteren Zweifeln solle eine urologische Zusatzbegutachtung durchgeführt werden. Weiter hat die Fachärztin C. ausgeführt, dass aus ihrer Sicht die Auffassung des Beklagten, die Zunahme der Symptomatik über die Zeit spreche gegen einen kausalen Zusammenhang mit den Haftfolgen, nicht nachvollziehbar sei. Auch mit großem zeitlichen Abstand zu den Haftereignissen könne der anzuerkennende Verschlimmerungsanteil der Enuresis, der sich nur auf die psychischen haftbedingten Ursachen und deren Einfluss auf die Blasenfunktion beziehe, verändern, unabhängig davon, wann das schädigende Ereignis stattgefunden habe. Da die Verstärkung der Enuresis stressbedingt aufgrund der haftbedingten psychischen Störungen bestehe, könne sie sich im weiteren Verlauf - immer im Zusammenhang zur psychischen Symptomatik, wenn diese zunehme oder sich verschlechtere - auch entsprechend verändern

Der soziale Rückzug des Klägers sei insbesondere auf die erheblichen psychischen Symptome und die damit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen zurückzuführen. Die GdS-Erhöhung sei ab 2005 und nicht erst ab 2012 gegeben, da die GdS-Beurteilung auf die Untersuchung und Beurteilung der Aktenlage ausgerichtet sei, die ergeben habe, dass bereits in den Befundberichten vor 2005 ein erheblich stärkeres Störungsbild vorgelegen habe, als vom Beklagten angenommen.

Auf das Gutachten hat der Beklagte eine ausführliche nervenärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B. vom 04.12.2017 vorgelegt und weiterhin die Zurückweisung der Berufung beantragt. Hinsichtlich der aufgrund der Nasenverletzung bestehenden HNO-ärztlichen Problematik hat die Fachärztin auf die Stellungnahme von Dr. N. vom 20.01.2016 hingewiesen. Danach bestehe keine weitere erhöhende Wirkung auf HNO-ärztlichem Gebiet. Hinsichtlich der Enuresis könne der Sachverständigen nicht gefolgt werden, wenn diese von einer stressbedingten Verschlimmerung als Schädigungsfolge ausgehe. Die Diagnose einer neurogenen Blasenstörung sei aktenkundig (Bericht vom 14.11.2015 der urologischen Abteilung der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M.). Es seien die Bandscheibenschäden in Höhe S1 als wesentliche Ursache des Einnässens anzusehen. Weitere Ursachen seien als erschwerende Faktoren möglicherweise inzwischen von zusätzlicher Bedeutung, wie z.B. eine Prostatavergrößerung. Zudem ist in der nervenärztlichen Stellungnahme des Beklagte darauf hingewiesen worden, dass das nächtliche Einnässen nicht als Befund in einem neurologischen Gutachten hätte festgestellt werden dürfen, weil es lediglich die Angabe des Betroffenen wiedergebe, die als mehr oder weniger plausibel angesehen werden könnten. Allerdings sei im Gutachten der Fachärztin C. befundmäßig beschrieben worden, dass die Kleidung des Klägers zum Untersuchungszeitpunkt eingenässt gewesen sei. Eine urologische Begutachtungsuntersuchung sei aus Sicht des Beklagten nicht unbedingt erforderlich. Weiter ist noch einmal hervorgehoben worden, dass die Zunahme der Symptomatik gegen einen kausalen Zusammenhang mit den Haftfolgen spreche.

Mit Schriftsatz vom 28.12.2017 hat die Klägerseite darauf hingewiesen, dass bereits der Gutachter Dr. K. im Oktober 2003 eine angstabhängige Blasenstörung diagnostiziert habe. Die Einholung eines urologischen Gutachtens ist als nicht zweckmäßig angesehen worden. Selbst wenn zwischenzeitlich ggf. auch eine neurogene Blasenstörung vorliegen würde, so die Bevollmächtigte, sei die Enuresis ursächlich auf die erlittene Haft und die damit verbundenen psychischen Störungen zurückzuführen. Schließlich sei nicht nachvollziehbar, weshalb der Beklagte bei einem medizinischen GdS auf psychiatrischem Fachgebiet von 50 und einem GdS auf HNO-ärztlichem Gebiet von 20 sowie einer besonderen beruflichen Betroffenheit von 10 zu einem Gesamt-GdS von 60 komme.

