L 5 KR 92/99

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 8 KR 307/98
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 92/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 KR 10/00 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 01.09.1999 geändert und die Klage abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin ist Arbeitnehmerin im Lebensmitteleinzelhandelsgeschäft ihres Ehemannes, des Beigeladenen zu 2). Sie war pflichtversichertes Mitglied der beklagten Krankenkasse.

Zum 01.04.1998 wurde die Beigeladene zu 1) errichtet. Nach § 1 Abs. 2 der Satzung der Beigeladenen zu 1) erstreckt sich der Bereich der Betriebskrankenkasse (BKK) Spar auf die Großhandels- Hauptniederlassung der Spar Handels-AG in Schenefeld, auf die Niederlassungen und Betriebsstätten im gesamten Bundesgebiet und "auch auf die Region Bundesrepublik Deutschland".

Die Klägerin erklärte innerhalb von zwei Wochen nach deren Errichtung ihren Beitritt zur Beigeladenen zu 1). Diese nahm die Klägerin zum 01.04.1998 auf und übersandte dem Beigeladenen zu 2) eine Mitgliedsbescheinigung. Der Beigeladene zu 2) führte die Sozialversicherungsbeiträge ab 01.04.1998 an die Beigeladene zu 1) ab.

Mit Anhörungsschreiben vom 28.05.1998 teilte die Beklagte der Klägerin und dem Beigeladenen zu 2) mit, dass der Gesamtsozialversicherungsbeitrag nach ihrer Auffassung weiter an sie zu entrichten sei, da kein rechtswirksamer Kassenwechsel stattgefunden habe. Das von der Klägerin in Anspruch genommene Sonderwahlrecht nach § 173 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) gelte nur für unmittelbar von der betrieblichen Veränderung Betroffene und damit nur für die Beschäftigten der Firma Spar. Die Klägerin hielt demgegenüber das Sonderwahlrecht für gegeben.

Mit Bescheid vom 17.06.1998 stellte die Beklagte fest, dass die Mitgliedschaft der Klägerin bei ihr über den 31.03.1998 hinaus fortbestehe. Ihren Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass die BKK Spar als bundesweit geöffnete Krankenkasse vom Bundesversicherungsamt (BVA) genehmigt sei. Auch dieses vertrete die Auffassung, dass innerhalb der gesetzlichen Frist von 14 Tagen nach Errichtung der Betriebskrankenkasse ein Sonderwahlrecht für alle Beitrittswilligen bestehe. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Bescheid vom 14.09.1998). Das Sonderkündigungsrecht gelte nur für die unmittelbar Betroffenen und am Abstimmungsverfahren zur Errichtung der BKK beteiligten Arbeitnehmer, nicht aber für betriebsfremde Arbeitnehmer im selbständigen Einzelhandel, wie die Klägerin.

Die Klägerin hat Klage erhoben und darauf verwiesen, dass § 175 Abs. 5 SGB V keine Einschränkung des Sonderkündigungsrechts auf Betriebsangehörige enthalte. Die Vorschrift solle neu errichteten Betriebskrankenkassen ermöglichen, alsbald den zum wirtschaftlichen Überleben erforderlichen Versichertenstand zu gewinnen. Bei einer Öffnung der Kasse von vornherein treffe dieser Gedanke auf alle Versicherten zu. Die Klägerin hat zwei Schreiben des BVA vom 12.04.1996 und 05.06.1998 vorgelegt. In letzterem heißt es, die in dem älteren Schreiben unter Hinweis auf die abweichende Meinung des Bundesgesundheitsministeriums vertretene Auffassung, dass das Sonderwahlrecht nach § 175 Abs. 5 SGB V bei Errichtung einer geöffneten BKK auch die Fälle des § 173 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 und 6 umfasse, halte das BVA nicht mehr aufrecht. Vielmehr gelte das Sonderkündigungsrecht nur für die Beschäftigten des Errichtungsbetriebes. Diese Auffassung werde das BVA der Aufsichtspraxis in künftigen Fällen zugrunde legen. Für die BKK Spar bleibe es wegen des bei ihr und ihren Versicherten entstandenen Vertrauenstatbestandes bei der bisher vertretenen Auffassung.

Die Beklagte hat demgegenüber eingewandt, Vertrauensschutz könne die Klägerin nicht geltend machen, da die Beklagte ihr gegenüber nie geäußert habe, dass eine Sonderkündigung möglich sei. Eine Falschberatung durch die Beigeladene zu 1) könne nicht zu Lasten der Beklagten gehen. Sie bezieht sich auf zwei Schreiben des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) vom 05.03.1996 an den Bundesverband der AOK und vom 09.03.1998 an den VdAK, wonach sich aus der Systematik und dem Zweck der Vorschriften über die Errichtung von Betriebskrankenkassen ergebe, dass eine von vornherein geöffnete BKK nicht errichtet werden dürfe und dass das Sonderkündigungsrecht nur den am Errichtungsverfahren beteiligten Arbeitnehmern zustehen könne. Eine Betriebskrankenkasse werde grundsätzlich für die Beschäftigten des betroffenen Betriebes errichtet, deshalb komme es für die Errichtung auf die Mindestzahl und das Votum der in diesen Betrieben Beschäftigten an. Werde der Zugang Betriebsfremder bereits zum Errichtungszeitpunkt ermöglicht, könne dies zweckwidrig dazu führen, dass bereits im Errichtungszeitpunkt eine Mitgliederstruktur mit überwiegend betriebsfremden Mitgliedern entstehe.

