L 17 U 169/98

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 23 U 49/97
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 U 169/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 19. Mai 1998 abgeändert und die Klage vollständig abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darum, ob die Fingerschädigung des Klägers Folge eines Arbeitsunfalls ist.

Der 1937 geborene Kläger, der als Arbeiter bei der V.W. Werke V ... W ... GmbH & Co.KG in H ... beschäftigt ist, zog sich am 23.10.1995 einen Bruch des Grundgliedes des 5. Fingers der linken Hand beim Führen eines an einem Kran hängenden Rohrbundes, welches sich verdrehte, zu. Der Durchgangsarzt Dr. L ..., Chirurg/Unfallchirurg in U ..., diagnostizierte unter dem 23.10.1995 eine Grundgliedbruchschädigung des 5. linken Fingers bei Knochencyste und verneinte einen Arbeitsunfall, weil eine Gelegenheitsursache vorgelegen habe. Am 31.10.1995 erfolgte durch den Leiter des Fachbereichs Handchirurgie/Plastische Chirurgie des K ...- Hospitals U ..., Dr. W ..., eine operative Versorgung durch Ausräumung des bestehenden Enchondroms (Knorpelgewebegeschwulst innerhalb des Knochens) an der Basis des Kleinfingergrundgliedes, Spongiosaplastik und Osteosynthese mittels Drahtnaht. Dessen Vertreter, Dr. K ..., bescheinigte der Beklagten unter dem 27.10.1995, daß es sich um eine pathologische Fraktur gehandelt habe, weil die bisher unentdeckte Knochencyste zur Minderung der Knochenstabilität geführt habe. Unter dem 14.03.1996 bestätigte Dr. W ..., daß bei einem gesunden Kleinfingergrundglied das angeschuldigte Unfallereignis mit größter Wahrscheinlichkeit keine Fraktur herbeigeführt hätte und das Enchondrom als wesentliche Ursache für die Fraktur anzusehen sei.

Auf Anfrage der Beklagten teilte die Arbeitgeberin des Klägers mit, Zeugen hätten den Unfall nicht beobachtet. Nach den Angaben des Klägers sei das im Kran hängende Rohrbund, das der Kläger mit der linken Hand geführt habe, gegen einen Rohrstapel gestoßen und habe sich im Kranhaken gedreht. Bei dieser Drehbewegung sei der linke Kleinfinger des Klägers, der möglicherweise in einem Rohr oder Rohrzwischenraum gesteckt habe, verdreht worden. Der Beratungsarzt der Beklagten, Dr. K ..., Direktor der Unfall- und Chirurgischen Klinik D ... i.R., vertrat daraufhin am 30.10.1996 die Auffassung, es bestehe zwar nach den vorliegenden Röntgenaufnahmen eine ausgedehnte Cyste, die Fraktur habe aber auch gesunde Knochenanteile betroffen, so daß eine größere Gewalteinwirkung zu vermuten sei. Es müsse daher eine richtunggebende Verschlimmerung der Vorschädigung durch das Unfallereignis angenommen werden. Die Beklagte holte hierzu eine weitere Auskunft von Dr. W ... ein, der unter dem 29.11.1996 dabei verblieb, daß es durch das Enchondrom zu einer erheblichen Ausdünnung der Kortikalis (Knochengewebestubstanz) gekommen sei, so daß eine Gelegenheitsursache wie z.B. das Drücken einer Türklinke oder Heben eines Einkaufskorbes als auslösender Faktor für die Fraktur ausgereicht hätte.

Mit Bescheid vom 20.01.1997 lehnte die Beklagte daraufhin die Gewährung von Leistungen aus Anlaß des Ereignisses vom 23.10.1995 ab, weil der Bruch des linken Kleinfingergrundgliedes diesem nicht anzulasten sei.