Im Vorfeld des Erörterungstermins des Senats vom 15.01.2019 hat der Kläger eine fachärztliche Stellungnahme des behandelnden Psychiaters Dr. V. vom 17.10.2018 vorgelegt. Darin ist bestätigt worden, dass der Kläger an einer PTBS mit schwerer Verlaufsform und stark ausgeprägter Symptomatik leide, im Einzelnen unter häufig auftretenden Flashbacks, starken vegetativen Störungen im Sinne eines Hyperarousals mit zusätzlich auftretenden, bei ihm selbst mit starker Scharm besetzten Symptomen. Das Auftreten der Symptomatik werde u.a. durch jegliche Form von Erinnerung an die erlebten Traumata getriggert.

Im Erörterungstermin hat die Klägerseite u.a. bestätigt, dass keine aktuellen Befundunterlagen hinsichtlich der Erkrankungen des Klägers vorliegen würden. Zudem haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach § 124 Abs. 2 SGG erteilt. Mit gerichtlichem Schreiben vom 21.01.2019 haben die Beteiligten noch rechtliche Hinweise des Senats erhalten. Mit Schreiben vom 28.01.2019 hat die Bevollmächtigte des Klägers einen Antrag gem. § 109 SGG auf Einholung eines Sachverständigengutachtens von Dr. P. gestellt. Auf die erneute Anfrage des Senats haben die Beteiligten am 30.01.2019 und 04.02.2019 erklärt, dass sie weiterhin ihr Einverständnis gem. § 124 Abs. 2 SGG erteilen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG München vom 07.05.2015 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 09.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.09.2013 zu verurteilen, den Bescheid vom 06.02.2008 in der Fassung des Bescheids vom 03.03.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.03.2009 sowie den Bescheid vom 21.03.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.06.2012 abzuändern und unter zusätzlicher Anerkennung einer Harninkontinenz im Sinne der Verschlimmerung ab 01.01.2008 eine höhere Versorgungsrente unter Zugrundelegung eines GdS von 70 (einschließlich besonderer beruflicher Betroffenheit) zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Akten des Beklagten und des SG beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die allesamt Gegenstand der Entscheidung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG.

Die zulässige Berufung ist teilweise begründet, überwiegend jedoch unbegründet.

Die Berufung ist nur insoweit begründet, als eine relative Harninkontinenz im Sinne der Verschlimmerung als Schädigungsfolge anzuerkennen ist. Im Übrigen bleibt die Berufung ohne Erfolg. Der Kläger hat, wie das SG zu Recht entschieden hat, keinen Anspruch auf Gewährung einer Versorgungsrente unter Zugrundelegung eines GdS von insgesamt 70. Ein höherer Gesamt-GdS als 50 (ohne Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit gem. § 30 Abs. 2 BVG) ist nicht anzuerkennen.

1. Relative Harninkontinenz als Schädigungsfolge

Weil der Beklagte in seinem Überprüfungsbescheid vom 09.01.2013 in die Sachprüfung eingestiegen ist, ist die vollständige Überprüfung auch im gerichtlichen Verfahren eröffnet (siehe die Urteile des Senats vom 27.03.2015 - L 15 VK 12/13 - sowie vom 26.09.2017 - L 15 VS 14/14). Auf die Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 26.01.2016 - L 15 VG 29/13), wonach der Vortrag neuer wissenschaftlicher Lehrmeinungen im allgemeinen keinen Vortrag neuer entscheidungserheblicher Tatsachen im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 1, 2. Altern. SGB X darstellt, kommt es somit vorliegend nicht an. Das Berufungsgericht hat zu prüfen, ob die geltend gemachte Gesundheitsstörung auf die Haft zurückzuführen ist und ob hierdurch (siehe hierzu im Folgenden) und aufgrund der weiteren vorgetragenen, streitgegenständlichen Aspekte (siehe hierzu 2.) ein höherer Gesamt-GdS als (medizinisch) 50 anzuerkennen ist.

Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung der relativen Harninkontinenz als Schädigungsfolge der Freiheitsentziehung vom 12.10.1983 bis 09.08.1984 gem. § 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG i.V.m. § 30 Abs. 1 BVG.

a. Dem steht nicht entgegen, dass vorliegend eine Rehabilitierungsentscheidung vom 19.03.1992 des Bezirksgerichts Potsdam nach dem RehabG vorliegt. Denn Personen, die vor dem Inkrafttreten des StrRehaG nach dem genannten Gesetz der DDR, das nach dem Beitritt fortgalt, rehabilitiert worden sind, werden nach § 26 Abs. 3 StrRehaG gleichgestellt (vgl. hierzu z.B. Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, StrRehaG, § 21, Rn. 3).

b. Die Beteiligten gehen zu Recht davon aus, dass hier das StrRehaG anwendbar ist. Ein Fall der Nachrangigkeit gem. § 21 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG liegt nicht vor. Wie der Beklagte zutreffend darauf hingewiesen hat, handelt es sich im Fall des Klägers um eine erstmalige Antragstellung im Jahr 2005, so dass bereits nach dem Wortlaut der genannten Norm Nachrangigkeit ausscheidet.

c. Für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge und damit die Berücksichtigung im Rahmen eines Versorgungsanspruchs nach § 1 Abs. 1 BVG ist gemäß § 21 Abs. 5 Satz 1 StrRehaG ein wahrscheinlicher Zusammenhang der Freiheitsentziehung als schädigender Vorgang und der geltend gemachten Gesundheitsstörung erforderlich.

Entsprechend den vorgenannten Bestimmungen setzt die Anerkennung von Schädigungsfolgen eine dreigliedrige Kausalkette voraus (vgl. BSG, Urteil vom 25.03.2004 - B 9 VS 1/02 R): Eine Freiheitsentziehung (1. Glied) muss zu einer primären Schädigung (2. Glied) geführt haben, die wiederum die geltend gemachten Schädigungsfolgen (3. Glied) bedingt.

Die drei Glieder der Kausalkette müssen im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R). Dies bedeutet, dass kein vernünftiger Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteile vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R, und vom 17.04.2013 - B 9 V 1/12 R). Demgegenüber reicht es für den zweifachen ursächlichen Zusammenhang der drei Glieder aus, wenn dieser jeweils mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Die Beweisanforderung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R - in Aufgabe der früheren Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 24.09.1992 - 9a RV 31/90, die für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität noch den Vollbeweis vorausgesetzt hat -; vgl. auch BSG, Urteile vom 17.04.2013 - z.B. B 9 V 1/12 R) als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung.

Die Beurteilung des Zusammenhangs folgt, wie ansonsten im Versorgungsrecht auch, der Theorie der wesentlichen Bedingung (ständige Rspr. des BSG, vgl. z.B. Urteile vom 23.11.1977 - 9 RV 12/77, vom 08.05.1981 - 9 RV 24/80, vom 20.07.2005 - B 9a V 1/05 R, und vom 18.05.2006 - B 9a V 6/05 R). Diese beruht auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie: Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Als rechtserheblich werden allerdings nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben.

Eine potentielle Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977 - 10 RV 15/77). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als hinreichende Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei das Wort "hinreichend" nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, a.a.O., § 128, Rn. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteil vom 26.11.1968 - 9 RV 610/66). Haben mehrere Ursachen zu einem Schaden beigetragen, ist eine vom Schutzbereich des BVG umfasste Ursache dann rechtlich wesentlich, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 6/13 R). Im Einzelnen bedarf es dazu der wertenden Abwägung der in Betracht kommenden Bedingungen. Im Einzelfall muss die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinne als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (vgl. BSG, a.a.O.).

In diesem Sinn ist der Verschlimmerungsanteil der Harninkontinenz, der die Verstärkung der organisch bedingten Harninkontinenz und nicht das vermehrte Auftreten der Beschwerden ab 2012 betrifft, mit Wahrscheinlichkeit auf die Haftumstände in der DDR zurückzuführen. Dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere aus dem insoweit überzeugenden Sachverständigengutachten der Fachärztin C., das hier auch in Übereinstimmung mit den Feststellungen des Sachverständigen Dr. K. steht. Der Senat macht sich nach eigener Prüfung diese sachverständigen Feststellungen der genannten Gutachter zu eigen.

Daraus ergibt sich u.a., dass nur der Verschlimmerungsanteil zu berücksichtigen ist. Entsprechend der zutreffenden Annahme der Fachärztin C. (und den insoweit plausiblen Darlegungen des Beklagten) ist der überwiegende Anteil der relativen Harninkontinenz, wie ohne Weiteres aus den medizinischen Befundunterlagen folgt, organisch bedingt.

