L 17 U 202/98

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 15 (1) U 59/93
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 U 202/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 03. Juli 1998 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist, ob bei der Klägerin eine Polyneuropathie vorliegt und als Berufskrankheit (BK) oder wie eine solche zu entschädigen ist.

Die 1949 geborene Klägerin ist seit 1968 als Büroangestellte bei den Stadtwerken R ... beschäftigt. 1982/83 wurden bei Umbauarbeiten zusätzliche Büroräume in Leichtbauweise geschaffen. Die Räumlichkeiten wurden mit verklebtem Teppichboden versehen, die Innenwände aus Steinwoll-Dämm-Material mit beiderseitigen Gipskartonplatten erstellt. Im Mai 1985 erkrankte die Klägerin an einer Schwäche der Beine. Sie wurde von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S ... behandelt, der sie wegen des Verdachtes auf eine Nervenerkrankung in die Neurologische Universitätsklinik in M ... einwies. Dort wurde sie vom 17.05. bis 30.07.1985 stationär behandelt. Im Entlassungsbericht vom 07.08.1985 führte der Klinikdirektor, Prof. Dr. B ..., aus, es sei bei der Klägerin im Anschluß an einen grippalen Infekt 1985 zu einer chronischen Verlaufsform einer Polyradikulitis mit einer proximal betonten Kraftminderung in allen Extremitäten gekommen. In der Zeit vom 08.08. bis 03.10.1985 wurde eine Anschlußheilbehandlung in der M ...-Klinik B ... D ... durchgeführt. Im Entlassungsbericht vom 02.11.1985 diagnostizierte Prof. Dr. B ... ebenfalls eine Polyradikulitis mit chronischer Verlaufsform. Zum 01.12.1987 nahm die Klägerin, die inzwischen als Schwerbehinderte bei einem Grad der Behinderung (GdB) um 70 v.H. anerkannt ist, ihre frühere Berufstätigkeit wieder vollschichtig auf. Anfang 1988 wurden in den Büroräumen Luft- und Bodenproben durch das Hygieneinstitut des Ruhrgebietes in G ... genommen, bei denen ein erhöhter Richtwert in bezug auf Formaldehyd festgestellt wurde (Berichte von Prof. Dr. A ... vom 22.04.1988 und Priv.-Doz. Dr. E ... vom 12.09.1988). Im März/April 1988 wurden u.a. der Teppichboden gewechselt und Wände und Decken versiegelt.

Im Februar 1992 zeigte die Arbeitgeberin der Klägerin den Verdacht auf eine Berufserkrankung unter Vorlage der Berichte des Hygieneinstituts an. Sie machte geltend, die neurologische Erkrankung der Klägerin sei wahrscheinlich auf die Raumlufteinwirkungen in den seit 1983 von der Klägerin genutzten Büroräumen zurückzuführen. Die Beklagte zog im Rahmen ihrer Ermittlungen das Erkrankungsverzeichnis der Klägerin bei und holte von Dr. S ... einen Behandlungs- und Befundbericht vom 08.04.1992 ein, dem die Entlassungsberichte von Prof. Dr. B ... vom 07.08.1985 und von Prof.Dr.B ... vom 02.11.1985 beigefügt waren. Nachdem für den Staatlichen Gewerbearzt in B ... der Arbeitsmediziner und Diplom-Chemiker Dr. P ... am 17.07.1992 dahingehend Stellung genommen hatte, daß bei der Klägerin eine chronische Verlaufsform einer Polyradikulitis nach grippalem Infekt vorgelegen habe und auch die Untersuchungen durch das Hygieneinstitut im Arbeitsbereich der Klägerin keinerlei Überschreitungen von Grenzwerten ergeben hätten, diese vielmehr um das Mehrfache unterschritten seien, weshalb die arbeitstechnischen Voraussetzungen zur Entstehung einer BK nicht vorgelegen hätten, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27.07.1992 die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab, weil bei der Klägerin eine BK nicht vorliege und die Erkrankung auch nicht nach § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) wie eine solche entschädigt werden könne.

