L 1 AL 63/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 4 AL 223/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 AL 63/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 11 AL 239/02 B
Datum
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 23.07.2001 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Vordergrund des Rechtsstreits steht die Frage, ob die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe ab 14.07.2000 aufheben durfte, weil der Kläger einer Aufforderung des Arbeitsamtes, Altersrente zu beantragen, nicht nachgekommen ist.

Der am ...1938 geborene Kläger bezog nach der Erschöpfung seines Anspruchs auf Arbeitslosengeld vom 02.03.1999 bis 01.03.2000 Arbeitslosenhilfe. Die Fortzahlung dieser Leistung lehnte die Beklagte zunächst mit der Begründung ab, der Kläger sei nicht bedürftig. Dem hiergegen gerichteten Widerspruch gab die Beklagte statt. Sie bewilligte mit Bescheid vom 09.06.2000 Arbeitslosenhilfe für die Zeit vom 02.03.2000 bis 01.03.2001 in Höhe von 422,66 DM wöchentlich (1.831,53 DM monatlich).

Mit Schreiben vom 09.06.2000 forderte die Beklagte den Kläger gemäß § 202 Abs. 1 Satz 1 des Dritten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB III) auf, innerhalb eines Monats Altersrente zu beantragen. Sie wies u.a. darauf hin, dass der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe nach Ablauf der gesetzten Frist bis zu dem Tag ruhe, an dem der Antrag auf Altersrente gestellt werde.

Der Kläger erklärte am 20.06.2000, er werde der Aufforderung der Beklagten nicht nachkommen, weil der zu erwartende Rentenzahlbetrag deutlich niedriger als die zu zahlende Arbeitslosenhilfe sei. Er legte eine Rentenauskunft der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) vor, nach der die Altersrente bei Zugrundelegung des bis zum 30.06.1999 maßgebenden aktuellen Rentenwerts monatlich 1.037,85 DM betragen würde. Am 26.10.2000 legte der Kläger gegen die Aufforderung vom 09.06.2000 Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2000 ( /00) mit der Begründung als unzulässig verwarf, das Schreiben vom 09.06.2000 stelle mangels selbstständiger Regelung keinen anfechtbaren Verwaltungsakt dar.

Die Beklagte stellte die Zahlung der Arbeitslosenhilfe mit Ablauf des 30.09.2000 ein. Am 09.11.2000 erhob der Kläger "Widerspruch gegen die stillschweigende Einstellung der Leistungen". Auch diesen Rechtsbehelf wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2000 (W 2532/00) als unzulässig zurück.

Mit Schreiben vom 29.09.2000 verlangte die Beklagte vom Kläger u.a. den Nachweis des frühestmöglichen Zeitpunkts für den Anspruch auf Altersrente ohne Rentenminderung. Den hiergegen gerichteten Widerspruch verwarf die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2000 ( /00) als unzulässig.

Am 07.11.2000 teilte die BfA der Beklagten mit, dass der Kläger Altersrente wegen Arbeitslosigkeit ohne Rentenminderung frühestens ab 01.09.2000 beanspruchen könne.

Mit Bescheid vom 07.11.2000 hob die Beklagte ihre Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe vom 09.06.2000 mit Wirkung ab 14.07.2000 auf. Sie stützte ihr Vorgehen auf § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB X) in Verbindung mit § 202 Abs. 1 SGB III. Der Kläger weigere sich, die ungeminderte Altersrente zu beantragen. Dieses Verhalten bewirke das Ruhen seines Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, die an ihn gerichtete Aufforderung, Altersrente zu beantragen, sei rechtswidrig gewesen. Der Umstand, dass der zu erwartende Rentenzahlbetrag in seinem Fall deutlich niedriger als die zu zahlende Arbeitslosenhilfe sei, dürfe bei der Entscheidung der Beklagten nicht unberücksichtigt bleiben. Mit Widerspruchsbescheid vom 19.12.2000 ( /00) wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Höhe des zu erwartenden Rentenzahlbetrags sei unbeachtlich.

Mit Bescheid vom 14.11.2000 in der Fassung des (weiteren) Widerspruchsbescheides vom 19.12.2000 ( /00) verlangte die Beklagte vom Kläger nach § 50 SGB X die Erstattung der vom 14.07. bis 30.09.2000 gezahlten Arbeitslosenhilfe in Höhe von 4.770,02 DM.

Der Kläger hat gegen die genannten Widerspruchsbescheide jeweils binnen Monatsfrist Klage erhoben. Das Sozialgericht hat die Verfahren zum Zwecke der gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung miteinander verbunden.

Im ersten Rechtszug hat der Kläger eine weitere Rentenauskunft der BfA vorgelegt, nach der die Altersrente bei Zugrundelegung des bis 30.06.2001 maßgebenden aktuellen Rentenwerts monatlich 1.154, 91 DM betragen würde.

