L 4 P 50/19

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 8 P 49/19
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 P 50/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ergeht während des gerichtlichen Verfahrens ein weiterer Sanktionsbescheid (hier Entziehung des Pflegegeldes nach einer vorangegangenen Kürzung), wird dieser Bescheid nicht gemäß § 96 SGG Gegenstands des Verfahrens. Es kann jedoch eine zulässige Klageerweiterung vorliegen.
2. Zur Kürzung des Pflegegeldes um 25 v.H.
3. Bei der Entziehung des Pflegegeldes im Wiederholungsfall handelt es sich um eine gebundene Entscheidung.
4. In dem Verlangen nach einem halbjährigen Beratungsbesuch liegt kein Grundrechtsverstoß und kein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor.
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 23. Juli 2019 wird zurückgewiesen.

II. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 26.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.10.2019 wird abgewiesen.

III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig sind die Kürzung des Pflegegeldes um 25 v.H. seit 01.03.2019 sowie die Entziehung des Pflegegeldes seit 01.08.2019 durch die Beklagte und Berufungsbeklagte.

Die Klägerin und Berufungsklägerin ist aufgrund des Bezuges von Arbeitslosengeld II Mitglied der Beklagten. Sie bezog zunächst Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegestufe I; gemäß Bescheid der Beklagten vom 05.01.2017 war der Klägerin ab 01.01.2017 Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 entsprechend der Vorschrift des § 140 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI) bewilligt worden. Die Beklagte wies dabei die Klägerin auf das Erfordernis der halbjährlichen Beratungsbesuche hin. Nach einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) in Bayern vom 19.05.2017 betrug die Summe der gewichteten Punkte 11,25. Als pflegebegründende Diagnosen lagen eine rezidivierende depressive Störung (bipolar) sowie sonstige Spondylopathien und ein Zustand nach Radikulopathie der Lendenwirbelsäule im Mai 2015 vor. Der MDK stellte im Rahmen eines Höherstufungsantrags vom 21.02.2018 in seinem Gutachten vom 23.04.2018 eine Summe von 51,25 gewichteten Punkten fest; es liege daher seit 01.01.2017 Pflegegrad 3 vor. Es bestehe bei der Klägerin eine schwere Depression mit erheblichen Angststörungen und Suizidgedanken.

Mit Schreiben vom 26.01.2019 wies die Beklagte die Klägerin auf den einmal halbjährlich notwendigen Beratungseinsatz hin. Nachdem bis dato kein Nachweis über die Durchführung vorliege, müsse dieser so bald wie möglich durchgeführt werden. Ohne Nachweis erfolge eine Kürzung des Pflegegeldes um 25 % ab dem 01.03.2019. Ergänzend erging ein Hinweis auf die Möglichkeiten der Beratung sowie bei Nichtreaktion das Ergehen eines entsprechenden Bescheids.

Da von der Klägerin kein Nachweis über die kalenderhalbjährliche Pflegeberatung erbracht worden war, kürzte die Beklagte mit Bescheid vom 21.02.2019 das Pflegegeld ab 01.03.2019 um 25 %. Ab dem Tag des Beratungseinsatzes könne das Pflegegeld wieder in voller Höhe ausgezahlt werden.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 08.04.2019 zurück. Bezieher von Pflegegeld nach Pflegegrad 3 hätten halbjährlich einmal eine Pflegeberatung in der eigenen Häuslichkeit abzurufen. Diese Beratung diene der Sicherung der Qualität der häuslichen Pflege und der regelmäßigen Hilfestellung und praktischen pflegefachlichen Unterstützung der häuslich Pflegenden (vgl. § 37 Abs. 3 SGB XI). Riefen Pflegebedürftige die Beratung nach Absatz 3 Satz 1 nicht ab, habe die Pflegekasse das Pflegegeld angemessen zu kürzen und im Wiederholungsfall zu entziehen, § 37 Abs. 6 SGB XI. Ausnahmen sehe das Gesetz nicht vor. Den Begriff der angemessenen Kürzung hätten der GKV-Spitzenverband und die Verbände der Pflegekassen auf Bundesebene in ihrem gemeinsamen Rundscheiben zu den leistungsrechtlichen Vorschriften des SGB XI vom 22.12.2016 in der Fassung vom 13.02.2018 unter Ziffer 5.4 Abs. 1 definiert. Als angemessen sei demnach eine Kürzung in Höhe von 50 % anzusetzen. Nachdem die Beklagte hier nur eine Kürzung von 25 % vorgenommen hätte, sie die Kürzung jedenfalls als angemessen anzusehen. Abschließend erging Hinweis auf die drohende Einstellung des Pflegegeldes im Wiederholungsfall.