Die Klägerin legte am 10.08.1992 Widerspruch ein. Sie machte geltend, die Untersuchungen durch das Hygieneinstitut hätten ergeben, daß der vom Bundesgesundheitsamt für Innenluft noch als vertretbar angesehene Richtwert von 0,1 ppm in bezug auf Formaldehyd deutlich überschritten worden sei. Auch müsse davon ausgegangen werden, daß bei der Verlegung der Teppichböden Kleber mit Lösemittel benutzt worden seien, die gesundheitsschädigende Wirkungen gezeigt hätten. Deshalb seien die Teppichböden 1988 auch neu verlegt worden. Es sei durch das Hygieneinstitut auch die Empfehlung ausgesprochen worden, die Büroräume regelmäßig zu lüften.

Die Beklagte holte dazu eine weitere Stellungnahme von Dr. P ... ein. Dieser führte am 28.10.1992 aus, entscheidend sei, daß die für das BK-Recht maßgebenden maximalen Arbeitsplatzkonzentrations(MAK)-Werte zu keiner Zeit überschritten worden seien. Dieser liege in bezug auf Formaldehyd bei 0,5 ppm, und die Messungen im Büro der Klägerin bzw. dem ihres Vorgesetzten hätten Werte von 0,13 bzw. 0,17 ppm ergeben. Auch hinsichtlich der Chlorkohlenwasserstoffkonzentration sowie der Untersuchungen auf flüchtige organische Verbindungen hätten die Untersuchung durch das Hygieneinstitut ergeben, daß die MAK-Werte um Potenzen unterschritten gewesen seien. Dies gelte auch in bezug auf die vom Bundesgesundheitsamt für Innenluft angenommenen Richtwerte, die ein Zwanzigstel des MAK-Wertes betrügen. Auch sie seien - bis auf Formaldehyd - immer unterschritten gewesen. Damit stehe fest, daß die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Entstehung einer BK bei der Klägerin nicht vorgelegen hätten. Im übrigen fehle es aber auch an der haftungsausfüllenden Kausalität, da eine Polyradikulitis als Folge einer Einwirkung von Formaldehyd arbeitsmedizinisch in keiner Weise gesichert sei. Folge von Formaldehydeinwirkungen am Arbeitsplatz seien vielmehr nicht neuronale Störungen, sondern Reizungen der Schleimhäute, Atemwege sowie die Auslösung von Allergien. In bezug auf Lösemittel könnten zwar neurologische Symptome und pränarkotische Zustände wie Schwindel, Konzentrationsschwäche, Trunkenheitsgefühl in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Exposition auftreten, jedoch seien diese Symptome reversibel. Nur bei erheblicher und längerer Exposition könnten bleibende Schäden i.S. eines hirnorganischen Psychosyndroms zurückbleiben. Periphere neuronale Schäden i.S.v. Störungen der Nervenleitgeschwindigkeit etc. könnten i.V.m. Störungen des zentralen Nervensystems auftreten. Auch insoweit sei nach arbeitsmedizinischer Erkenntnis eine erhebliche Exposition mit wiederholten pränarkotischen Zuständen über einen Zeitraum von mehreren Jahren erforderlich. Die Symptome einer Polyradikulitis seien für eine solche Lösemittelintoxikation nicht typisch. Daraus folge, daß es auch an der haftungsausfüllenden Kausalität mangele. Die Beklagte wies daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 14.07.1993 den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 12.08.1992 vor dem Sozialgericht (SG) Münster Klage erhoben. Sie hat die Ansicht vertreten, die Beklagte verneine zu Unrecht den ursächlichen Zusammenhang ihrer Erkrankung mit den Einwirkungen durch Formaldehyd sowie Lösungsmittel aus den Teppichbodenklebern an ihrem Arbeitsplatz. Nicht nur sie, sondern auch ihr Vorgesetzter, der Geschäftsführer der Stadtwerke R ..., Herr D ..., sei nach dem Umbau der Büroräume erkrankt. Bei ihm hätten sich erhöhte Leberwerte gezeigt, die nach den Renovierungsmaßnahmen 1988 zurückgegangen seien. Sie selbst sei im Februar 1987 erneut an denselben Symptomen wie früher erkrankt, die sich dann aber wieder zurückgebildet hätten.