Im Übrigen sieht der Senat das Vorliegen einer relativen Harninkontinenz als nachgewiesen an, auch wenn dem Beklagten zuzugeben ist, dass die Annahme einer solchen zunächst im Wesentlichen auf den Angaben des Klägers basiert hat. Eine Entscheidung kann sich jedoch grundsätzlich in freier Beweiswürdigung jedenfalls dann allein auf den Beteiligtenvortrag stützen, wenn dieser glaubhaft ist - wobei "glaubhaft" hier nicht im Sinn einer Herabsetzung des Überzeugungsmaßes verstanden werden darf - , der Lebenserfahrung entspricht und nicht zu anderen festgestellten Tatsachen im Widerspruch steht (vgl. Keller, in: Mayer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128, Rn. 4; Gutzler, in: SGb 2/2009, S. 73 (76), jeweils m.w.N.; z.B. Urteil des Senats v. 21.04.2015 - L 15 VG 24/09). Der Senat geht mit der Sachverständigen C. unter anderem mit Blick auf die Tatsache, dass die Kleidung des Klägers zum Untersuchungszeitpunkt eingenässt gewesen ist, davon aus, dass der erforderliche (siehe oben) Vollbeweis erbracht ist.

Freilich ist sich der Senat auch mit Blick auf die Einwendungen des Beklagten gegen die Anerkennung der Kausalität bezüglich eines psychiatrisch bedingten Anteils durchaus bewusst, dass die Zunahme der Symptomatik im zeitlichen Verlauf, wie hier vom Kläger ab dem Jahr 2012 geschildert, ein wesentliches Indiz gegen einen kausalen Zusammenhang mit traumatischen Ereignissen darstellen kann. Auch sind unzweifelhaft nicht nur auch organische Ursachen gegeben, sondern stehen sogar im Mittelpunkt der Blasenproblematik des Klägers, wie sich aus der Auswertung des gesamten, umfangreichen Aktenmaterials ergibt. Der Senat kann aber mit der Sachverständigen C. eine überwiegende Wahrscheinlichkeit bzgl. des Verschlimmerungsanteils des Einnässens (i.S.v. § 21 Abs. 5 StrRehaG), der sich aus der körperlich auswirkenden Stressreaktion aufgrund der haftbedingten psychischen Störungen ergibt, im vorliegenden Fall mittragen, weil die Darlegungen der gerichtsbekannten und gerade für die Begutachtung von Traumafolgestörungen im Sozialen Entschädigungsrecht erfahrenen Sachverständigen plausibel sind. Diese hat nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass sich der Verschlimmerungsanteil der Harninkontinenz - und nur hierum geht es - auch mit großem zeitlichen Abstand zu den Haftereignissen verändern kann, unabhängig vom Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses. Es erscheint gut nachvollziehbar, dass sich die Harninkontinenz im Zusammenhang mit der psychischen Symptomatik, deren wellenförmiger Verlauf plausibel ist, auch verändern kann; so fällt eine Verschlimmerung beim Kläger insbesondere bei typischen posttraumatischen Symptomen wie Alpträumen und Angstzuständen, die zu einer Erhöhung des Erregungsniveaus und zu einer Stressantwort führen, auf. Dabei ist u.a. auch zu beachten, dass es vorliegend nur um einen geringeren Anteil an der Gesamtproblematik der Harninkontinenz geht, der schädigungsbedingt ist (wenngleich es sich bei dieser Gesundheitsstörung - wie sich nachvollziehbar aus dem überzeugenden Gutachten der Fachärztin C. ergibt - nicht nur um eine völlig untergeordnete Funktionsbeeinträchtigung bzw. eine geringfügige Abweichung vom "normalen" Gesundheitszustand handelt, die gar nicht als eigenständige Behinderung aufzuführen wäre). Es erscheint bereits nach den Erfahrungen des täglichen Lebens nachvollziehbar, dass es bei der stressbedingten Harninkontinenz durchaus zu einem wechselnden Verlauf kommen kann. Dabei ist mit Blick auf die geschilderten Beschwerden und deren durchschnittliches Ausmaß gem. VG Teil A, Nr. 2 f) nicht von einer nur vorübergehenden Gesundheitsstörung auszugehen.