Die Klägerin hat Klage zum Sozialgericht Bayreuth erhoben. Es werde gegen die Menschenrechte, das Grundgesetz, die Bayerische Verfassung und bei der Bezahlung von Pflegeleistungen für Angehörige gegen den Mindestlohn verstoßen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 23.07.2019 abgewiesen. Die Anfechtungs- und Unterlassungsklage sei zulässig, jedoch unbegründet.

Die Beklagte habe das der Klägerin zustehende Pflegegeld zu Recht gemäß § 37 Abs. 6 SGB XI wegen des unterbliebenen Abrufs eines Pflegeeinsatzes in dem hier streitigen Zeitraum um 25 % gekürzt. Nach § 37 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB XI sei die Klägerin als Bezieherin von Pflegegeld nach Pflegegrad 3 verpflichtet gewesen, mindestens einmal halbjährlich eine Pflegeberatung in der eigenen Häuslichkeit durch einen zugelassenen Pflegedienst etc. abzurufen. Dieser Verpflichtung sei die Klägerin nicht nachgekommen. Die Nichterfüllung der durch § 37 Abs. 3 S. 1 SGB XI begründeten Verpflichtung müsse auch nicht deshalb sanktionslos bleiben, weil diese Vorschrift, wie die Klägerin meine, gegen Menschenrechte, das Grundgesetz, die Bayerische Verfassung und bei der Bezahlung von Pflegeleistungen für Angehörige gegen den Mindestlohn verstoße. Das Sozialgericht hat ausgeführt, dass die Beklagte mit dem geforderten Nachweis einer Pflegeberatung weder gegen Art. 13 Abs. 1 Grundgesetz (GG) noch gegen Art. 6 Abs. 1 GG noch gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG oder den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße. Auch ein Verstoß gegen die Menschenrechte sowie die Bayerische Verfassung sei für das Gericht nicht erkennbar. Insoweit erfolge auch keine konkrete Benennung, sondern nur eine unspezifische Rüge.

Nachdem die Pflege durch Familienangehörige nicht durch ein Arbeitsverhältnis geprägt sei, komme es auf Fragen des Mindestlohns vorliegend nicht an.

Schließlich sei die von der Beklagten vorgenommene Kürzung des laufenden Pflegegeldes um 25 % auch der Höhe nach angemessen. Angesichts der gesetzlichen Regelung, wonach das Pflegegeld im Wiederholungsfall völlig zu entziehen sei, erscheine es nicht als unangemessen, wenn auf den ersten Verstoß hin eine Kürzung um 25 % vorgenommen werde. Da weiterhin eine Pflegeberatung nicht nachgewiesen worden ist, hat die Beklagte mit Bescheid vom 26.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.10.2019 die Pflegegeldzahlung zum 01.08.2019 eingestellt.

Die Klägerin hat gegen den ihr am 26.07.2019 zugestellten Gerichtsbescheid am 16.08.2019 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Der Prozessbevollmächtigte hat eine Verletzung sowohl der Menschenrechte als auch der Grundrechte, die die Bayer. Verfassung und das Grundgesetz garantierten, gerügt. Seine Frau habe nicht nur Depression und ein posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS), sondern sie benötige auch rund um die Uhr Betreuung. Der Begleithund "F. " sei seit zwei Jahren Schutz und gleichzeitig Hilfe für sie und die pflegenden Angehörigen. Er hat die Beiziehung der Akten in allen sozialgerichtlichen Verfahren (Fachgebiete SO, AS, SB, VG) beantragt.

