L 17 U 179/99

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 4 U 190/98
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 U 179/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 354/99 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 22. Juni 1999 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung von Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

Die 1940 geborene Klägerin erlernte von 1954 bis 1958 den Beruf der Frisörin, arbeitete anschließend im erlernten Beruf und war nach Ablegung der Meisterprüfung von 1962 bis März 1984 als Frisörmeisterin selbständig tätig. Nach eigenen Angaben erfolgte die Berufsaufgabe wegen starker Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule und des rechten Armes.

Im Februar 1985 beantragte die Klägerin erstmals die Anerkennung ihres Wirbelsäulenleidens als BK.

Mit Bescheid vom 28.01.1986 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.08.1986 lehnte die Beklagte den Antrag auf Entschädigungsleistungen ab. Bandscheibenschäden und Wirbelsäulenerkrankungen seien in der Anlage 1 zur BKV in der Fassung vom 08.12.1976 nicht aufgeführt. Es lägen auch keine neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse vor, daß diese Leiden wie eine BK nach § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) entschädigt werden könnten.

Am 28.07.1997 beantragte die Klägerin erneut die Anerkennung ihrer Wirbelsäulenerkrankung als BK. Sie gab an, seit 1970 unter Bandscheibenbeschwerden im Lendenwirbelsäulen(LWS)-Bereich zu leiden. Die Beschwerden seien durch häufiges Arbeiten in gebückter Körperhaltung verursacht worden. Beim Haarewaschen habe der Oberkörper ebenso wie bei den regelmäßig anfallenden Putzarbeiten um mindestens 90° gebeugt werden müssen. Die Beklagte zog im Rahmen ihrer Ermittlungen das Erkrankungsverzeichnis der AOK Rheinland, die Unterlagen der BfA sowie Befundberichte von Dr. L ... und Dr. P ... bei. Aus diesen Unterlagen ergibt sich, daß die Klägerin 1984/1985 wegen Rückenbeschwerden behandelt wurde und computertomographisch ein ausgedehnter Bandscheibenprolaps mit Sequesterbildung im Lumbalsegment L5/S1 festgestellt wurde. Die Beklagte veranlaßte außerdem eine Untersuchung ihres Technischen Aufsichtsbeamten (TAB) Dipl.-Ing. G ..., der in seinem Bericht vom 06.04.1998 zu dem Ergebnis gelangte, die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV seien nicht erfüllt. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß die Klägerin langjährig im Rahmen ihrer Tätigkeit regelmäßig und häufig Lasten mit einem Gewicht von mehr als 10 kg gehoben oder getragen habe. Die Tätigkeit sei auch nicht in extremer Rumpfbeugung erfolgt. Soweit die Klägerin auf die Haarwäsche an sog. "Vorwärts"-Waschbecken verweise, bedinge dies unter Berücksichtigung der regelmäßigen Bauhöhe der Waschbecken von ca. 65 bis 75 cm einen Rumpfbeugewinkel bei der Haarwäsche von 45 bis 75°. Eine längerdauernde Putztätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung könne ebenfalls nicht nachvollzogen werden. Aufgrund der bei Putzarbeiten üblichen Arbeitsmethode und Hilfsmittel müsse diese Haltung allenfalls selten eingenommen werden.

Durch Bescheid vom 29.05.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26.11.1998 lehnte die Beklagte die Feststellung einer BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV ab, da die Klägerin nicht wirbelsäulenbelastend tätig gewesen sei.

Am 11.12.1998 hat die Klägerin Klage bei dem Sozialgericht (SG) Aachen erhoben und ihr Begehren weiterverfolgt.

Durch Gerichtsbescheid vom 22.06.1999 hat das SG die Klage abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen den ihr am 29.06.1999 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 20.07.1999 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, beim Kopfwaschen habe die Rumpfbeugung regelmäßig 75° betragen und das Putzen habe ebenfalls eine stark gebeugte Haltung erfordert. Außerdem habe sie auch schwere Lasten getragen, da Festiger, Haarwaschmittel und Fixierung in 50-Liter-Kanistern abgefüllt gewesen seien. Schließlich habe sie ein Jahr lang auch Modeschmuck verkauft, wobei die zu tragenden Kartons etwa 25 bis 30 kg gewogen hätten.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 22.06.1999 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29.05.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26.11.1998 zu verurteilen, ihr wegen einer BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV Verletztenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Verwaltungsakt ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente, denn die bei ihr im Bereich der Wirbelsäule bestehenden krankhaften Veränderungen stellen keine BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV dar.