Der Senat kann im Übrigen die Auffassung des Beklagten und des SG nicht teilen, die Abgrenzung eines schädigungsbedingten Anteils an der Harninkontinenz sei nicht möglich und erscheine "eher spekulativ". Denn eine solche Problematik begegnet auf dem Gebiet des sozialen Entschädigungsrechts bei zahllosen vergleichbaren Fallgestaltungen und stellt Verwaltung und Rechtsprechung zum Beispiel gerade bei allen erforderlichen Abgrenzungen hinsichtlich verschiedener Mitverursachungsbeiträge und Vorschäden vor nicht unerhebliche, jedoch auch nicht unbekannte Herausforderungen. Dass dem vom Gesetzgeber gewollten System der Kausalitätsbeurteilungen auch gewisse geringe Unschärfen innewohnen, ist dabei hinzunehmen und korreliert ferner auch mit der Problematik grundsätzlicher Unsicherheiten medizinischer Einschätzungen und Beurteilungen. So stellen medizinische Erfahrungssätze "Generalisierungen dar, die auf einer begründeten Anzahl von Beobachtungen (Erfahrungsbasis) beruhen und deren Geltungsbereich über diese Erfahrungsbasis - hinausgeht" (Kater, Das ärztliche Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren, 2. Aufl. 2011, S. 49); solche Erfahrungssätze sind - abhängig von ihrer Erfahrungsbasis nur als "mehr oder minder gesichert zu bezeichnen" (a.a.O.). Wie der Senat bereits mehrfach darauf hingewiesen hat (z.B. Urteil vom 10.04.2018 - L 15 BL 4/16), müssen sich daher auch Verwaltung und Rechtsprechung mit der Sicherheit begnügen, die die medizinische Wissenschaft bieten kann (vgl. Kater, a.a.O., S. 51, m.w.N.). Dass ausreichende Sicherheit in diesem Sinne im vorliegenden Fall bei der Bestimmung des stressbedingten Anteils an der relativen Harninkontinenz nicht erreichbar wäre, kann der Senat nicht erkennen; insbesondere wurden hinsichtlich dieser Problematik vom Beklagten (und vom SG) keine substantiierten Zweifel an den Feststellungen der Sachverständigen C. vorgetragen.

Die genannte Schädigungsfolge (VG Teil B, Nr. 12.2.4) ist somit - im Sinne der Verschlimmerung - anzuerkennen; sie geht insbesondere nicht vollständig in der psychiatrischen Schädigungsfolge auf (siehe VG Teil A, Nr. 2 e) Satz 2). Der insoweit ursprünglich unrichtige Bescheid ist daher zu korrigieren (§ 44 SGB X).

2. Gesamt-GdS

Auf der Grundlage der festgestellten Schädigungsfolgen unter Einschluss der relativen Harninkontinenz (s. 1.) kommt im Fall des Klägers jedoch keine höhere Bewertung des (medizinischen) Gesamt-GdS als mit 50 und daher auch keine höhere Versorgungsrente in Betracht. Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen des Beklagten sind daher, wie das SG zutreffend festgestellt hat, insoweit rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.

Nach § 30 Abs. 1 BVG richtet sich die Beurteilung des GdS nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Nach § 2 VersMedV sind auch die für die Beurteilung des Schweregrades nach § 30 Abs. 1 BVG maßgebenden Grundsätze in den VG festgelegt. Bei Berücksichtigung der dort (Teil A, Nr. 3) aufgezeigten Vorgaben ist die vom Beklagten vorgenommene und vom SG bestätigte Einschätzung des (medizinischen) GdS mit 50 nicht zu niedrig.

Bei mehreren Beeinträchtigungen eines Betroffenen wird der GdS bzw. der Grad der Behinderung (GdB) als Ergebnis einer Gesamtwürdigung der Beeinträchtigungen und ihrer Auswirkungen unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (hierzu z.B. Goebel, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. 2018, § 152 SGB IX, Rn. 41 f., m.w.N.). Dabei darf der Gesamt-GdS nicht durch eine Addition der einzelnen GdS oder anderweitige mathematische Formeln ermittelt werden (VG Teil A, Nr. 3 a), weil es sich bei diesen für die Feststellung des Gesamt-GdS lediglich um Messgrößen handelt, die der Vorbereitung der Gesamtbewertung dienen und diese nachvollziehbar und überprüfbar machen. Es ist eine Gesamtbetrachtung aller Einzelbehinderungen unter Berücksichtigung sämtlicher individueller Gegebenheiten vorzunehmen, bei der auch allgemeine Erfahrungssätze berücksichtigt werden können. Nach Feststellung der einzelnen Beeinträchtigungen und deren Bewertung mit je einem Einzel-GdS ist für die Gesamtbeurteilung in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdS auszugehen (VG Teil A, Nr. 3 c) und unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen ein (Gesamt-) GdS zu bilden. Nach VG Teil A, Nr. 3 d ist dabei insbesondere zu prüfen, inwieweit sich die einzelnen Beeinträchtigungen verstärken, überschneiden oder unabhängig nebeneinander bestehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB/GdS-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