Das SG hat nach Beiziehung von Behandlungs- und Befundberichten des Internisten Dr. W ... (08.09.1993) und des Dr. S ... (05.11.1993) weiteren Beweis erhoben durch die Einholung medizinischer Sachverständigengutachten. Dr. R ..., Arzt für Neurologie und Psychiatrie in G ..., hat in dem nach § 109 SGG erstatteten Gutachten vom 07.01.1996 ausgeführt, bei der Klägerin habe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine schadstoffinduzierte Polyneuropathie mit motorischen und sensiblen Ausfallerscheinungen sowie ein leichtes hirnorganisches Psychosyndrom vorgelegen. Die dadurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei - wie auch im Schwerbehindertenrecht - mit 70 v.H. seit Mai 1985 zu bewerten.

Die Beklagte hat dazu eine Stellungnahme von Dr. P ..., nunmehr Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin in C ...- R ..., vom 16.04.1996 übersandt. Darin hat dieser dargelegt, die Ausführungen von Dr. R ... zur Zusammenhangsbeurteilung stellten eine Außenseitermeinung dar, die gesicherter medizinischer Erkenntnis nicht entspräche.

Das SG hat daraufhin von Amts wegen ein weiteres Gutachten von Dr. T ..., Chefarzt der Neurologisch-Psychiatrischen Abteilung des Evangelischen Krankenhauses in C ...-R ..., eingeholt. Der Sachverständige ist darin am 17.08.1996 zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin sei 1985 an einer Polyneuroradikulitis in Form eines Guillain-Barré-Syndroms mit typischer Symptomatik und Verlaufsform erkrankt. Ein ursächlicher Zusammenhang mit Einwirkungen von Halogenkohlenwasserstoffen oder Formaldehyd am Arbeitsplatz der Klägerin müsse als rein spekulativ angesehen werden. Eine BK i.S.d. Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) liege nicht vor. Zu den Einwänden der Klägerin gegen sein Gutachten hat Dr. T ... am 29.09.1997 ergänzend Stellung genommen.

Mit Urteil vom 03.07.1998 hat das SG die Klage abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen das ihr am 29.07.1998 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 17.08.1998 Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, die Polyneuroradikulitis sei - entgegen Dr. T ... - keine eigenständige und von einer Polyneuropathie abzugrenzende Erkrankung. Auch gehe der behandelnde Nervenarzt Dr. S ... davon aus, daß sie 1985 an einer Polyneuropathie erkrankt gewesen sei. Dazu hat sie eine Stellungnahme dieses Arztes vom 15.10.1998 vorgelegt. Schließlich - so führt die Klägerin aus - spreche auch nicht gegen die Annahme einer schadstoffinduzierten Polyneuropathie, daß es während des stationären Aufenthaltes in der M ...-Klinik zu einer Verschlechterung der Beschwerden gekommen sei. Es könne nämlich nicht ausgeschlossen werden, daß die toxisch wirkenden Stoffe in Lösemitteln auch in dieser Klinik vorhanden gewesen seien.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 03.07.1998 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.07.1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14.07.1993 zu verurteilen, ihr Verletztenrente wegen einer als BK oder wie eine BK zu entschädigende Erkrankung Polyneuropathie zu gewähren, hilfsweise ein weiteres medizinisches Gutachten von Amts wegen einzuholen.

Die Beklagte, die dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen. Die Verwaltungsakten der Beklagten lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen, denn die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, denn die bei ihr 1985 diagnostizierte Erkrankung stellt weder eine BK dar noch kann sie wie eine solche entschädigt werden.

