L 16 KR 243/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 27 RA 203/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 16 KR 243/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 JR 24/02 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 04. September 2001 geändert. Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Nachforderung von Beiträgen zur Rentenversicherung.

Die klagende Steuerberaterin führte ihre Kanzlei bis 31.12.1998 als Sozietät ... und ... Sie beschäftigte seit 1993 die Beigeladene, eine seit dem Wintersemester 1992/93 an der Bergischen Universität Gesamthochschule Wuppertal im Studiengang Wirtschaftswissenschaft eingeschriebene Studentin.

Bei der am 13.03.2000 im Büro der Klägerin nach § 28 p Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV) durchgeführten Betriebsprüfung stellte die Beklagte fest, für die Beigeladene habe im Prüfungszeitraum (01.12.1995 bis 31.12.1999) Beitragspflicht zur Rentenversicherung bestanden. Die Beklagte forderte mit dem angefochtenen Bescheid vom 29.03.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.08.2000 (ergangen auf den Widerspruch der Klägerin vom 10.04.2000) für die Zeit vom 01.09.1997 bis 31.02.1998 und vom 01.06. bis 31.12.1999 Beiträge zur Rentenversicherung in Höhe von insgesamt DM 3.617,00 nach. Die Beigelade ne habe vor dem 30.09.1996 eine geringfügige Beschäftigung ausgeübt, die unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) rentenversicherungsfrei gewesen sei; erstmals am 01.09.1997 sei die Geringfügigkeitsgrenze überschritten worden.

Die Übergangsregelung des § 230 Abs. 4 Satz 1 SGB IV finde deshalb auf sie keine Anwendung. Für Studenten, die am Stichtag des 30.09.1996 eine geringfügige Beschäftigung ausgeübt haben, ergebe sich keine Änderung in den Verhältnissen. Trete die Versicherungspflicht erst zu einem späteren Zeitpunkt durch Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenzen des § 8 SGB IV ein, sei die Anwendung der Übergangsregelung nicht gerechtfertigt.

Hiergegen hat die Klägerin am 01.09.2000 Klage erhoben. Sie habe die Beigeladene seit September 1993 regelmässig als studentische Hilfskraft beschäftigt, weswegen durchgehend Versicherungsfreiheit nach dem früheren § 5 Abs. 3 SGB VI bestanden habe. Deshalb komme die Übergangsvorschrift des § 230 Abs. 4 SGB VI zur Anwendung. Diese Norm unterscheide nicht zwischen einer Versicherungsfreiheit als Student oder wegen geringfügiger Beschäftigung. Vorausgesetzt werde lediglich, dass die betreffende Person am Stichtag als Studierende versicherungsfrei gewesen sei. Unabhängig davon habe die nur geringfügige Einsetzbarkeit der Beigeladenen in deren gesundheitlichen Verhältnissen ihre Ursache gehabt. Es habe sich zu keinem Zeitpunkt um ein Geringfügigkeits-Beschäftigungsverhältnis gehandelt und sei auch vertraglich nicht so deklariert worden.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid vom 29.03.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.2000 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat an ihrer bislang vertretenen Auffassung festgehalten. Bereits aus dem Wortlaut des § 230 Abs. 4 SGB VI ergebe sich, dass nur die Personen, die am Stichtag in einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit als ordentliche Studierende einer Fach- oder Hochschule versicherungsfrei gewesen seien, in dieser auch versicherungsfrei bleiben sollten. Die Versicherungsfreiheit von Personen, die eine geringfügige Beschäftigung oder geringfügige selbständige Tätigkeit ausüben, nach § 5 Abs. 2 SGB VI habe auch nach dem Stichtag weiter bestanden. Einer Übergangsregelung zur Besitzstandswahrung für diesen Personenkreis habe es deshalb nicht bedurft. Ab 01.10.1996 habe für alle beschäftigten Studenten die Vorschrift des § 8 SGB IV Anwendung gefunden. Ob die Beigeladene bei der Klägerin als studentische Hilfskraft geführt worden sei, sei deshalb für die versicherungsrechtliche Beurteilung ohne Belang.