a. Ausgangspunkt für die Bildung des Gesamt-GdS bilden vorliegend somit die mit dem höchsten Einzel-GdS von 50 bewerteten Störungen auf psychiatrischem Fachgebiet. Beim Kläger liegt, wie die Sachverständige C. überzeugend festgestellt hat, eine PTBS inkl. der darin enthaltenen phobischen Symptomen (mit Panikattacken und Zwangssymptomen), eine chronifizierte psychosomatische Störung mit Medikamentenabhängigkeit und eine rezidivierende depressive Störung sowie eine (in geringem Umfang - Verschlimmerungsanteil) stressbedingte relative Harninkontinenz vor. Hierfür ist ein Einzel-GdS von 50 entsprechend den insoweit plausiblen Darlegungen der Sachverständigen C. nicht zu knapp bemessen. Insbesondere folgt der Senat, wie im Übrigen auch der ärztliche Dienst des Beklagten, der Sachverständigen, da eine schwere psychische Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen (VG Teil B, Nr. 3.7) gegeben ist. Der Senat macht sich auch insoweit die sachverständigen Feststellungen der Gutachterin nach eigener Prüfung zu eigen. Die Einschätzung der Sachverständigen steht in Übereinstimmung auch mit den weiteren Befundunterlagen, unter anderem mit der Stellungnahme des Psychiaters Dr. V. vom 17.10.2018.

b. Zu berücksichtigen ist weiter ein Einzel-GdS von 20 für den HNO-ärztlichen Bereich. Wie sich insbesondere aus dem fundierten und plausiblen Sachverständigengutachten von Prof. Dr. S. ergibt, ist hier ein Einzel-GdS von 20 durchaus zutreffend, was der Beklagte durch Dr. N. ebenfalls zu Recht angenommen hat. Aus dem Sachverständigengutachten von Prof. Dr. S. und den zahlreichen vorliegenden HNO-fachärztlichen Befunden folgt jedoch, dass es sich insoweit nur um einen "schwachen" GdS von 20 handelt. Wie Prof. Dr. S. nämlich selbst darlegt, bestehen die Beschwerden des Klägers nur fluktuierend. Nicht auszuschließen ist zudem, wie aus dem Gutachten deutlich wird, dass der Kläger - zumindest teilweise - durch die Art, sich die Nase zu putzen, Beschwerden provoziert. Vor allem aber kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass das (ebenfalls fluktuierende) Nasenbluten nicht als schädigungsbedingt betrachtet werden kann, wie sich aus den Unterlagen ohne Weiteres ergibt. Dieses hat bereits vor der Haft bestanden (s. im Einzelnen oben). Der Senat stellt also keineswegs in Abrede, dass der Kläger an Nasenbluten leidet. Dies ergibt sich bereits aus den ausdrücklichen Feststellungen im Gutachten von Prof. Dr. S ... Die Kausalität des schädigenden Ereignisses nach den o.g. Maßgaben ist jedoch nicht hinreichend wahrscheinlich.