Der Anspruch der Klägerin richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, da sie Leistungen für die Zeit vor Inkrafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) zum 01.01.1997 begehrt (vgl. Art. 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz [UVEG], § 212 SGB VII).

Nach § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO gilt als Arbeitsunfall, der nach §§ 547, 580, 581 u.a. durch die Zahlung von Verletztenrente zu entschädigen ist, auch eine BK. BK en sind nach § 551 Abs. 1 Satz 2 RVO Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats bezeichnet hat und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Die Feststellung einer BK setzt grundsätzlich voraus (vgl. zum folgenden: Bereiter-Hahn/ Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung - Handkommentar - Stand 6/96 § 551 RVO Rdn. 3), daß zum einen in der Person des Versicherten die sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt sind, d.h., daß der Betreffende im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit schädigenden Einwirkungen i.S.d. BK ausgesetzt gewesen ist, die geeignet sind, einen entsprechenden Gesundheitsschaden zu bewirken (haftungsbegründende Kausalität). Zum anderen muß ein Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung bestehen (haftungsausfüllende Kausalität). Während die arbeitstechnischen Voraussetzungen und der Gesundheitsschaden voll bewiesen sein müssen, reicht zur Bejahung des Kausalzusammenhangs zwischen der schädigenden Einwirkung und dem Gesundheitsschaden die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38; § 551 Nr. 1).

Der Senat ist mit dem SG davon überzeugt, daß die 1985 bei der Klägerin aufgetretene neurologische Erkrankung sich nicht ursächlich auf ihre berufliche Tätigkeit zurückführen läßt und weder eine Listenerkrankung i.S.d. BK vorliegt noch die Entschädigungsvoraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO gegeben sind. In medizinischer Hinsicht folgt der Senat den gewerbeärztlichen Darlegungen von Dr. P ... sowie den Ausführungen des nervenärztlichen Sachverständigen (SV) Dr. T ... Dagegen ist dem Gut achten des Dr. R ... kein Beweiswert beizumessen.

Eine BK nach Nr. 1302 der Anlage zur BKV liegt bei der Klägerin nicht vor. Diese BK erfaßt Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe, wie sie in Lösemitteln in der Farb-, Kunststoff- und Gummi-Industrie, insbesondere als Ausgangsprodukt für Polymere und als Lösemittel für Klebstoffe enthalten sind (vgl. dazu das zu dieser BK vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung heraus gegebene Merkblatt für die ärztliche Untersuchung, abgedruckt in Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheiten-Verordnung - Kommentar -, M 1302 Abschnitt I 1.1). Zu ihnen gehört Trichlorethan, Tetrachlorethan und 1.1.1-Trichlorethan (Mehrtens/Perlebach a.a.O.), die auch durch das Hygieneinstitut in den Büroräumen der Arbeitgeberin der Klägerin nachgewiesen worden sind. Dagegen gehört Formaldehyd nicht zu den von der BK Nr. 1302 erfaßten Listenstoffen (vgl. LSG Baden-Württemberg, HV-Info 27/1989, 2145; Mehrtens/Perlebach, a.a.O. Anm. 2 zu M 1302). Typische Anzeichen einer akuten oder subakuten Vergiftung mit Halogenkohlenwasserstoffen sind Symptome von Seiten des zentralen Nervensystems (Encephalopathie) wie Benommenheit, Kopfschmerz, Schwindel, Somnolenz sowie psychische Alterationen (vgl. dazu Abschnitt III des oben angeführten Merkblatts a.a.O. sowie Schönberger/ Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 5. Aufl. S. 287 ff. sowie 1161).