Mit Urteil vom 04.09.2001 hat das Sozialgericht antragsgemäss die angefochtenen Bescheide aufgehoben und der Beklagten die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auferlegt. Die Beklagte wende zu Unrecht § 230 Abs. 4 SGB VI nicht auf die Beigeladene an. Maßgebend sei nämlich der Wortlaut dieser Norm. Ihm sei nicht zu entnehmen, dass geringfügig beschäftigte Studenten ausgenommen sein sollten. Die Versicherungsfreiheit ordentlicher Studierender habe neben der Versicherungsfreiheit geringfügig Beschäftigter gestanden. Zwar sei die Versicherungsfreiheit nach § 5 Abs. 3 SGB VI a.F. erst tatsächlich relevant geworden, wenn die Geringfügigkeitsgrenze überschritten gewesen sei. Die Versicherungsfreiheit geringfügig beschäftigter Studenten habe sich jedoch bis zu Gesetzesänderung sowohl aus der bis dahin geltenden Fassung des § 5 Abs. 3 als auch der Regelung des § 5 Abs. 2 SGB VI ergeben.

Gegen dieses ihr am 09.10.2001 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 05.11.2001 Berufung eingelegt. Die Auffassung des Sozialgerichts finde weder im Wortlaut der Übergangsvorschrift noch in der Gesetzessystematik eine Stütze. Die Versicherungsfreiheit ordentlicher Studierender habe nicht "neben" der Versicherungsfreiheit geringfügig Beschäftigter gestanden. Die Versicherungsfreiheit ordentlicher Studierender nach § 5 Abs. 3 SGB VI a.F. sei vielmehr erst dann relevant geworden, wenn diese nicht bereits nach § 5 Abs. 2 SGB VI wegen Geringfügigkeit versicherungsfrei gewesen seien. Nach der amtlichen Begründung zum Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25.09.1996 (WFG-BT-Drucks. 1/4610) enthalte die Ergänzung des § 230 SGB VI eine Übergangsregelung mit Vertrauensschutz für Werkstudenten, die früher aufgrund des § 5 Abs. 3 SGB VI versicherungsfrei gewesen seien. § 230 Abs. 4 SGB VI finde jedoch keine Anwendung, wenn die Beschäftigten bereits aus anderen Gründen versicherungsfrei oder versicherungsbefreit gewesen sei en. Diese Auffassung werde auch vom Sozialgericht Gießen in dessen Urteil vom 06.06.2001 - S 20 KR 531/01 vertreten. In dieser Entscheidung werde hervorgehoben, dass der Gesetzgeber mit Wirkung ab 01.10.1996 die Versicherungsfreiheit von Studenten in mehr als geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen generell beseitigt habe. Es sei kein Grund erkennbar, weshalb die Übergangsvorschrift hiervon bisher geringfügig beschäftigte Studenten ausnehmen sollte, die nach dem Stichtag ihr geringfügiges Beschäftigungsverhältnis ausweiten. Eine Fortdauer der Versicherungsfreiheit für diesen Personenkreis wäre offensichtlich gleichheitswidrig.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 04.09.2001 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält dem gegenüber das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Der Sachverhalt der Gießener Entscheidung weiche vom vorliegenden ab, da es sich dort um studentische Hilfskräfte gehandelt habe, die zunächst eindeutig geringfügig beschäftigt gewesen seien und danach eine höherwertig dotierte Tätigkeit ausgeübt hätten.

Die Verwaltungsakte der Beklagten hat neben der Prozessakte vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Akten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 29.03.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.08.2000 ist rechtmäßig. Die Klägerin ist verpflichtet, für die Zeit vom 01.09.1997 bis 31.02.1998 und vom 01.06. bis 31.12.1999 für die Beigeladene Beiträge zur Rentenversicherung in Höhe von insgesamt DM 3.617 = Euro 1.849,34 nachzuzahlen. Nach Auffassung des Senats kommt vorliegend die Übergangsvorschrift des § 230 Abs. 4 Satz 1 SGB VI in der Fassung des Art. 1 Nr. 26 des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes (WFG) vom 25.09.1996, BGBl. I, 1461) nicht zur Anwendung.