Das Sozialgericht hat unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide vom 17.06., 10.08. und 14.09.1998 festgestellt, dass die Klägerin seit 01.04.1998 nicht mehr Mitglied der Beklagten ist (Urteil vom 01.09.1999). Der unmissverständliche Wortlaut des § 175 Abs. 5 SGB V lasse nicht erkennen, dass die schnelle Beitrittsmöglichkeit nur einem Teil der wahlberechtigten Versicherungspflichtigen eröffnet sein solle. Es sei nicht vorstellbar, dass die Beteiligten des Gesetzgebungsverfahrens solchen Kassen, denen die Genehmigungsbehörde das Vertrauen entgegengebracht habe, als geöffnete Kasse bundesweit tätig zu sein, nicht habe ermöglichen wollen, umgehend einen großen Mitgliedsstamm aufzubauen.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Diese nimmt Bezug auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts B 12 KR 3/98 vom 08.10.1998, wonach die Öffnung einer BKK kein Sonderkündigungsrecht vermittele. § 175 Abs. 5 SGB V beziehe sich nur auf die Errichtung, nicht auch auf die Öffnung von Betriebskrankenkassen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 01.09.1999 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin und die Beigeladene zu 1) beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Zwar sei das Sonderkündigungsrecht möglicherweise ursprünglich auf die reine Errichtung einer BKK zugeschnitten, differenziere aber nach seinem Wortlaut nicht. Das mache auch Sinn, denn wenn eine BKK von vornherein geöffnet sei, solle es ihr ermöglicht werden, sich durch die Öffnung auch außerhalb ihres Einzugsbereichs Mitglieder zu verschaffen, um wirtschaftlich arbeiten zu können. Die Klägerin und Beigeladene zu 1) hätten sich zudem auf die Auskunft des Bundesversicherungsamtes aus 1996 verlassen dürfen, wonach das Sonderkündigungsrecht im vorliegenden Fall gelte. Die Entscheidung des BSG vom 08.10.1998 sei auf den vorliegenden Fall nicht über tragbar, weil dort die BKK nicht geöffnet gewesen sei.

Der Beigeladene zu 2) hat keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung hat Erfolg. Die gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Klage ist unbegründet. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist die Klägerin am 01.04.1998 nicht Mitglied der BKK Spar geworden, weil ihr zu die sem Zeitpunkt kein Wahlrecht zugunsten der BKK Spar zustand.

Ein allgemeines Wahlrecht, das der Klägerin einen Kassenwechsel zum 1.4.1998 erlaubt hätte, bestand nicht. Die allgemeinen Wahlrechte der Krankenkassenmitglieder ergeben sich aus § 173 Abs. 2 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach können u.a. Versicherungspflichtige eine BKK wählen, wenn sie in dem Betrieb beschäftigt sind, für den die BKK besteht (§ 173 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB V) oder wenn die Satzung der BKK dies vorsieht (Nr. 4). Nr. 3 greift nicht ein, denn die Klägerin ist nicht bei dem Unternehmen Spar, sondern bei dem organisatorisch unabhängigen Lebensmitteleinzelhandel ihres Ehemannes beschäftigt. Hingegen trifft Nr. 4 zu, denn nach § 1 der Satzung ist die BKK Spar für das gesamte Bundesgebiet geöffnet. Ein Wechsel in der Mitglied schaft war nach dieser Vorschrift für Pflichtversicherte wie die Klägerin allerdings grundsätzlich nur mit drei Monaten Kündigungs frist zum Jahresende, also nicht zum 01.04.1998 möglich (§ 175 Abs. 4 Satz 2 SGB V).

