L 17 U 119/98

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 23 U 108/97
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 U 119/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 3/99 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23. Februar 1998 abgeändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Mai 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. August 1997 verurteilt, das Ereignis vom 22. März 1997 als Arbeitsunfall zu entschädigen. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Sturzverletzungen der Klägerin Folge eines Arbeitsunfalls sind.

Die 1957 geborene Klägerin ist als selbständige Betreiberin einer Gaststätte in E ... bei der Beklagten versichert. Die Gaststätte ist im Erdgeschoß eines zweigeschossigen Hauses gelegen, dessen obere Etage die Klägerin mit ihrer Familie bewohnt. Die Geschosse sind durch ein Treppenhaus verbunden, das dem Publikumsverkehr nicht offen steht. Am 22.03.1997 stürzte die Klägerin gegen 15.10 Uhr auf dem Weg von ihrer Wohnung in die Gaststätte auf der Treppe und zog sich Verletzungen des linken Beines zu.

Mit Schreiben vom 02.05.1997 teilte die Klägerin der Beklagten ergänzend zu ihrer Unfallanzeige vom 07.04.1997 mit, sie habe sich in der Wohnung umgezogen und sei sodann zum Bedienen in die Gaststätte hinuntergegangen, wobei sie auf der Treppe umgeknickt sei; Betriebsmaterialien habe sie nicht bei sich geführt. Mit Bescheid vom 12.05.1997 lehnte die Beklagte eine Entschädigung des Unfalls ab, weil die versicherte Tätigkeit erst mit dem Erreichen bzw. Verlassen der wesentlich betrieblich genutzten Räume beginne. Da die Wohnung und das Treppenhaus zum unversicherten privaten Wirkungsbereich zählten, sei zum Zeitpunkt des Unfalls der Betriebs bereich noch nicht erreicht gewesen, so daß Ansprüche nicht bestünden.

Die Klägerin legte am 03.06.1997 Widerspruch ein und machte geltend, sie habe sich nach dem Reinigen der Gaststätte umziehen und duschen wollen, um die Gaststätte sodann zu öffnen. Es sei ungerechtfertigt, sie versicherungsrechtlich schlechter zu behandeln, als denjenigen, der seine Gaststätte außerhalb seines Wohnhauses betreibe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19.08.1997 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte aus, da die Wohnung und das Treppenhaus nicht überwiegend betriebsbedingt genutzt würden, zähle dieser Bereich zum unversicherten privaten Wirkungskreis.

Die Klägerin hat am 10.09.1997 Klage vor dem Sozialgericht - SG - Dortmund erhoben. Sie hat zum einen ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren unter Überreichung der Kopie der Bauzeichnung des Gebäudes, in dem die Gaststätte gelegen ist, sowie von sechs Fotografien des Treppenhauses wiederholt. Zum anderen hat sie angegeben, daß sie in der Wohnung Betriebsmaterialien wie Tischwäsche etc. verwahre und der unfallbringende Weg betrieblich veranlaßt gewesen sei, weil sie sich nach der Reinigung der Gaststätte auf den weiteren Betrieb der Gaststätte habe vorbereiten wollen.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 23.02.1998 abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen das ihr am 19.03.1998 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 17.04.1998 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, der Weg von der Gaststätte in ihre Wohnung bzw. zurück sei ausschließlich betriebsbedingt erforderlich gewesen, weil es offensichtlich sei, daß sie nicht in der gleichen Bekleidung, in der sie die Reinigungsarbeiten in der Gaststätte vorgenommen habe, anschließend die Gäste habe bedienen können. Da sie sich in den Betriebsräumen nicht habe waschen und umkleiden können, habe es sich um das Zurücklegen eines Betriebsweges gehandelt, der unter Versicherungsschutz stehen müsse.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des SG Dortmund vom 23.02.1998 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12.05.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.08.1997 zu verurteilen, ihr wegen des als Arbeitsunfall anzusehenden Ereignisses vom 22.03.1997 Entschädigungsleistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Klägerin im Verhandlungstermin angehört; wegen ihrer Angaben wird auf die Sitzungsniederschrift vom 28.10.1998 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet.

Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, denn der angefochtene Ablehnungsbescheid beschwert die Klägerin i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -, weil sie am 22.03.1997 einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 des durch Art. 1 des Unfallversicherungs - Einordnungsgesetzes - UVEG - vom 07.08.1996 (BGBl. I S. 1254) zum 01.01.1997 in Kraft getretenen Siebten Sozialgesetzbuchs (Gesetzliche Unfallversicherung) - SGB VII - sind Arbeitsunfälle Unfälle vom Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherte Tätigkeiten sind auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII). Daß Versicherungsschutz nach letzterer Bestimmung nicht bestanden hat, hat das SG zu Recht dargelegt. Befinden sich betriebliche und privat genutzte Räume in verschiedenen Stockwerken desselben Hauses, so ist Versicherungsschutz nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ausgeschlossen, weil Wege i.S. dieser Bestimmung erst an der Außenhaustür beginnen können (vgl. Bereiter-Hahn/Schieke/ Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung - Handkommentar -, 5. Aufl., Anm. 7.14.2 zu § 8 SGB VII; Lauterbach/Schwerdtfeger, Unfallversicherung (SGB VII), 4. Aufl., Rdn. 460 zu § 8 SGB VII; Ricke, Kasseler Kommentar, Rdn. 188 zu § 8 SGB VII jeweils m.w.N. zur Rechtspr. des BSG).

Jedoch stand die Klägerin nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII unter Versicherungsschutz, weil sich der Unfall auf einem sog. Betriebsweg, also einem Weg der in unmittelbarem Betriebsinteresse zurück gelegt worden ist (vgl. Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens a.a.O. Anm. 7.14 zu § 8 SGB VII), ereignet hat.

