L 5 U 42/96

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 6 U 144/95
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 U 42/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 07.08.1996 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 20.01.1994 Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. zu zahlen. Die Beklagte trägt die Kosten des Klägers aus beiden Rechtszügen.

Tatbestand:

Streitig ist die Zahlung von Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO (Berufskrankheitenverordnung i.d.F.d. 2. Änderungs-VO, BGBl. I 1992, S. 2343).

Der 1943 geborene Kläger war nach Beendigung der schulischen Ausbildung von April 1958 bis zum 16.04.1962 zunächst Berglehrling und dann Knappe bei der M ... S ... AG. Seitdem ist er bei der T ... G ... AG beschäftigt. Bis zum 15.03.1977 hatte er in der Transportabteilung des T ...-T ...- Betriebes (Möbelfilmproduktion) Papier- und Möbelfilmrollen mit Gewichten von 150 kg bis 600 kg zu transportieren. Rollen bis 300 kg wurden von Hand angekippt, mit einer Sackkarre übernommen und zur weiteren Verarbeitung bereitgestellt. Schwerere Gewichte wurden per Gabelstapler transportiert. Ab 16.03.1977 händelte der Kläger im Versand der Lagergießerei ein- und ausgehende Lager mit unterschiedlichen Gewichten von Hand oder mit Hilfe von Hebezeugen und transportierte Lager mit Gabelstaplern unterschiedlicher Type und Tragkraft zwischen der Lagergießerei und den Maschinentechnischen Werkstätten (Einzelheiten streitig). Seit 20.01.1994 ist er in der Warenleitstelle.

Ende April 1993 zeigte Dr. S ... den Verdacht einer BK Nr. 2108 an. Die Beklagte zog Unterlagen der BKK des Arbeitgebers (59 ff. VA) und Berichte von Dr. P ..., Arzt für Allgemeinmedizin L ..., Dr. S ..., Dr. D ... und Dr. T ... bei, holte Auskünfte vom Arbeitgeber und dem Technischen Aufsichtsdienst sowie eine Stellungnahme vom Staatlichen Gewerbearzt ein und lehnte die Anerkennung einer Berufskrankheit und die Zahlung von Verletztenrente ab, da der Kläger nach dem 31.03.1988 nicht einer hinreichenden Exposition ausgesetzt gewesen sei (Bescheid vom 26.09.1994).

Zur Begründung seines Widerspruchs trug der Kläger vor, die Arbeitsplatzbeschreibung sei erläuterungsbedürftig und die medizinische Einschätzung zu überprüfen.

Die Beklagte hörte den Technischen Aufsichtsdienst und gutachtlich Dr. L ... und den Orthopäden B ... und wies den Widerspruch zurück (Bescheid vom 03.07.1995).

Zur Begründung seiner Klage zum SG Duisburg hat der Kläger vor getragen, die arbeitsmedizinischen und -technischen Voraussetzungen seien nicht richtig abgeklärt worden. Nach eigener Einschätzung sei er ab März 1977 bis August 1993 ca. 3 Stunden täglich mit dem Verpacken von Lagermetall in gebückter Haltung (3 Tonnen täglich) von Hand, ca. 2 Stunden mit dem Ein- und Auspacken von Gleitlagern und Bronzeteilen aus Gitterboxen und Versandkisten (Gewichte zwischen 5 und 50 kg) und ca. 2 Stunden am Tag mit Lkw-Fahrten befaßt gewesen, um weitere Teile aus zuliefern und abzuholen. Nach der sechsmonatigen Krankheit (Rückenoperation) sei er im Februar 1994 auf einen leichteren Arbeitsplatz in die Warenleitstelle versetzt worden. Auf das Schreiben von Dr. S ... (9/95; 12 GA) werde verwiesen.

Die Beklagte hat sich auf Stellungnahmen ihres Technischen Aufsichtsdienstes (21, 24 GA) und des Arbeitgebers (22 f. GA) berufen. Das Gericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 07.08.1996).

Zur Begründung seiner Berufung trägt der Kläger vor, nach einer von der Sicherheitskraft des Arbeitgebers G. erstellten Belastungsanalyse sei zumindest von einer Belastungszeit von 1,5 Stunden pro Schicht auszugehen, wobei durchschnittlich 1.644 m Wegstrecke und ein Zeitverhältnis für die Tätigkeiten Tragen/Heben/Absetzen von 1:3 zugrundegelegt sei. Hierbei seien Erschwernisse durch Öl, Fett und Entnahme aus Gitterboxpaletten nicht berücksichtigt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 07.08.1996 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 26.09.1994 und 03.07.1995 zu verurteilen dem Kläger ab 20.01.1994 wegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur BKVO Verletztenrente nach einer MdE von 20 % zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und beruft sich auf weitere Stellungnahmen ihres Technischen Aufsichtsdienstes (60, 108 f., 113 f., 115 GA), eine weitere Arbeitgeberauskunft (72 GA) und die Beurteilung von Dr. S ...