Die Beklagte ist der Berufung entgegengetreten. Sie hat auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid sowie die Entscheidungsgründe des Sozialgerichts verwiesen.

Der Vorsitzende hat darauf hingewiesen, dass das Verfahren vor dem Sozialgericht Bayreuth (Az.: S 6 P 84/17), das den Begleithund betreffe, nicht Gegenstand dieses Verfahrens sei.

Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 25.09.2019 mitgeteilt, der Ehemann der Klägerin habe mit Fax vom 06.09.2019 mitgeteilt, dass die Klägerin einen Termin für ein Beratungsgespräch bei der Diakonie ausmachen möchte. Sobald die Bestätigung des Beratungseinsatzes vorliege, setze die Beklagte die Pflegegeldzahlung fort.

Die Klägerin hat an dem Verfahren festgehalten. Der Staat dürfe bei der Erfüllung seiner Kompetenz die Grundrechte nicht verletzen. Mit Schriftsatz vom 16.10.2019, betreffend alle seit 01.01.2012 anhängigen Sozialgerichtsverfahren für die Klägerin und ihn, hat ihr Prozessbevollmächtigte unter anderem den Widerspruchsbescheid vom 14.10.2019, der den Widerspruch gegen die Entziehung des Pflegegeldes gemäß Bescheid vom 26.07.2019 betraf, übermittelt.

Es ist im weiteren Verlauf nicht nachgewiesen worden, dass ein Beratungsgespräch stattgefunden hat. Die Beklagte hat demgemäß ausgeführt, dass weiterhin eine Beratung nicht nachgewiesen worden sei; die Kürzung des Pflegegeldes um 25 % sei gemäß § 37 Abs. 3 S. 1, Abs. 6 SGB XI zu Recht erfolgt und auch in der Höhe angemessen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat mit Schriftsatz vom 08.01.2020 mitgeteilt, dass die Diakonie A-Stadt dem von ihnen vorgeschlagenen Beratungseinsatz in der Diakoniestation nicht näher getreten sei und sie auch nicht weiter informiert habe. Er stelle den Antrag auf Revision aller seit 01.01.2012 durchgeführten Sozialgerichtsverfahren. Die Grundrechte und Grundpflichten seien verletzt. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat sich im Weiteren vor allem auf eine Verletzung von Art. 13 GG bzw. Art. 106 der Bayer. Verfassung (Unverletzlichkeit der Wohnung) bezogen.

Die Beklagte hat demgegenüber darauf hingewiesen, dass sich die Verpflichtung nach § 37 Abs. 3 S. 1 SGB XI immer auf eine Beratung im Wohnumfeld beziehe. Dies verstoße weder gegen Art. 13 Abs. 1 GG noch gegen Art. 6 Abs. 1 GG oder gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG; sie hat auf die Kommentarliteratur sowie auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24.07.2003 (BSG, B 3 P 4/02 R) hingewiesen.

Zuletzt ist für die Klägerin nochmals die Einbeziehung aller sozialgerichtlicher Verfahren in das Berufungsverfahren beantragt worden, so z.B. auch das Verfahren vor dem Sozialgericht Bayreuth (S 8 P 129/18; Gerichtsbescheid vom 28.05.2020) sowie einen Antrag vom 05.06.2020 bei der Krankenkasse auf eine ambulante Vorsorgemaßnahme (Badekur in S.). In der mündlichen Verhandlung vom 30.07.2020 hat der Vorsitzende dargelegt, dass § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hinsichtlich des weiteren Sanktionsbescheides vom 26.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.10.2019 nicht zur Anwendung komme, da insoweit der neue Sanktionsbescheid den streitgegenständlichen nicht abändere oder ersetze. Er hat ferner dargelegt, dass jedoch nach Ansicht des Senats der Bescheid vom 26.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.10.2019 über § 99 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist. Eine Klageänderung im Sinne einer Klageerweiterung sehe der Senat als sachdienlich an. Auf die Niederschrift der Sitzung wird verwiesen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 23.07.2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 21.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2019 und den Bescheid vom 26.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.10.2019 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 26.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.10.2019 abzuweisen.