Der Kläger legte am 13.02.1997 Widerspruch ein und machte geltend, er sei in dem Zustand geschützt, in dem er seine versicherte Tätigkeit verrichte, so daß seine Krankheitsanlage den Versicherungsschutz nicht beseitige. Im übrigen sei das Unfallgeschehen auch durchaus geeignet gewesen, eine entsprechende Fraktur herbei zuführen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.03.1997 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Der Kläger hat am 03.04.1997 vor dem Sozialgericht - SG - Dortmund Klage erhoben unter Bezugnahme auf sein Vorbringen im Widerspruchsverfahren.

Das SG hat ein Gutachten von Prof. Dr. T ..., Chefarzt der Abteilung für Unfallchirurgie, Handchirurgie und Plastischen Wiederherstellungschirurgie des M ... Krankenhauses St. J ..., B ...-H ..., eingeholt. Dieser ist unter dem 09.12.1997 zu dem Ergebnis gelangt, das Ereignis vom 23.10.1995 sei lediglich als Gelegenheitsursache für den Eintritt einer pathologischen Fraktur am linken Kleinfingergrundglied anzusehen. Die aus dem Schaden resultierende Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE - betrage 10 v.H ...

Mit Urteil vom 19.05.1998 hat das SG die Beklagte verurteilt, die Fraktur des linken Kleinfingergrundgliedes des Klägers als Folge des Arbeitsunfalls vom 23.10.1995 anzuerkennen und infolgedessen medizinische Rehabilitationsleistungen sowie Verletztengeld zu gewähren; im übrigen hat es die Klage auf Gewährung von Verletztenrente abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen das ihr am 07.07.1998 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 14.07.1998 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, daß die Art und Weise des Bruchs, der Röntgenbefund und die beim Hergang des Unfalls einwirkenden Kräfte auf eine Spontanfraktur hindeuteten und dem Unfallereignis daher nur die Bedeutung einer Gelegenheitsursache zukomme.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Dortmund vom 19.05.1998 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß festgestellt wird, daß die Fraktur des linken Kleinfingergrundgliedes Folge des Arbeitsunfalls vom 23.10.1995 ist.

Er ist der Ansicht, Krafteinwirkungen, wie sie hier stattgefunden hätten, seien nicht mit Belastungen bei einer normalen Verrichtung des privaten täglichen Lebens austauschbar. Andernfalls habe eine entsprechende Fraktur bereits vor dem Unfall bei einer entsprechenden Verrichtung eintreten müssen. Auch habe das Unfallereignis einen wesentlich stärkeren Schaden verursacht, als dies bei anderen Verrichtungen anzunehmen gewesen wäre, weil auch gesunde Knochenanteile mit betroffen worden seien, wie Dr. K ... dargelegt habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet.

Das SG hat der Klage, die in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zulässigerweise auf die Feststellung der Unfallfolgen (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) umgestellt worden ist, da sich einerseits gegenwärtige Leistungsansprüche im Hinblick auf die Gewährung von Verletztengeld und Krankenpflege durch die Betriebskrankenkasse der V.W. Werke V ... W ... GmbH & Co.KG und den damit verbundenen gesetzlichen Forderungsübergang (§ 107 des Zehnten Sozialgesetzbuchs - SGB 10 -) nicht hinreichend begründen lassen und andererseits zukünftige Leistungen - mögliche Stützrentensituation durch die Unfallfolgen (§ 581 Abs. 3 Reichsversicherungsordnung - RVO -) - in Betracht kommen, zu Unrecht teilweise stattgegeben, weil sich nicht feststellen läßt, daß die Fraktur des linken Kleinfingergrundgliedes Folge des Unfalls vom 23.10.1995 ist.

Nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung sind von den Bedingungen in naturwissenschaftlich-philosophischem Sinn als Ursache oder Mitursache unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur diejenigen Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (BSGE 1, 72, 76; 63, 272, 278; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung - Gesetzliche Unfallversicherung -, 12. Aufl., § 8 Rdn. 309 ff.). Daß das Ereignis vom 23.10.1995 in dieser Weise zumindest wesentlich mitursächlich für die Fraktur des linken Fingergrundgliedes geworden ist, läßt sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen. Besteht im Unfallzeitpunkt eine Krankheitsanlage des geschädigten Körperteils, so muß abgegrenzt werden, ob der Körperschaden auch ohne das Unfallereignis zu etwa derselben Zeit durch andere alltäglich vorkommende Ereignisse hätte verursacht werden können, oder ob der Krankheitsanlage eine solch überragende Bedeutung nicht beigemessen werden kann und daher dem Unfallgeschehen ein wesentlicher Ursachenbeitrag zuzuerkennen ist (BSG Breithaupt 1968, 823, 824; Brackmann/Krasney a.a.O. Rdn. 378 zu § 8; Erlenkämper, Arbeitsunfall, Schadensanlage und Gelegenheitsursache in: Die Sozialgerichtsbarkeit - SGb - 1997, S. 355, 358 m.w.N.). Dabei reicht für die Annahme einer wesentlichen (Mit)-Ursache nicht aus, daß das Unfallereignis stärker war als andere alltägliche Ereignisse (BSG a.a.O.; Brackmann/Krasney a.a.O.; Ricke, Kasseler Kommentar, Rdn. 28 zu § 8 SGB VII). Daher ist auch die Argumentation des Klägers unergiebig, die Annahme einer sog. Gelegenheitsursache sei schon deshalb ausgeschlossen, weil die Bruchschädigung bei einer alltäglichen Belastung nicht entstanden sei. Träfe dies zu, so wäre jedes Unfallereignis, das zumindest eine conditio sine qua non für den eingetretenen Körperschaden darstellt, als wesentlich ursächlich anzusehen, da alltägliche Belastungen den Schaden noch nicht herbeigeführt hatten. Es bedarf daher vielmehr einer Abwägung der Schwere der Krankheitsanlage mit der Stärke des Unfallereignisses. Diese Abwägung führt aber vorliegend zu dem Ergebnis, daß dem vorbestehenden Knochendefekt - Enchondrom des Fingergrundgliedes - die überragende Bedeutung für die Entstehung der Fraktur zukommt und diese nur gelegentlich des Ereignisses vom 23.10.1995 aufgetreten ist.

Nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. T ..., die sich mit den Angaben der behandelnden Krankenhausärzte Dres. W .../K ... decken, war die Knochenstabilität des linken Kleinfingergrundgliedes infolge einer ausgedehnten Knochencyste mit erheblicher Ausdünnung der Kortikalis so stark herabgesetzt, daß jedes Bagatelltrauma bzw. eine alltägliche Belastung - z.B. das Drücken einer Türklinke oder Heben eines Einkaufskorbes - ausgereicht hätte, die Fraktur auszulösen.

Demgegenüber läßt sich nicht feststellen, daß das Unfallereignis eine so erhebliche Krafteinwirkung auf den frakturierten Finger ausgeübt hat, daß auch ein gesunder Finger gebrochen wäre. Die gegenteiligen Darlegungen von Dr. K ... vermögen den Senat nicht zu überzeugen. Wie Prof. Dr. T ... schlüssig dargelegt hat, ist angesichts der Schwere des Rohrbundes, der auf den Finger getroffen ist, eine plötzliche von außen einwirkende Gewalt unwahrscheinlich und vielmehr von einer langsamen Drehbewegung auszugehen. Dies widerspricht aber der von Dr. K ... vermuteten größeren Gewalteinwirkung. Auch hat die Arbeitgeberin des Klägers gestützt auf dessen Angaben, da Unfallzeugen nicht vorhanden sind, lediglich die Möglichkeit bescheinigt, daß der geschädigte Finger in einem Rohr oder Rohrzwischenraum gesteckt habe. Mangels Objektivierbarkeit dieser Angaben, kann daher von einem derartigen Unfallhergang nicht ausgegangen werden.

Auch ist die Annahme Dr. K ... einer Frakturierung nicht vorgeschädigter Knochenanteile des linken Fingers durch den Sachverständigen nicht bestätigt worden, so daß die Darlegungen Dr. K ... nicht den Nachweis einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs erlauben.

Auf die Berufung der Beklagten mußte daher die Klage vollständig mit der auf § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung abgewiesen werden.

Für die Zulassung der Revision bestand kein Anlaß.
Rechtskraft
Aus
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