Das Gericht hat Beweis durch den Sachverständigen Prof. Dr. B ... erhoben. Für alle Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Der Kläger leidet an einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO mit einer MdE von 20 % (§§ 551 Abs. 1, 580, 581 RVO; anzuwenden gemäß § 212 SGB VII, Artikel 36 UVEG). Der Kläger hat während seiner Beschäftigung bei der T ... G ... AG langjährig schwere Lasten gehoben und getragen. Nach der urkundsbeweislich verwertbaren Auskunft des Arbeitgebers (72 GA) hatte er im Mittel täglich Lager mit einem Gewicht von bis zu 30 kg 130 mal und Lager mit Gewichten von 30 bis 60 kg 36 mal pro Schicht in den Jahren 1977 bis 1993 zu heben, zu tragen und abzusetzen. Insgesamt ergeben sich 24 Arbeitsvorgänge mit Heben, Tragen und Absetzen einer Last von wenigstens 20 kg pro Stunde unter Berücksichtigung der halbstündigen Arbeitspause, mithin ca. alle zweieinhalb Minuten ein solcher Arbeitsvorgang. Dies erfüllt die Voraussetzungen an die in der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO geforderte Exposition. Der Senat folgt der überzeugenden Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. B ... Der Verordnungsgeber hat bewußt die erforderliche Exposition mit unbestimmten Rechtsbegriffen umschrieben, um die Berücksichtigung neuerer medizinischer Erkenntnisse zu ermöglichen (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 31.05.1996, 2 BU 237/95 sowie Senat, Urteil vom 15.10.1996, L 5 U 34/96). Um die unbestimmten Rechtsbegriffe zu konkretisieren, ist auf die medizinischen Erfahrungssätze zurückzugreifen, die den Verordnungsgeber zur Aufnahme der Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten bewogen haben, ggf. ergänzt durch neuere Erkenntnisse. Soweit dem Normanwender (Berufsgenossenschaft oder Gericht) die erforderlichen Kenntnisse nicht aus eigener Sachkunde zur Verfügung stehen, bedarf es der Einschaltung medizinischen Sachverstands. Der Verordnungsgeber ist davon ausgegangen (BR-Drucksache 773/92, S. 7 ff.), daß überdurchschnittliche mechanische Belastungen der Wirbelsäule wie das Heben und Tragen schwerer Lasten und Rumpfbeugehaltungen die inneren Druckverhältnisse der Bandscheiben um ein Mehrfaches erhöhen. Nach Erkenntnissen der Grundlagenforschung führen Druckbelastungen an menschlichen Wirbelsäulenpräparaten, die biomechanisch in einem für das Heben und Tragen von Lasten angenäherten Bereich liegen, zu Deckplatteneinbrüchen der Wirbelkörper sowie zu Einrissen des Bandscheibenringes. Rumpfbeuge- und Verdrehungshaltungen sind als zusätzliche Risikofaktoren für mechanische Schädigungen des Bandscheibengewebes zu bewerten. Biologische Anpassungsreaktionen des Organismus an erhöhte mechanische Belastungen der Wirbelsäule wirken wegen der damit einhergehenden Verminderung der Elastizität der Wirbelkörper eher als ein zusätzlicher Risikofaktor für vorzeitigen Bandscheibenverschleiß. Hinzu kommt, daß eine konstant anhaltende intensive Kompressionsbelastung den Stoffwechsel des Bandscheibengewebes stört und auf diese Weise vorzeitigen Verschleiß fördert. Die Ursache Wirkungsbeziehung zwischen schädigender Einwirkung und band scheibenbedingten Erkrankungen der Lenden- und Halswirbelsäule ist für Berufsgruppen, bei denen außergewöhnlich hohe Belastungen der Wirbelsäule durch Heben und Tragen von Lasten oder durch Arbeit in extremer Rumpfbeugehaltung regelmäßig wieder kehrende Tätigkeitsmerkmale sind, in epidemiologischen Studien wiederholt statistisch gesichert worden. Typische Berufsgruppen sind Lastenträger im Transportgewerbe, Bauberufe wie Maurer, Steinsetzer oder Stahlbetonschlosser, Krankenpflegepersonal sowie Untertagearbeiter in obligaten Zwangshaltungen bei einer die Körpergröße unterschreitenden Arbeitshöhe mit statischen Elementen beim Tragen und Halten von Lasten. Entscheidend ist mithin auch nach der Vorstellung des Verordnungsgebers ein Vergleich mit den typischen Berufsgruppen, für die epidemiologische Studien erstellt worden sind. Hinweise gibt insoweit das Merkblatt für die ärztliche Untersuchung des Bundesministers für Arbeit (vgl. Bundesarbeitsblatt 3/1993, S. 50). Danach sind jedenfalls bei 40jährigen und älteren Versicherten Lastgewichte von 20 kg und mehr als schwer anzusehen, die eng am Körper getragen werden. Die Lastgewichte müssen mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten gehoben oder getragen worden sein, entsprechend den epidemiologischen Studien (z.B. Schwesternhelferinnen zu ca. 12 % der Schicht; Stahlbetonarbeiter ca. 40 mal pro Schicht Gewichte von mehr als 20 kg heben/tragen). Im Rahmen dieser Erkenntnisse bewegt sich auch der Sachverständige Prof. Dr. B ... mit seiner Einschätzung, beim Kläger habe es sich schon um eine außergewöhnliche Belastung der Lendenwirbelsäule (LWS) gehandelt. Im Hinblick auf den zugrunde zu legenden medizinischen Erfahrungssatz spielt die genauere Belastungsdauer je Vorgang (Zahl der Sekunden) entgegen der Ansicht der Beklagten und ihres Technischen Aufsichtsdienstes keine Rolle. Die medizinischen Gründe hierfür hat Prof. Dr. B ... überzeugend dargelegt (Ermüdung der für die Kranwirkung der Wirbelsäule zuständigen langen Rückenstreckmuskulatur und der antagonistisch wirkenden Bauchmuskulatur, so daß eine ununterbrochene Dauerbelastung der LWS durch Heben, Tragen und Absetzen überhaupt nicht möglich ist).