Der Senat folgt der Sachverständigen C. nicht, sofern diese vor allem unter Berücksichtigung der HNO-Problematik einen (medizinischen) Gesamt-GdS von 60 annimmt. Wie das BSG ausdrücklich entschieden hat (vgl. z.B. Urteil vom 17.04.2013 - B 9 SB 69/12 B), erhöhen Einzel-GdB/GdS-Werte von 20 den Gesamt-GdB nicht aus Rechtsgründen stets um wenigstens 10 Punkte. Der GdB/GdS ist vielmehr im Rahmen der tatrichterlichen Einschätzung aufgrund einer gebotenen Gesamtbetrachtung aller Einzelbehinderungen zu ermitteln (s.o.). Es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit nur einem GdB/GdS von 20 bei der Bildung des Gesamt-GdB/GdS erhöhend zu berücksichtigen sein können, wenn sie sich auf eine andere Beeinträchtigung besonders nachhaltig, verstärkend auswirken und so zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen (vgl. z.B. Goebel, a.a.O., m.w.N.). Grundsätzlich ist im Einzelfall kritisch zu prüfen, ob die Einzel-GdB/GdS tatsächlich ausgefüllt sind und welche gegenseitige Beeinflussung vorliegt. Ein solcher besonderer Fall, der zu einer Erhöhung führen würde, ist vorliegend aber gerade nicht gegeben. Insoweit sind die Darlegungen der Sachverständigen C. nicht schlüssig. Dies folgt nicht bereits daraus, dass die Sachverständige hier fachfremd argumentieren würde (ob einem Gutachter die Fähigkeit zur Beurteilung spezifischer Krankheiten fehlt, kann nicht schon allein damit begründet werden, dass er die entsprechende Facharztbezeichung nicht führt, vgl. den Beschluss des Senats vom 08.08.2011 - L 15 SB 107/11 B PKH), wovon der Beklagte ausgeht, sondern daraus, dass nicht beachtet worden ist, dass, auch wenn der Kläger durch die HNO-Problematik insgesamt durchaus erheblich beeinträchtigt ist, aus den o.g. Gründen nur ein "schwacher" GdS von 20 gegeben ist, dieser also gerade nicht ausgefüllt ist, und dass Überschneidungen mit den Schädigungsfolgen auf psychiatrischem Fachgebiet vorliegen.

c. Durch den schädigungsbedingten Verschlimmerungsanteil der Harninkontinenz ergibt sich keine Erhöhung des (medizinischen) Gesamt-GdS auf 60. Dies folgt aus dem Gutachten der Sachverständigen C ... Die Sachverständige hat zwar einen Verschlimmerungsanteil der stressbedingten Harninkontinenz anerkannt, ist jedoch nicht ausdrücklich zu einem höheren GdS (als 50) auf dem psychiatrischen Bereich gekommen und hat die Erhöhung des Gesamt-GdS letztlich alleine mit der stärkeren Berücksichtigung des Einzel-GdS (von 20) auf HNO-ärztlichem Gebiet begründet. Vorliegend ist - bei großzügiger Sicht der Dinge - insgesamt, also auch unter Berücksichtigung des nicht schädigungsbedingten, "organisch bedingten" Anteils, für den maßgeblichen Zeitpunkt allenfalls eine relative Harninkontinenz des Grades II gegeben (vgl. VG Teil B, Ziffer 12.2.4), da ein Einnässen tagsüber nach dem Vortrag des Klägers im Wesentlichen erst ab 2012 aufgetreten ist. Da aber nur der geringere Verschlimmerungsanteil zugrunde zu legen ist, ist aus Sicht des Senats wie oben dargestellt (1.) zwar gerade noch vertretbar, dass ein knapper GdS von 10 erreicht wird. Dieser kann jedoch in keinem Fall erhöhend wirken. Selbst ein Einzel-GdS von 20 für die relative Harninkontinenz, der nicht in Betracht kommt, wäre bereits wegen der Überschneidung der Beeinträchtigung mit dem psychiatrischen Bereich nicht geeignet, eine Erhöhung des Gesamt-GdS zu bewirken. Vor allem ist hier zu beachten, dass das Rückzugsverhalten, sofern es überhaupt auf der Problematik des Einnässens beruht, jedenfalls wesentlich auf die nicht schädigungsbedingte, weil deutlich überwiegende Harninkontinenz zurückzuführen ist.

Schließlich ist die (zusätzliche, d.h. im zeitlichen Verlauf geschilderte) Verschlimmerung der Harninkontinenz, die von der Sachverständigen für die Zeit ab 2012 festgestellt worden ist, nicht zu berücksichtigen. Soweit der Senat oben (s. 1.) von einer Verschlimmerung der Harninkontinenz ausgeht, bezieht sich dies - wie bereits deutlich gemacht - nicht auf den zeitlichen Verlauf, sondern auf die Verstärkung der grundsätzlich organisch bedingten Problematik (s. VG Teil C, Nr. 7). Vorliegend geht es nämlich um eine Korrektur der o.g. Bescheide im Wege von § 44 SGB X. Die Verschlimmerung ab 2012 hätte sich jedoch erst im Nachhinein, sofern sie überhaupt nachgewiesen wäre - was offenbleiben kann -, eingestellt. Die genannten Verwaltungsentscheidungen waren also zunächst jedenfalls insoweit nicht unzutreffend; vielmehr könnte ein Fall von § 48 SGB X gegeben sein. Dementsprechend ist wie erwähnt auch ein Neufeststellungsantrag des Klägers anhängig, der derzeit ruht.