Durch Gerichtsbescheid vom 23.07.2001 hat das Sozialgericht die Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 17.11.2000 mit dem Az.: /00 abgewiesen. Alle übrigen Entscheidungen der Beklagten hat das Sozialgericht aufgehoben. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen den ihr am 30.07.2001 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 15.08.2001 Berufung eingelegt.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 12.09.2002 hat der Kläger seine Anfechtungsklage auf den Widerspruchsbescheid vom 17.11.2000 mit dem Az.: /00 und die Widerspruchsbescheide vom 19.12.2000 ( /00 und /00) beschränkt. Im Übrigen hat er den Rechtsstreit für erledigt erklärt.

Die Beklagte hält auch unter Berücksichtigung des Urteils des 7. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27.07.2000 - B 7 Al 42/99 R - (SozR 3-4100 § 134 Nr. 22) sowie der Urteile des 11. Senats vom 20.09.2001 - B 11 Al 87/00 R und 35/01 R - an ihrer Auffassung fest, dass es sich bei der Aufforderung nach § 202 Abs. 1 Satz 1 SGB III nicht um einen Verwaltungsakt handele und der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe unabhängig von der Höhe des zu erwartenden Rentenzahlbetrages ruhe, wenn der Arbeitslose ihr nicht folge. Sie sieht sich in ihrer Ansicht durch das Gesetz zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente (JOB-AQTIV-Gesetz) vom 10.12.2001 (BGBl. I 3443) bestärkt, das die Höhe der Altersrente für unbeachtlich erklärt (§ 202 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz SGB III in der seit 01.01.2002 gültigen Fassung). Dabei handele es sich - so die Beklagte - nicht um eine Gesetzesänderung, sondern die Klarstellung der schon vor dem Inkrafttreten des JOB-AQTIV-Gesetzes gültigen Rechtslage.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 23.07.2001 zu ändern und die Klagen abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den Gerichtsbescheid für zutreffend.

Der Kläger hat mitgeteilt, dass er inzwischen einen Antrag auf Altersrente gestellt, die BfA aber angewiesen habe, den Antrag bis auf Weiteres nicht zu bearbeiten. Seinen Lebensunterhalt bestreite er aus der Rente seiner Ehefrau.

Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung und bezüglich des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Prozessakte und die Leistungsakte der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die noch im Streit befindlichen Entscheidungen zu Recht aufgehoben.

Die Beklagte durfte den Widerspruch gegen die Aufforderung vom 09.06.2000, innerhalb eines Monats Altersrente zu beantragen, nicht als unzulässig verwerfen. Das Schreiben stellt nämlich einen belastenden Verwaltungsakt dar, der in die Rechte des Klägers unmittelbar eingreift. Der Senat schließt sich der Rechtsprechung der beiden mit den Angelegenheiten der Beklagten befassten Senate des BSG an, nach der die Aufforderung nach § 134 Abs. 3 c Satz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes - AFG - (seit 01.01.1998: § 202 Abs. 1 Satz 1 SGB III) - anders als die Beklagte auch weiterhin meint - Regelungscharakter hat (Urteile vom 27.07.2000 und 20.09.2001 a.a.O.). Die Unmittelbarkeit der Außenwirkung der Regelung ergibt sich daraus, dass das Nichtbefolgen der Aufforderung zur Rentenantragstellung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 SGB III ohne Weiteres kraft Gesetzes zum Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe führt (BSG a.a.O.).

Der am 26.10.2000 erhobene Widerspruch gegen die Aufforderung vom 09.06.2000 war somit statthaft. Der Kläger hat ihn auch rechtzeitig eingelegt. Der Bescheid vom 09.06.2000 war - nach der Rechtsauffassung der Beklagten konsequent - nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen. Nach § 66 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) betrug die Widerspruchsfrist daher ein Jahr.

Die Aufforderung zur Rentenantragstellung vom 09.06.2000 war rechtswidrig.