Abgesehen davon, daß derartige Symptome bei der Klägerin nie beschrieben worden sind, scheidet die Annahme einer solchen Erkrankung auch deshalb aus, weil es schon am Nachweis der haftungsbegründenden Kausalität mangelt, wie Dr. P ... in seinen gewerbeärztlichen Stellungnahmen vom 17.07. und 28.10.1992 einleuchtend dargelegt hat. Die seinerzeit durchgeführten Messungen des Hygieneinstituts haben ergeben, daß die für das BK-Recht maß gebenden MAK-Werte in Potenzen unterschritten worden sind und auch die vom Hygieneinstitut zugrundegelegten deutlich niedriger festgesetzten Richtwerte des Bundesgesundheitsamtes für Innenluft bei weitem nicht erreicht worden sind.

Daß es sich bei der Erkrankung der Klägerin nicht um eine Encephalopathie und auch nicht um eine Polyneuropathie i.S.d. BK 1302 gehandelt hat, haben Dr. P ... und insbesondere der vom SG gehörte nervenärztliche SV Dr. T ... im Hinblick auf die seinerzeit in der Universitätsnervenklinik M ... erhobenen Befunde überzeugend dargetan. Danach kann kein ernsthafter Zweifel bestehen, daß bei der Klägerin 1985 im Anschluß an einen viralen Infekt eine Polyradikulitis oder Polyneuroradikulitis vom Typ Guillain Barré abgelaufen ist. Es handelt sich dabei um eine Erkrankung, die wahrscheinlich auf einer Autoimmunreaktion gegen peripheres Nervengewebe beruht. Die Symptomatik besteht in der Regel in symmetrischen Lähmungen, wobei die Beine schwerer betroffen sind als die Arme, die Lähmungen sind proximal stärker als distal ausgeprägt und ergreifen nicht selten auch die Muskeln des Rumpfes mit der Gefahr einer Atemlähmung. Im Liquor findet man in der Regel bei normaler Zellzahl eine mittlere bis starke Eiweißvermehrung, die sich oft erst in der zweiten bis vierten Krankheitswoche entwickelt. Elektroneurographisch findet man bei fast allen Patienten eine Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit. Vergleicht man diese vom SV in seinem Gutachten wiedergegebene Beschreibung der Polyneuroradikulitis vom Typ Guillain Barré in einem neurologischen Standardwerk mit den Befunden, die seinerzeit während der stationären Behandlung in der Universitätsnervenklinik M ... erhoben worden sind und die der SV in seinem Gutachten referiert hat, dann kann in der Tat von einer schadstoffinduzierten Polyneuropathie nicht die Rede sein. Vielmehr handelt es sich um eine eigenständige Erkrankung, die - wenn auch in ihrer Ätiologie noch nicht vollständig geklärt - wahrscheinlich Folge von Vireninfektionen ist oder durch Bakterien hervorgerufen wird bzw. auf einer Störung des Immunsystems beruht (vgl. auch Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 257. Aufl. 1994 Stichwort: Guillain-Barré-Syndrom). Soweit die Klägerin geltend gemacht hat, gegen diese Diagnose spreche, daß die Lähmungserscheinungen, nachdem sie sich zurückgebildet hätten, während des anschließenden Heilverfahrens in der M ...-Klinik erneut hervorgetreten seien und es 1987 noch einmal zum Auftreten von Muskelschwächen gekommen sei, ist diese Schlußfolgerung von Dr. T ... nicht geteilt worden. Bei dem chronischen Guillain- Barré-Syndrom wird ein langsamer, zum Teil remittierender und rezidivierender Verlauf durchaus beschrieben (Pschyrembel a.a.O.). Auch Prof. Dr. B ... ist von einer solchen Erkrankung ausgegangen.