Im Übrigen wird auf den Inhalt der Akte der Beklagten, der Gerichtsakte des Sozialgerichts (Az.: S 6 P 84/17) sowie der Klage- und Berufungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne Anwesenheit der Klägerin bzw. ihres Bevollmächtigten entscheiden. Das persönliche Erscheinen war nicht angeordnet; eine persönliche Einvernahme der Klägerin wurde nicht für erforderlich erachtet. Eine Videoübertragung der mündlichen Verhandlung oder eine Videobefragung, wie vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin aufgrund der Coronasituation angeregt, ist am Bayer. Landessozialgericht technisch derzeit nicht möglich und rechtlich nicht vorgesehen. Im Übrigen ist grundsätzlich unter den derzeitigen Bedingungen und bei Einhaltung der Abstands- und Hygienevorschriften gegenwärtig eine Anwesenheit in der mündlichen Verhandlung zumutbar.

Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), jedoch unbegründet (Nr. I. des Tenors).

Streitgegenstand im vorliegenden Berufungsverfahren ist zunächst nur eine Überprüfung der Entscheidung des Sozialgerichts gemäß Gerichtsbescheid vom 23.07.2019. Diese betraf den Bescheid der Beklagten vom 21.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2019, also die Kürzung des Pflegegeldes gemäß Pflegegrad 3 um 25 % seit 01.03.2019 nach § 37 Abs. 6 SGB XI und das Erfordernis einer Beratung im Wohnumfeld der Klägerin nach § 37 Abs. 3 SGB XI. Der Antrag auf "Revision aller seit 1.1.2012 durchgeführten Sozialgerichtsverfahren", die die Klägerin und den prozessbevollmächtigten Ehemann betreffen, namentlich diejenigen, die den Begleithund sowie eine Rehabilitationsmaßnahme betreffen, ist nicht Streitgegenstand im Berufungsverfahren.

Zu entscheiden ist jedoch auch über den Entzug des Pflegegeldes zum 01.08.2019 durch die Beklagte. Nachdem das Sozialgericht am 23.07.2019 durch Gerichtsbescheid entschieden hatte, hat die Beklagte mit Bescheid vom 26.07.2019 das Pflegegeld gemäß § 37 Abs. 6 SGB XI in vollem Umfang zum 01.08.2019 entzogen. Den Widerspruch hat sie mit Widerspruchsbescheid vom 14.10.2019 abgewiesen. Es handelt sich um einen weiteren Sanktionsbescheid nach § 37 Abs. 6 SGB XI, nachdem das Pflegegeld mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 21.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2019 bereits um 25 % gekürzt worden war. Er beruht auf der neuen Tatsache, dass die Klägerin weiterhin eine Beratung im Sinne des § 37 Abs. 3 SGB XI nicht eingeholt hat. Dieser Bescheid wurde zwar nicht gemäß § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens, da der neue Sanktionsbescheid nicht den streitgegenständlichen ersetzt oder ändert. Es liegt im Übrigen kein identischer Regelungsgegenstand vor, sondern eine neue Regelung aufgrund Tatsachen, die nach dem vorangegangenen Sanktionsbescheid vorliegen.

Allerdings ergibt sich, wie dargelegt, aus verschiedenen klägerischen Schriftsätzen, dass die Klägerin nach Möglichkeit den Einbezug aller ihrer Verfahren begehrt. Mit Schriftsatz vom 16.10.2019 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin unter anderem den Widerspruchsbescheid vom 14.10.2019 übermittelt und damit zum Ausdruck gebracht, dass auch dieser Widerspruchsbescheid Gegenstand des Verfahrens werden soll. Es liegt darin eine Klageerweiterung im Sinne einer Klageänderung nach § 99 SGG. Eine Änderung der Klage ist nur zulässig, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält, § 99 Abs. 1 SGG. Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass die Klageänderung für sachdienlich erachtet wird. Die Beklagte hat dem nicht widersprochen und ihren Antrag dementsprechend angepasst. Zu entscheiden war daher auch über die Anfechtungsklage auf Aufhebung des Bescheides vom 26.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.10.2019. Die Klage war abzuweisen (Nr. II des Tenors).