BK en sind gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BK en bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Mit der am 01. Januar 1993 in Kraft getretenen 2. Verordnung zur Änderung der BKV vom 18. Dezember 1992 - 2. ÄndVO - ist die BK-Liste um die Nr. 2108 erweitert worden. Diese erfaßt bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. Die Feststellung einer BK setzt grundsätzlich voraus (vgl. zum folgenden: Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung - Handkommentar - § 9 SGB VII Rdn. 3,12; Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheiten-Verordnung - Kommentar - E § 9 SGB VII Rdn. 14), daß zum einen in der Person des Versicherten die sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt sind, d.h., daß der Betreffende im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit schädigenden Einwirkungen i.S.d. BK ausgesetzt gewesen ist, die geeignet sind, einen entsprechenden Gesundheitsschaden zu bewirken (haftungsbegründende Kausalität). Zum anderen muß ein Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung bestehen (haftungsausfüllende Kausalität). Während die arbeitstechnischen Voraussetzungen und der Gesundheitsschaden voll bewiesen sein müssen, reicht zur Bejahung des Kausalzusammenhangs zwischen der schädigenden Einwirkung und dem Gesundheitsschaden die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38; § 551 Nr. 1; Mehrtens/Perlebach a.a.O. Rdn. 26). Bezüglich der hier streitigen BK müssen also i.S.d. Vollbeweises eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS (Gesundheitsschaden) und die arbeitstechnischen Voraussetzungen "langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten" oder "langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung" (= haftungsbegründende Kausalität) nachgewiesen sein, und dieser Gesundheitsschaden muß i.S.d. unfallrechtlichen Kausalitätslehre (vgl. BSG SozR 2200 § 551 Nr. 1; SozR 3-2200 § 548 Nrn. 4, 11, 14; Mehrtens/Perlebach, a.a.O. Rdn. 17 ff.) wesentlich ursächlich oder mitursächlich auf die belastende berufliche Tätigkeit zurückzuführen sein (= haftungsausfüllende Kausalität).

Von diesen Voraussetzungen ausgehend hat das SG zu Recht festgestellt, daß nicht wahrscheinlich zu machen ist, daß bei der Klägerin eine BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV vorliegt, weil insoweit schon die haftungsbegründende Kausalität nicht gegeben ist. Das zur BK Nr. 2108 vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebene Merkblatt für die ärztliche Untersuchung (abgedruckt bei Mehrtens/Perlebach, a.a.O. M 2108 S. 1 ff.), das zwar keine verbindliche, im Range der Verordnung stehende Erläuterung darstellt, aber Hinweise für die Beurteilung von möglichen Zusammenhängen aus arbeitsmedizinischer Sicht gibt und eine arbeitstechnische und medizinische Konkretisierung der BK beinhaltet (vgl. BSG Urteil vom 10.08.1999 - B 2 U 11/99 R -), weshalb es als wertvolles Hilfsmittel für die Anerkennung einer BK anzusehen ist (Urteil des erkennenden Senats vom 11.11.1998 - L 17 U 141/96 -), führt in seinem Abschnitt IV Anhaltspunkte für den Begriff "schwere Lasten" auf. Die - aus präventiv-medizinischen Gründen festgelegten - Lastgewichte betragen bei Frauen im Alter von 18 bis 39 Jahren 15 und ab dem Alter von 40 Jahren 10 kg. Diese Lastgewichte müssen mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten gehoben und getragen werden, um als Ursache für bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS in Frage kommen zu können. "Langjährig" bedeutet danach, daß regelmäßig 10 Berufsjahre als untere Grenze der Dauer der belastenden Tätigkeit zu fordern sind. Unter "Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung" sind nach dem Merkblatt nur Arbeiten in Arbeitsräumen mit einer Höhe von weniger als 100 cm oder solche Arbeiten zu verstehen, bei denen der Oberkörper aus aufrechter Körperhaltung um mehr als 90° gebeugt wird.

Der Senat hat mit Urteil vom 19.11.1997 (L 17 U 285/96) entschieden, daß ein Frisörmeister nicht zu einer Berufsgruppe gehört, die Belastungen i.S.d. BK en Nr. 2108/2109 ausgesetzt ist.