Das langjährige Heben und Tragen schwerer Lasten hat mit Wahrscheinlichkeit die bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule wesentlich verursacht. Auch insoweit folgt der Senat der überzeugenden Beurteilung von Prof. Dr. B ... Dessen medizinischer Beurteilung hat sich auch Dr. S ... in seiner urkundsbeweislich verwertbaren Stellungnahme angeschlossen. Danach bestehen bandscheibenbedingte Schäden an der LWS, da die Degeneration im Bereich der Zwischenwirbelräume stärker als in den Wirbelgelenken ist. Während in den Segmenten bis L 3/4 erst leicht- bis mittelgradige bandscheibenbedingte degenerative Schäden bestehen, finden sich mittel- bis schwergradige im Segment L 5/S 1 und schwergradige im Segment L 4/5. Mit den fortgeschrittenen bandscheibenbedingten Verschleißveränderungen der beiden unteren LWS-Segmente sind sekundär auch inzwischen fortgeschrittene degenerative Veränderungen an den entsprechenden Wirbelgelenken entstanden und eine rechtskonvexe Drehskoliose der LWS, der mit Wahrscheinlichkeit keine anlagebedingte Fehlhaltung zugrundeliegt. Schädigungs- und Belastungsmuster sind mithin kongruent. Der Einschätzung von Dr. L ... und dem Orthopäden B ... kann danach nicht gefolgt werden, die Segmente L 1 bis 3/4 seien hinsichtlich primär bandscheibenbedingter Veränderungen regelhaft und altersentsprechend.

Allein wesentlich hat die Erkrankung zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. Deshalb ist der Kläger seit dem 20.01.1994 mit leichten Tätigkeiten in der Warenleitstelle befaßt. Die Beklagte dürfte selbst nicht ernsthaft in Zweifel ziehen, daß damit der Versicherungsfall (vgl. zum Begriff BSG, Urteil vom 25.08.1994, 2 RU 42/93, SozR 3-2200 § 551 RVO Nr. 6, S. 11 ff., 12 f., m.w.N.) nach dem 31. März 1988 eingetreten ist, wie es Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 BKVO voraussetzt.

Die Berufskrankheit und ihre Folgen - bandscheibenbedingte mittel- bis schwergradige degenerative Veränderungen der LWS mit einem Zustand nach Bandscheibenoperation L 5/S 1, einer weitgehend fixierten rechtskonvexen Drehskoliose, einer deutlichen Verspannung der langen Rückenstreckmuskulatur im LWS-Bereich, einer deutlichen Bewegungseinschränkung der LWS und rechtsseitigen S 1-Wurzelreizsymptomen bedingt eine MdE von 20 v.H. Das entspricht der überzeugenden Beurteilung von Prof. Dr. B ..., der Dr. S ... auch in diesem Punkte nicht widersprochen hat und die in Übereinstimmung mit den allgemeinen Erfahrungswerten steht. Die Beeinträchtigung ist etwa mit einem instabilen Wirbelkörperbruch mit Bandscheibenbeteiligung vergleichbar, der entsprechend bewertet wird (vgl. z.B. Bereiter-Hahn/ Schieke/ Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, S. J019, m.w.N.).

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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