Mit diesen Anträgen zielt die Klägerin auch auf ein Absehen von den Beratungseinsätzen ab.

a) Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage betreffend die Kürzung des Pflegegeldes ab 01.03.2019 um 25 % abgewiesen. Unstreitig ist dabei, dass eine Beratung im Wohnumfeld der Klägerin bislang nicht erfolgt ist. Die Beklagte beruft sich dabei zutreffend auf die Regelungen des § 37 Abs. 3 S. 1 SGB XI bzgl. des Erfordernisses einer Beratung und auf § 37 Abs. 6 SGB XI hinsichtlich der Kürzung des Pflegegeldes. Dabei ist die erfolgte Kürzung um 25 % als angemessen anzusehen. Pflegebedürftige, die Pflegegeld nach Absatz 1 beziehen, haben
* bei Pflegegrad 2 und 3 halbjährlich einmal,
* bei Pflegegrad 4 und 5 vierteljährlich einmal
eine Beratung in der eigenen Häuslichkeit durch einen zugelassenen Pflegedienst, durch eine von den Landesverbänden der Pflegekassen nach Absatz 7 anerkannte Beratungsstelle mit nachgewiesener pflegefachlicher Kompetenz oder, sofern dies durch einen zugelassenen Pflegedienst vor Ort oder eine von den Landesverbänden der Pflegekassen anerkannte Beratungsstelle mit nachgewiesener pflegefachlicher Kompetenz nicht gewährleistet werden kann, durch eine von der Pflegekasse beauftragte, jedoch von ihr nicht beschäftigte Pflegefachkraft abzurufen. Rufen Pflegebedürftige die Beratung nach Absatz 3 Satz 1 nicht ab, hat die Pflegekasse oder das private Versicherungsunternehmen das Pflegegeld angemessen zu kürzen und im Wiederholungsfall zu entziehen (§ 37 Abs. 6 SGB XI). Es handelt sich hinsichtlich des Ob der Entscheidung nicht um eine Ermessensentscheidung; nur die Höhe der Kürzung liegt im Ermessen der Beklagte; diese muss angemessen sein.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat eine Kürzung um 25 v.H. "auf den ersten Verstoß hin" als nicht unangemessen angesehen (BSG, Urt. vom 24.07.2003, BSGE 91, 174). Das Gemeinsame Rundschreiben des GKV-Spitzenverbands und der Verbände der Pflegekassen auf Bundesebene vom 13.2.2018 (siehe [Rn. 7], Nr. 5.4 Abs. 3 und Abs. 4 zu § 37) sieht vor, dass dann, wenn ein Nachweis nicht rechtzeitig vorliegt, auf eine bevorstehende Kürzung um 50 v.H. hingewiesen wird; die Kürzung erfolgt ab dem 1. des auf die Mitteilung folgenden Monats (zum Ganzen: KassKomm-Leitherer, SGB XI, § 37 Rn. 55). Gemäß § 153 Abs. 2 SGG verweist der Senat hierzu zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in dem angefochtenen Gerichtsbescheid.

b) Zu Recht hat die Beklagte in der Folge auch zum 01.08.2019 das Pflegegeld entzogen. § 37 Abs. 6 SGB XI sieht vor, dass die Pflegekasse das Pflegegeld im Wiederholungsfall zu entziehen hat, wenn Pflegebedürftige die Beratung nach Absatz 3 Satz 1 nicht abrufen. Letzteres ist hier auch nach dem 01.03.2019 bzw. nach dem Bescheid vom 21.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2019 nicht erfolgt. Die Beklagte hat hierbei auch einen angemessenen Zeitraum für den Erlass des weiteren Sanktionsbescheides abgewartet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass seitens der Klägerin keine Bemühungen um eine Pflegeberatung stattfanden. Erst mit Schriftsatz vom 06.09.2019 wurde mitgeteilt, dass man einen Termin für ein Beratungsgespräch bei der Diakonie H.ausmachen möchte. Im Übrigen war aber hierbei nicht vorgesehen, eine Beratung "in der eigenen Häuslichkeit" zuzulassen, wie es § 37 Abs. 3 S. 1 SGB XI aber ausdrücklich vorsieht.