Der Senat schließt sich auch insoweit der Rechtsprechung des 7. und des 11. Senats des Bundessozialgerichts in den genannten Urteilen vom 27.07.2000 und 20.09.2001 an. Danach folgt aus der Formulierung des § 134 Abs. 3 c Satz 1 AFG bzw. jetzt des § 202 Abs. 1 Satz 1 SGB III ("Das Arbeitsamt soll den Arbeitslosen ... auffordern,"), dass die Beklagte in atypischen Fällen im Ermessenswege von der Aufforderung zur Rentenantragstellung absehen muss. Nach dem Gesamtkonzept der §§ 118 Abs. 1 Nr. 4, 134, Abs. 3c AFG bzw. der §§ 142 Abs. 1 Nr. 4, 202 Abs. 1 SGB III in der vom 01.01.1998 bis 31.12.2001 gültigen Fassung müssen als untypisch alle die Fälle angesehen werden, in denen die zu erwartende Altersrente niedriger als die zu zahlende Arbeitslosenhilfe wäre (zur Begründung im Einzelnen vgl. die Urteile des BSG vom 27.07.2000 und 20.09.2001 a.a.O., auf die der Senat Bezug nimmt). Nichts anderes ergibt sich daraus, dass der Gesetzgeber die Höhe des zu erwartenden Rentenzahlbetrags jetzt für unbeachtlich erklärt hat. Die entsprechende Ergänzung des § 202 Abs. 1 Satz 2 SGB III ist durch das JOB-AQTIV-Gesetz vom 10.12.2001 eingefügt worden und erst am 01.01.2002 in Kraft getreten. Sie findet deshalb auf den Fall des Klägers noch keine Anwendung. Folgt man - wie der Senat - der Rechtsprechung des 7. und des 11. Senats des BSG a.a.O. zu § 134 Abs. 3c AFG - dem die vom 01.01.1998 bis 31.12.2001 gültige Fassung des § 202 Abs. 1 SGB III entspricht -, bedeutet die Neufassung des § 202 Abs. 1 Satz 2 SGB III durch das JOB-AQTIV-Gesetz entgegen der Begründung des Gesetzentwurfs (vgl. dazu BT-Drucks. 14/6944 S. 99 zu § 202) keine Klarstellung der schon vor dem 01.01.2002 gültigen Rechtslage, sondern eine Gesetzesänderung, die nur für Aufforderungen gilt, die nach dem Inkrafttreten des JOB-AQTIV- Gesetzes ergangen sind (so auch der 9. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 11.04.2002, L 9 Al 4/00).

Im Falle des Klägers ist der zu erwartende Rentenzahlbetrag nach den Auskünften der BfA mit weniger als 1.200,- DM monatlich erheblich niedriger als die zu zahlende Arbeitslosenhilfe von zuletzt 1.831,53 DM monatlich. Es handelt sich somit um einen im Rahmen des § 202 Abs. 1 Satz 1 SGB III untypischen Sachverhalt. An der deshalb notwendigen Ermessensausübung fehlt es hier. Die Beklagte ist bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung im zweiten Rechtszug von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen.

War die Aufforderung zur Rentenantragstellung vom 09.06.2000 nach alledem aufzuheben, sind die Voraussetzungen des Ruhens des Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe nach § 202 Abs. 1 Satz 3 SGB III ebenfalls nicht erfüllt. Die von der Beklagten angenommene wesentliche Änderung der für die Zahlung der Arbeitslosenhilfe maßgeblichen Verhältnisse (§§ 330 Abs. 3 SGB III, 48 Abs. 1 SGB X) ist damit nicht eingetreten. Auch die übrigen Umstände, die für die Zuerkennung der Arbeitslosenhilfe für die Zeit vom 02.03.2000 bis 01.03.2001 von Bedeutung waren, haben sich nach den Feststellungen des Senats während des Bewilligungsabschnitts nicht wesentlich geändert. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung am 12.09.2002 auf Vorhalt versichert, seit der Einstellung der Zahlung der Arbeitslosenhilfe bis heute ununterbrochen arbeitslos zu sein, der Arbeitsvermittlung zu Verfügung zu stehen und bis auf die Rente seiner Ehefrau, die im Bewilligungsbescheid vom 09.06.2002 anrechnungsfrei geblieben war, über keine Einkünfte zu verfügen. Der Kläger selbst erhält nach wie vor keine Altersrente, deren Bezug unabhängig von der Rentenhöhe nach §§ 198 Satz 2 Nr. 6, 142 Abs. 1 Nr. 3 SGB III zum Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe führen würde. Er hat zwar vorsorglich einen entsprechenden Antrag gestellt, die BfA aber angewiesen, darüber bis auf Weiteres nicht zu entscheiden. Die Vertreterin der Beklagten hat anhand ihrer Unterlagen bestätigt, dass der Kläger bis heute regelmäßig Kontakt mit seinem Arbeitsvermittler hat und alle Meldetermine - zuletzt den vom 25.06.2002 - wahrnimmt.

Mit der Aufhebung des angefochtenen Bescheides vom 07.11.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2000 ( /00) hat der Kläger einen Zahlungsanspruch aus dem Bewilligungsbescheid vom 09.06.2000 für die Zeit vom 02.03.2000 bis 01.03.2001. Eine Grundlage für die Erstattung der vom 14.07. bis 30.09.2000 gezahlten Leistungen in Höhe von 4.770,02 DM besteht nicht, weshalb auch der auf § 50 SGB X gestützte Bescheid vom 14.11.2000 in der Fassung des weiteren Widerspruchsbescheides vom 19.12.2000 ( /00) rechtswidrig ist und aufzuheben war. Die Frage, ob der Kläger nach Ablauf des Bewilligungsabschnitts am 01.03.2001 auch darüber hinaus Anspruch auf Arbeitslosenhilfe hat, ist nicht Gegenstand der in diesem Verfahren erhobenen Anfechtungsklagen. Hierüber muss die Beklagte jetzt eine Entscheidung treffen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG) sind nicht erfüllt. Die Entscheidung des Senats bewegt sich im Rahmen der Rechtsprechung sowohl des 7. als auch des 11. Senats des BSG.
Rechtskraft
Aus
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