Eine Erhöhung des GdS kommt somit nicht in Betracht.

Für weitere Ermittlungen (§ 106 SGG) bestand keine Veranlassung und erst recht keine verfahrensrechtliche Pflicht. Insbesondere war kein urologisches Sachverständigengutachten einzuholen. Dies hat die Klägerseite selbst als nicht zweckmäßig bezeichnet (s.o.). Zudem ist es aus Sicht des Senats nicht machbar (vgl. oben), einen konkreten GdS-Wert bezüglich der Verschlimmerung der Harninkontinenz mit größerer Sicherheit darzustellen ("herauszurechnen") als bereits erfolgt. Es ist in keiner Weise erkennbar, dass ein urologischer Sachverständiger hierzu geeignetere Instrumente haben könnte. Schließlich handelt es sich bei der Problematik des psychiatrisch bedingten Verschlimmerungsanteils eben gerade um eine im Wesentlichen psychiatrische und nicht um eine urologische; hierzu hat denn auch die Sachverständige C. Stellung genommen.

Der erstmals am 28.01.2019 gestellte Antrag gemäß § 109 SGG wurde zu spät eingebracht und ist daher zurückzuweisen. Gemäß § 109 Abs. 1 SGG ist im sozialgerichtlichen Verfahren auf Antrag des Klägers ein bestimmter Arzt gutachtlich zu hören. Die Anhörung kann von der Einzahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht werden (§ 109 Abs. 1 Satz 2 SGG). Abgelehnt werden kann die Anhörung gem. § 109 Abs. 2 SGG, wenn der Antrag entweder in Verschleppungsabsicht oder aus grober Nachlässigkeit zu spät vorgebracht worden ist und sich bei einer Zulassung des Beweisantrags die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde. Die Voraussetzungen sind regelmäßig dann gegeben, wenn der Kläger den Antrag auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG nicht in angemessener Frist stellt, obwohl er erkennt oder erkennen muss, dass die von Amts wegen durchzuführende Beweisaufnahme beendet ist (vgl. bereits BSG vom 24.03.1961 - 10 RV 303/5). So liegt es hier. Im Erörterungstermin am 15.01.2019 hat der Berichterstatter des Senats darauf hingewiesen und sind die Beteiligten davon ausgegangen, dass die Beweisaufnahme von Amts wegen abgeschlossen war und dass auch ein Gutachten nach § 109 SGG nicht mehr im Raum stand. Demzufolge haben die Beteiligten auch ihr Einverständnis mit einer schriftlichen Entscheidung des Berufungsverfahrens gem. § 124 Abs. 2 SGG erteilt. Die Klägerseite hätte mit der Antragstellung keinesfalls noch bis 28.01.2019 warten dürfen. Auch durch den Hinweis des Gerichts vom 21.01.2019 ergibt sich keine andere Bewertung. Denn dieser hat inhaltlich keine neue Situation geschaffen, sondern - ohne rechtlich zwingend geboten zu sein - lediglich zwei im Verfahren bereits bekannte Einzelaspekte hervorgehoben. Der Antrag vom 28.01.2019 hat sich aber, anders als die ausdrückliche Erklärung der Klägerseite vermuten lässt, gerade nicht auf diese Aspekte bezogen. Dies wird daran deutlich, dass die Einholung des Gutachtens durch eine für die Kausalitätsfrage des Nasenblutens (als besondere fachspezifische Problematik) nicht kompetente psychiatrische Sachverständige beantragt worden ist und dass die Bevollmächtigte der Einschätzung des Gerichts zur § 44 SGB X-Problematik ausdrücklich gefolgt ist. Mit dem Antrag gem. § 109 SGG ist es der Klägerseite vielmehr darum gegangen, die tatsächlichen Prüfungen und die rechtliche Diskussion zur Bewertung der psychiatrischen Gesundheitsstörungen wieder zu eröffnen, die aber spätestens am 15.01.2019 längst abgeschlossen waren. Da die Zulassung des Antrags einer Entscheidung am 12.02.2019 entgegengestanden wäre und daher das Verfahren (um Monate) verzögert hätte, war der Antrag zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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