Auch bei der Entziehung des Pflegegeldes handelt es sich nicht um eine Ermessensentscheidung, sondern um eine gebundene Entscheidung.

c) Im Berufungsverfahren rügt die Klägerin durch ihren Ehemann als Prozessbevollmächtigten vor allem die Verletzung von Menschen- bzw. Grundrechten gemäß dem Grundgesetz und der Bayer. Verfassung. Im Vordergrund steht dabei das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG bzw. Art. 106 Bayer. Verfassung. Insoweit sind die gerügten Grundrechte nach der Bayer. Verfassung und dem Grundgesetz in ihrem Schutzbereich weitgehend deckungsgleich.

Das Sozialgericht hat auch insoweit in dem Gerichtsbescheid eingehend und zutreffend dargelegt, dass Grundrechte nicht verletzt sind. Auch das BSG hat in seinem Urteil vom 24.07.2003 (BSG, a.a.O.) bereits ausgeführt, dass das Beratungsgebot nach § 37 Abs. 3 S. 1 SGB XI nicht gegen Art. 13 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verstößt (so auch die Kommentarliteratur, z.B. KassKomm-Leitherer, a.a.O., Rn. 37). Das Sozialgericht sowie die Beklagte berufen sich auf diese Entscheidung des BSG. Diese ist ergangen zur Fassung des § 37 Abs. 3 SGB XI in der Fassung vom 14.06.1996 (gültig vom 25.06.1996 bis 31.07.1999; a.F.).

Diese alte Fassung ist aber gerade im Hinblick auf Fragen der Verfassungsmäßigkeit durchaus vergleichbar mit der derzeit gültigen Fassung (in der Fassung vom 06.05.2019, gültig ab 11.05.2019). Der Wortlaut von § 37 Abs. 3 S. 1 SGB XI a.F. war:

Pflegebedürftige, die Pflegegeld nach Absatz 1 beziehen, sind verpflichtet
1. bei Pflegestufe I und II mindestens einmal halbjährlich,
2. bei Pflegestufe III mindestens einmal
vierteljährlich einen Pflegeeinsatz, durch eine Pflegeeinrichtung mit der die Pflegekasse einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat abzurufen. 2Die Pflegeeinsätze dienen der Sicherung der Qualität der häuslichen Pflege und der regelmäßigen Hilfestellung und Beratung der häuslich Pflegenden. 3 Die Vergütung des Pflegeeinsatzes ist von dem Pflegebedürftigen zu tragen. 4 Sie beträgt in den Pflegestufen I und II bis zu 30 Deutsche Mark und in der Pflegestufe III bis ( ...). (§ 37 SGB XI in der Fassung vom 14.6.1996)

Zu Art. 13 Abs. 1 GG hat das BSG Folgendes ausgeführt:

"Das Gesetz erteilt den Pflegekassen vielmehr zusätzlich den Auftrag, eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse entsprechende pflegerische Versorgung der Versicherten zu gewährleisten. Zur Erreichung dieses Ziels stellt das SGB XI qualitative Anforderungen an die Pflegeeinrichtungen auf; dem entspricht im Bereich der ehrenamtlichen Pflege die den Pflegekassen übertragene Kontrollfunktion. An der mit dem Antrag auf Pflegegeld selbst übernommenen Verpflichtung muss sich der Pflegebedürftige, solange ihm Pflegegeld an Stelle häuslicher Pflegehilfe gewährt wird, auch im Lichte des Art. 13 Abs. 1 GG festhalten lassen. Die von der Klägerin angegriffenen Pflegeeinsätze bedeuten keinen unverhältnismäßigen Eingriff. Es ist nicht zu erkennen, dass der Gesetzgeber im Hinblick auf das von ihm verfolgte Ziel, ein Mindestmaß an Pflegequalität auch bei der Versorgung von Pflegebedürftigen im häuslichen Bereich durch ehrenamtliche Pflegekräfte sicherzustellen, ein geringer belastendes Eingriffsmittel hätte einsetzen können." (BSG, a.a.O., juris Rn. 21).