Der Senat sieht dabei folgenden Sachverhalt als erwiesen an: Die Klägerin hatte sich gegen 12.30 Uhr in die Gaststätte begeben, um diese einschließlich der vorhandenen Sanitäreinrichtungen - Toiletten - zu reinigen. Diese Arbeiten dauerten bis ca. 13.45 Uhr/14.00 Uhr. Anschließend war sie in ihre Wohnung zurück gekehrt, um sich zu duschen und für die späteren Arbeiten in der Gaststätte umzukleiden. Gegen 15.10 Uhr begab sie sich zur weiteren Arbeit wieder in die Gaststätte hinab, wobei sie auf der Treppe zu Fall kam. Die Feststellungen beruhen im wesentlichen auf den glaubhaften Angaben der Klägerin, wie sie sie auch schon zeitnah nach dem Unfallereignis gegenüber der Beklagten gemacht hat und die auch von letzterer wie auch dem SG nicht in Zweifel gezogen worden sind.

Soweit das SG hierzu ausgeführt hat, daß Wege zwischen privaten Wohnräumen und Betriebsstätten, die in einem Hause gelegen sind, grundsätzlich dem unversicherten Lebensbereich zuzurechnen sind, sofern die Verbindungswege - Treppen - nicht auch wesentlich betrieblichen Zwecken dienen, ist dies zutreffend (BSGE 11, 267, 270; 12, 165, 167; BSG NJW 1993, 2070; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung - Gesetzliche Unfallversicherung -, 12. Aufl., Rdn. 183 zu § 8 SGB VII; Lauterbach/Schwerdtfeger a.a.O. Rdn. 461 zu § 8 SGB VII). Auch gehört das Anlegen bzw. der Wechsel der Kleidung in der Regel zum unversicherten Wirkungskreis (BSGE 18, 143, 147; SozR Nr. 39 zu § 542 RVO a.F.; BSG Breithaupt 1957, 902, 903; Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII, Rdn. 64 zu § 2).

Eine Ausnahme hiervon gilt jedoch dann, wenn der Weg zwischen häuslichem und betrieblichem Bereich infolge der bereits aufgenommenen versicherten Tätigkeit erforderlich geworden ist, etwa, wenn - wie hier - infolge der zuvor ausgeübten versicherten Tätigkeit die Körperreinigung und der Wechsel der Kleidung erforderlich geworden ist, um die versicherte Tätigkeit weiter fortsetzen zu können (BSG SozR Nr. 54 zu § 542 RVO a.F. = Breithaupt 1963, 24; BSG, Urteil vom 08.07.1980 - 2 RU 25/80 -; Kater/Leube a.a.O.; Lauterbach/Schwerdtfeger a.a.O. Rdn. 461 zu § 8 SGB VII; wohl zu weitgehend Bayer. LSG Breithaupt 1955, 584). Hieran ist auch nach der jüngeren Rechtsprechung des BSG festzuhalten, wonach der Versicherungsschutz voraussetzt, daß ein innerer Zusammenhang zwischen der unfallbringenden Handlung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit besteht, der es rechtfertigt, das entsprechende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen, wobei es einer Wertentscheidung bedarf und wobei Überlegungen nach dem Zweck des Handelns des Versicherten im Vordergrund stehen (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 97; SozR 3-2200 § 548 Nrn. 19, 27, 30 m.w.N.).

Der Wechsel von den betrieblichen Räumen in den Wohnraum beruhte hier maßgeblich auf dem Willen der Klägerin, sich gründlich zu reinigen und die Kleidung für ihre spätere Tätigkeit in der Gaststätte zu wechseln. Diese Handlungen und der damit verbundene Wechsel in den privaten Bereich waren aber objektiv erforderlich, da es offensichtlich ist, daß die Klägerin nach den Putzarbeiten in der Gaststätte ihre Arbeit, die vornehmlich im Bedienen der Gäste besteht, nicht ohne eine entsprechende Herrichtung ihrer Person, die mangels entsprechender Einrichtungen in der Gaststätte selbst nicht vorgenommen werden konnte, aufnehmen konnte.

Dieser betriebliche Zusammenhang wird auch nicht dadurch gelöst, daß der Aufenthalt in der Wohnung durch die Vornahme von nicht betriebsbezogenen Handlungen - Kaffee trinken und Zigaretten rauchen - verlängert worden ist. Angesichts der Gesamtzeit zwischen Beendigung der Reinigungsarbeiten und Wiederaufnahme der Tätigkeit in der Gaststätte von ca. 1 1/4 Stunden kommt letzteren Handlungen keine so wesentliche Bedeutung angesichts ihrer zeitlichen Dauer von weit unter einer Stunde zu, um den betrieblichen Zusammenhang zwischen dem Aufsuchen der Wohnung und der zuvor ausgeübten versicherten Tätigkeit zu lösen. Der Wechsel in den privaten Bereich hat sein wesentliches Gepräge durch die zuvor verrichtete Tätigkeit erhalten und ist durchgehend hiervon bestimmt worden, denn die daneben ausgeführten Handlungen sind von so offensichtlich untergeordneter Bedeutung, daß sie weder nach Art noch nach zeitlicher Dauer als wesentlich für die Handlungstendenz der Klägerin angesehen werden können.

Im Hinblick auf die bei dem Unfall erlittenen Verletzungen kommen Entschädigungsansprüche der Klägerin gegen die Beklagte weiterhin in Betracht, so daß diese dem Grunde nach (§ 130 SGG) zu Leistungen zu verpflichten war.

Auf die Berufung der Klägerin mußte das Urteil des SG daher mit der auf § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung geändert und der Klage stattgegeben werden.

Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfrage die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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