Daß bei der Klägerin derartige Belastungen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit als Frisörin und Frisörmeisterin angefallen sind, kann gleichfalls nicht festgestellt werden. Die Beklagte hat dies aufgrund der im Verwaltungsverfahren durchgeführten arbeitstechnischen Feststellungen zu Recht verneint. Durch den ausführlichen Bericht des TAB Dipl.-Ing. G ... vom 06.04.1998, der sich auf eine Befragung der Klägerin gründet, ist nachgewiesen, daß die Klägerin im Rahmen ihrer Tätigkeit weder langjährig regelmäßig und häufig Lasten mit einem Gewicht von mehr als 10 kg gehoben oder getragen noch in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet hat. Aus den Angaben der Klägerin im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren ergibt sich, daß Lastgewichte über den Grenzwerten allenfalls gelegentlich und vereinzelt, nicht aber in dem erforderlichen zeitlichen Umfang regelmäßig während der Arbeitsschicht getragen wurden. Soweit sie im Berufungsverfahren darauf hinweist, Festiger, Haarwaschmittel und Fixierung seien in 50-Liter-Kanistern angeliefert worden, ergibt sich schon aus dem eigenen Vortrag, daß die Hebe- und Tragebelastungen nur gelegentlich, nämlich nur bei der jeweiligen Anlieferung, auftraten. Soweit sie auf den Verkauf von Modeschmuck verweist, fehlt es überdies auch am Merkmal der Langjährigkeit, da der Schmuck, wie die Klägerin selbst dargelegt hat, nur während eines Jahres verkauft wurde. Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung fielen allenfalls ganz vereinzelt im Rahmen von Putzarbeiten an. Daß die Haarwäsche keine extreme Rumpfbeugehaltung erforderte, der Rumpfbeugewinkel vielmehr allenfalls 75° betrug, hat die Klägerin im Berufungsverfahren selbst eingeräumt. Der TAB Dipl.-Ing. G ... hat in seinem Bericht insoweit auch überzeugend darauf hingewiesen, daß bereits aufgrund der Bauhöhe der sog. "Vorwärts"-Waschbecken ein Rumpfbeugewinkel von mehr als 75° ausscheidet. Daß die Tätigkeit als Frisörin bzw. Frisörmeisterin keine Belastungen beinhaltet, wie sie für die BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV erforderlich sind, zeigt schließlich auch ein Vergleich mit den Berufsgruppen, bei denen vom Vorliegen entsprechender Belastungen auszugehen ist (vgl. die Beispiele bei Mehrtens/Perlebach, a.a.O. M 2108 Rdn. 2.3). Es sind dies z.B. Arbeiten im untertägigen Bergbau bei regelmäßigem Transport schwerer Gegenstände, Arbeiten im Baugewerbe (z.B. Maurertätigkeit), Arbeiten in der Metallherstellung (Gießerei, Senkschmiede, Gußputzbetriebe), Arbeiten in Werftbetrieben, beim Transport oder Verarbeitung schwerer Werkstücke oder Geräte in beengten räumlichen Verhältnissen, Schlosserarbeiten oder Tätigkeiten im Kraftfahrzeughandwerk bei eigenhändigem Umgang mit schweren Werkstücken (Getrieben, Motoren, Achsen), Arbeiten im Lagerei- und Transportgewerbe z.B. beim Ladearbeiter am Flughafen oder im Hafenumschlag, Transportfahrer bei regelmäßiger Durchführung von Be- und Entladearbeiten, Möbelträger, Kohle- und andere Lastenträger, Arbeiten in der Land- und Forstwirtschaft, im Fischereibetrieb, im Garten- und Landschaftsbau sowie im Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege beim regelmäßigen Heben, Umlegen und Mobilisieren von Patienten oder pflegebedürftigen Personen.

Nach alledem ist schon nicht nachgewiesen, daß die Klägerin im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit Belastungen ausgesetzt gewesen ist, wie sie für die Entstehung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS durch berufliche Tätigkeit aus arbeitstechnischer und arbeitsmedizinischer Sicht gefordert werden. Die Beklagte hat daher zu Recht die Gewährung von Verletztenrente abgelehnt, weil es schon an der haftungsbegründenden Kausalität mangelt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Von der Auferlegung von Kosten nach § 192 SGG hat der Senat wegen der fehlenden Einsichtsfähigkeit der Klägerin in die Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung abgesehen.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 bzw. 2 SGG sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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