Auch eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 GG scheidet demnach aus:

"Entgegen der Auffassung der Klägerin liegt in der Forderung nach regelmäßigen Pflegeeinsätzen keine "Bevormundung" der pflegenden Familienangehörigen bzw. der Pflegebedürftigen. Denn solange die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung des Pflegegeldempfängers sichergestellt ist, steht es dem Pflegebedürftigen und seinen pflegenden Familienangehörigen frei, ob und ggf. auf welche Art und Weise sie die Empfehlungen des Pflegedienstes umsetzen. Ist hingegen die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung des Pflegegeldempfängers nicht sichergestellt, so ist die Familie in dieser Funktion auch im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG nicht als schutzwürdig anzusehen, da sie gerade nicht in der Lage ist, den auf Hilfe angewiesenen pflegebedürftigen Familienangehörigen sachgerecht zu versorgen. Soweit den Pflegeeinsätzen eine Kontrollfunktion zukommt, scheidet eine Störung der Funktion der Familie als Träger der Lebenshilfe aus." (BSG, a.a.O., juris Rn. 22).

Zu Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG:

"Um eine derartige Benachteiligung handelt es sich bei dem Pflegeeinsatz jedoch nicht. § 37 Abs. 3 Satz 1 SGB XI a.F. knüpft nicht an die Behinderung des Pflegegeldempfängers an, sondern an den Umstand, dass im Falle des Pflegegeldbezuges die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung des Pflegebedürftigen regelmäßig nicht von zugelassenen Pflegediensten, die besonderen Zulassungs- und Qualitätsanforderungen unterliegen, sondern von Laien durchgeführt wird. Von der Regelung sind nicht speziell behinderte Menschen betroffen, sondern nur Pflegebedürftige, die ihre Pflege selbst sicher stellen wollen. Pflegebedürftige Behinderte, die häusliche Pflegehilfe in Form der Pflegesachleistung nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in Anspruch nehmen, werden ebenso wenig wie nicht Behinderte von der Notwendigkeit des Abrufs derartiger Einsätze tangiert. Die Anknüpfung an die - bei der hier gebotenen typisierenden Betrachtung - unterschiedliche Qualifikation der Hilfeleistenden bei Pflegesachleistung einerseits und Pflegegeld andererseits rechtfertigt die Ungleichbehandlung der jeweiligen Leistungsbezieher auch im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)." (BSG, a.a.O., juris Rn. 23).

Ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat das BSG ebenfalls nicht angenommen, da jedenfalls die häusliche Pflegesituation einem ständigen Wechsel unterliege, allein schon weil die betroffenen Pflegepersonen älter würden und auch deren Leistungsfähigkeit nicht unverändert bleibe. Hinzukomme, dass sich auf dem Gebiet der Medizin, der Pflegewissenschaft oder auf dem Hilfsmittelsektor ständig neue Erkenntnisse und Entwicklungen ergäben, die dazu beitragen könnten, die Qualität der häuslichen Pflege zu sichern oder zu verbessern.

Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung hat auch das Sozialgericht einen entsprechenden Verfassungsverstoß verneint. Auch insoweit kann gemäß § 153 Abs. 2 SGG auch bzgl. der Neufassung der § 37 Abs. 3 u. 6 SGB XI auf die Ausführungen des Sozialgerichts verwiesen werden. Dies gilt auch für eine Verletzung von Menschenrechten (Art. 1 GG), die entsprechenden Vorschriften der Bayer. Verfassung (s.o.) oder den Mindestlohn.

Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) scheidet damit ebenfalls aus.

Die Berufung ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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