Ein Sonderkündigungsrecht ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist bestand für die Klägerin nicht. Ohne Einhaltung der Frist können nach der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 175 Abs. 4 S. 2 SGB V Versicherungspflichtige die Krankenkasse wech seln, wenn sie durch Errichtung oder Ausdehnung einer BKK oder IKK oder durch betriebliche Veränderungen Mitglied einer BKK oder IKK werden können, wenn sie die Wahl innerhalb von zwei Wochen nach der Errichtung, Ausdehnung oder betrieblichen Veränderung ausüben (§ 175 Abs. 5 SGB V). Zwar ist die Zweiwochenfrist eingehalten. Der Ausnahmetatbestand greift aber nicht ein. Das Sonderkündi gungsrecht wegen der Errichtung einer BKK nach § 175 Abs. 5 SGB V steht nur den Versicherungspflichtigen zu, die in Betrieben beschäftigt sind, für deren Angehörige diese BKK nunmehr wählbar ist (so für den parallelen Fall einer Pflichtversicherten, die das Wahlrecht nach § 173 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SGB V zugunsten der Krankenkasse des Ehegatten ausüben wollte, der Mitglied einer neu errichteten BKK war: BSG, Urteil vom 08.10.1998, B 12 KR 3/98 R; a.A.: LSG SH, Urteil vom 02.09.1997, NZS 1999, 86). Das gilt auch für das Wahlrecht nach § 173 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 im Falle der Öffnung einer BKK (so ausdrücklich BSG, aaO.). Der Umkehrschluss aus § 175 Abs. 5 SGB V ergibt, dass grundsätzlich eine Bindung an die bisherige Krankenkasse besteht. Wenn Zweck des § 175 Abs. 5 SGB V ist, durch Zulassung der sofortigen Wahl die Funktionsfähigkeit der neu errichteten BKK zu sichern, kann daraus noch nicht geschlossen werden, die vorzeitige Ausübung des Wahlrechts müsse auch für andere als die im Betrieb Beschäftigten und damit unmittelbar beitrittsberechtigten Versicherungspflichtigen gelten. Nur diesen räumt § 175 Abs. 5 SGB V ein sofortiges Wahlrecht ein. Es besteht kein Anlass, weiteren Gruppen die vorzeitige Ausübung des Wahlrechts zu gestatten (BSG a.a.O.).

Für die gegenteilige Auffassung des Sozialgerichts läßt sich neben dem für beide Auslegungen offenen Wortlaut des § 175 Abs 5 SGB 5 anführen, dass die Erstellung der Satzung der BKK zur Errichtung der BKK gehört (§ 148 Abs. 3 SGB V), so dass bei einer Öffnung von Anbeginn an durchaus argumentiert werden kann, dass auch Betriebsfremde "durch die Errichtung" der BKK deren Mitglieder werden kön nen. Die Gesetzesbegründung gibt insoweit keinen weiteren Aufschluss: Zu § 175 Abs. 5 SGB V heißt es dort nur, die Vorschrift ermögliche einen kurzfristigen Wechsel zu einer neu gegründeten BKK (Bundestags-Drucksache 12/3608, S. 113). Gegen eine weite Auslegung des Sonderkündigungsrechts spricht jedoch, dass die Errichtung einer BKK auch nach Einführung des Wahlrechts und der Öffnungsmöglichkeit zunächst eine betriebsbezogene Angelegenheit ist, die auf Anstoß des Arbeitgebers erfolgt und der Zustimmung der Betriebsangehörigen bedarf (§ 148 SGB V), deren Zahl auch dafür aus schlaggebend ist, ob überhaupt eine BKK errichtet werden darf (§ 147 SGB V). Eine ähnliche Interessenlage besteht bei den IKK.

Diese Besonderheit, verbunden mit der Erwägung, dass das Sonderkündigungsrecht andererseits einen Eingriff in den Wettbewerb unter den Krankenkassen darstellt, legt es nahe, bei der Auslegung von § 175 Abs. 5 SGB V zwischen den insoweit gegenläufigen Interessen der neuen und alten Kasse abzuwägen, mit dem Ergebnis, dass der neu geschaffenen Solidargemeinschaft der Betriebsangehörigen der sofortige Beitritt zu "ihrer" BKK zu ermöglichen ist, während kein Grund besteht, den neuen Konkurrenten auf dem freien Krankenkassenmarkt im Wettbewerb außerhalb des Betriebs zu begünstigen.

Dass der Zweck des Sonderkündigungsrechts ein allgemeiner Wettbewerbsschutz für die neu errichtete BKK zur Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit sein soll, ist den Materialien zu § 175 Abs. 5 SGB V nicht zu entnehmen. Das BSG (aaO.) bezweifelt dies mit Recht, da die Tatbestandsvoraussetzungen "Ausdehnung" und "betriebliche Veränderung" auch bei bereits funktionierenden Betriebskrankenkassen ein Sonderkündigungsrecht einräumen. Hieraus und aus der Tatsache, dass ein Sonderkündigungsrecht für eine nach Errichtung der Betriebskrankenkasse erfolgte regionale Öffnung in § 175 Abs. 5 SGB V fehlt, lässt sich eher entnehmen, dass eigentlicher Anlass des Sonderkündigungsrechts die Betriebsbindung ist. Dann ist aber die restriktive Auslegung des Sonderkündigungsrechts durch das BSG (aaO.), der sich auch die Literatur wohl überwiegend angeschlossen hat (Kasseler Kommentar/Peters, Rdnr. 34 zu § 175 SGB V; Hauck/ Hauck SGB V, Rdnr. 16 zu § 175 Fn. 20; Krauskopf/ Baier, Rdnr. 31 zu § 175 SGB V; a.A. Dalichau/Grüner, GStrG, Anm. III zu § 175 SGB V), auf Fälle der vorliegenden Art zu übertragen.

Vertrauensschutzgesichtspunkte führen nicht zu einem anderen Ergebnis. Die von der Klägerin vorgelegten Schreiben des BVA beziehen sich lediglich auf dessen Aufsichtstätigkeit und begründen keinen Vertrauensschutztatbestand zugunsten der Klägerin.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er der Streitsache grundsätzliche Bedeutung beimisst.
Rechtskraft
Aus
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