Daß diese Polyradikulitis oder Polyneuroradikulitis bzw. Polyradikoloneuritis von einer Polyneuropathie unterschieden wer den muß, die Folge von Schadstoffeinwirkungen am Arbeitsplatz sein kann, haben Dr. P ... und Dr. T ... nachdrücklich hervorgehoben. Wenn der nach § 109 SGG gehörte SV Dr. R ... dies nicht tut, sondern - ohne eigene eingehende neurologische Befunderhebung - die Diagnosestellung der Universität M ... anzweifelt und das Vorliegen einer toxisch bedingten Polyneuropathie behauptet, dann ist diese Beurteilung nur dann nachvollziehbar, wenn man sich der herkömmlichen medizinischen Begrifflichkeiten nicht mehr bedient und - wie dies bei Dr. R ... offensichtlich der Fall ist - seine Beurteilung nicht auf wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse, sondern auf subjektive Annahmen und Mutmaßungen stützt. Daß es für die von ihm angeblich diagnostizierten 25000 Polyneuropathie-Fälle (!!) keine verwertbaren Vergleichsstudien gibt, räumt Dr. R ..., der die geltende Gefahreinschätzung durch die MAK-Werte als unzulänglich ansieht, selbst ein. Er gesteht auch ein, daß seine Beurteilung nicht der wissenschaftlichen Lehrmeinung entspricht. Sein Gutachten ist - wie aus dem des Dr. T ... und insbesondere aus der von der Beklagten vorgelegten Stellungnahme des Dr. P ... folgt - zum Nachweis der beruflichen Verursachung der Erkrankung der Klägerin ungeeignet, weil es in Form und Inhalt nicht den Anforderungen entspricht, die an ein wissenschaftlich begründetes SV-Gutachten zu stellen sind.

Daß die Polyneuropathie ein anderes Krankheitsbild meint als dasjenige, das 1985 bei der Klägerin vorgelegen hat, wird deutlich, wenn man die arbeitsmedizinischen Erkenntnisse berücksichtigt, die zu der (neuen) BK Nr. 1317 (Polyneuropathie oder Encephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische) geführt haben. Diese BK, die durch die Neufassung der BKV vom 31.10.1997 (BGBl. I S. 2623) in die Liste der BK en aufgenommen worden ist, kommt - unabhängig davon, daß insoweit auch hier schon die haftungsbegründende Kausalität nicht nachgewiesen ist -, deshalb nicht als Anspruchsgrundlage in Betracht, weil nach der Rückwirkungsvorschrift in § 6 Abs. 1 BKV eine Anerkennung mit der Möglichkeit einer Entschädigung nur dann in Frage kommt, wenn der Versicherungsfall nach dem 31.12.1992 - vorletzte Neufassung durch die 2. Änderung der BKVO vom 18.12.1992, in Kraft getreten am 01.01.1993 -, eingetreten ist, was vorliegend indes nicht der Fall ist. Die durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische verursachte Polyneuropathie wird nach Abschnitt III des zur BK 1317 vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Merkblatts für die ärztliche Untersuchung (abgedruckt in Mehrtens/ Perlebach, a.a.O. M 1317 S. 1 ff.) dahingehend beschrieben, daß typisch für eine neurotoxische Polyneuropathie symmetrisch- distale, beinbetonte, sensomotorische Ausfälle mit strumpf- bzw. handschuhförmiger Verteilung sind. Im weiteren Verlauf werden Reflexabschwächungen oder Areflexie, Störungen der autonomen Nervenversorgung, Verminderung der sensiblen und motorischen Nervenleitgeschwindigkeiten und distalen Latenzen sowie neurogene Schädigungsmuster im EMG nachgewiesen. Nach der herrschenden arbeitsmedizinischen Erkenntnis - diese findet in dem vorgenannten Merkblatt ihren Niederschlag - entwickeln sich Polyneuropathien in zeitlichem Zusammenhang mit Lösemittelexpositionen in der Regel mit einer Latenz von wenigen Tagen. Latenzzeiten von mehr als zwei Monaten sprechen gegen einen ursächlichen Zusammenhang, leichte Fälle heilen innerhalb von wenigen Monaten vollständig aus.

Bei der Klägerin war indes das Krankheitsbild durch Lähmungen der unteren und oberen Extremitäten und nicht durch Sensibilitätsstörungen geprägt. Auch daraus folgt, daß die (unzulässige) Gleichsetzung der bei der Klägerin diagnostizierten chronischen Verlaufsform einer Polyradikulitis mit einer Polyneuropathie durch Dr. R ... erkennbar deshalb erfolgt ist, weil sich nach dem Konzept dieses SV so ihre berufliche Verursachung einfacher begründen läßt.

Die Erkrankung der Klägerin kann schließlich auch nicht nach Maßgabe des § 551 Abs. 2 RVO entschädigt werden. Soweit die Verursachung der Erkrankung durch Formaldehyd in Rede steht, ist - worauf schon Dr. P ... hingewiesen hatte - Formaldehyd kein Listenstoff i.S.d. BKV; er unterfällt - wie dargelegt - nicht der BK Nr. 1302. Formaldehyd, das in erster Linie für die Herstellung von Kunstharzen und Kunststoffen verwendet wird, kann zu akuten Reizerscheinungen der Schleimhäute mit ihrer Schädigung und der des Gastrointestinaltraktes führen; es kann bei Einwirkungen auf die Haut auch zu allergischen Kontaktdermatitiden führen (vgl. dazu Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O. S. 923, 924). Wenn Formaldehyd damit auch als Schadstoff für die Auslösung einer Atemwegserkrankung i.S.d. Nr. 4302 bzw. einer Hauterkrankung (BK 5101) in Betracht kommt, gibt es - wie Dr. P ... und Dr. T ... aufgezeigt haben - keine gesicherten medizinischen Erkenntnisse dahingehend, daß Formaldehydeinwirkungen auch zu Lähmungen, wie sie bei der Klägerin vorgelegen haben, führen können. Deshalb sind, wie das SG unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung des BSG zutreffend dargelegt hat und worauf der Senat - um Wiederholungen zu vermeiden - Bezug nimmt, auch die engen Voraussetzungen einer Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO hier eindeutig nicht erfüllt.

Weitere Ermittlungen zur haftungsbegründenden und haftungsausfüllenden Kausalität sind nicht erforderlich. Der von der Klägerin angeregten Vernehmung ihres Vorgesetzten, des Geschäftsführers D ..., bedurfte es nicht. Der Senat geht - wie dies auch Dr. P ... und Dr. T ... getan haben - von der Richtigkeit der Angaben des Arbeitgebers der Klägerin zu den Baumaßnahmen im Jahre 1988 aus. Soweit die Klägerin vorträgt, auch Herr D ... sei 1985 nach dem Bezug der neuen Büroräume erkrankt, hat es sich um völlig andere Symptome (erhöhte Leberwerte) gehandelt, so daß daraus keinerlei Rückschlüsse auf die Ursache der neurologischen Erkrankung der Klägerin gezogen werden können, wie Dr. T ... dargelegt hat. Aufgrund der Ausführungen dieses SV sowie des Dr. P ... ist eine hinreichend sichere Beurteilungsgrundlage sowohl aus arbeitsmedizinischer wie auch aus neurologisch- psychiatrischer Sicht gegeben. Der Einholung weiterer Gutachten bedurfte es deshalb nicht. Dazu bestand auch im Hinblick auf die von der Klägerin im Berufungsverfahren vorgelegte Stellungnahme des Dr. S ... vom 15.10.1998 kein Anlaß, der nunmehr ohne nähere Begründung und ohne Mitteilung entsprechender Befunde von einer bei der Klägerin behandelten Polyneuropathie spricht, noch in seinem für das SG erstatteten Befundbericht vom 05.11.1993 hingegen eine Polyradikulitis, die - wie oben dargelegt - ein anderes Krankheitsbild aufweist, als Diagnose mitgeteilt hatte.

Die Berufung mußte daher mit der Kostenfolge des § 193 SGG erfolglos bleiben.

Zur Revisionszulassung bestand kein Anlaß.
Rechtskraft
Aus
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