Die Besitzstandsregelung des § 230 Abs. 4 Satz 1 SGB VI gilt nicht für Studenten, die vor dem 01.10.1996 eine geringfügige Beschäftigung i.S.d. § 8 SGB IV aufgenommen haben und diese danach in eine mehr als geringfügige Beschäftigung umwandeln (so die Auffassung der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger in deren Gemeinsamen Rundschreiben vom 01.10.1996, abgedruckt in Die Beiträge 1997, S. 57, 59; Zweng/Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, Stand Oktober 2001, § 230 SGB VI Rdz. 6a und b; Klattenhoff in Hauck/Haines, SGB VI, Stand Juli 2002, § 230 Rdz. 29).

Nach § 230 Abs. 4 Satz 1 SGB VI bleiben Personen, die am 01. Oktober 1996 in einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit als ordentliche Studierende einer Fachschule oder Hochschule versicherungsfrei waren, in dieser Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit versicherungsfrei. Der Klägerin ist zuzugeben, dass der Wortlaut dieser Besitzstandsregelung lediglich darauf abstellt, dass die Betreffenden am Stichtag in einer Tätigkeit als ordentliche Studierende versicherungsfrei waren. Es trifft auch zu, dass ordentlich Studierende allein deshalb schon versicherungsfrei gewesen sein können, wenn sie eine geringfügige selbständige Tätigkeit i.S.d. § 8 Abs. 3 SGB IV vor der Gesetzesänderung ausgeübt haben.

Aus der Historie und dem Sinn und Zweck der Übergangsvorschrift ergibt sich jedoch, dass sie nur Studenten erfasst, die am 30.09.1996 in einem an sich versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnis gestanden haben und nur aufgrund des sog. Werkstudenten-Privilegs nach § 5 Abs. 3 SGB VI in der bis 30.09.1996 geltenden Fassung versicherungsfrei gewesen sind.

Durch Art. 1 Nr. 2 WFG wurde die Vorschrift des § 5 Abs. 3 SGB VI über die Rentenversicherungsfreiheit der von Studenten ausgeübten Beschäftigung aufgehoben und zwar gemäß Art. 12 Abs. 5 WFG mit Wirkung vom 01. Oktober 1996. Hieraus wird deutlich, dass der Gesetzgeber den Fortbestand der Rentenversicherungsfreiheit in § 230 Abs. 4 Satz 1 SGB VI im Zusammenhang mit dem Wegfall der Versicherungsfreiheit von Werkstudenten geregelt hat. Die Versicherungsfreiheit aller Personen, die eine geringfügige Beschäftigung oder geringfügige selbständige Tätigkeit ausüben, blieb zum damaligen Zeitpunkt un verändert bestehen. Dementsprechend knüpft die Übergangsvorschrift auch an den Stichtag des 30.09.1996 an (soweit das Gesetz auf den 01.10.1996 abstellt, handelt es sich um ein offensichtliches gesetzgeberisches Versehen, da § 5 Abs. 3 SGB VI bereits mit Ablauf des 30.09.1996 außer Kraft getreten ist). Der Sinn und Zweck einer gesetzlichen Übergangsregelung liegt in der Wahrung einer zuvor vom Gesetz eingeräumten für den Bürger günstigen Position und dem Schutz seines Vertrauens in diesen "Besitzstand". Schutzbedürftig in diesem Sinne waren Studenten, die zum Stichtag in einem an sich versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis standen und dieses über diesen Zeitpunkt hinaus fortführen wollten. Studenten, die am Stichtag nur eine geringfügige Beschäftigung i.S.d. § 8 SGB IV ausübten, blieben über den 30.09.1996 hinaus versicherungsfrei. Mit der Gesetzesänderung wurde in ihre rechtliche Position und ihr Vertrauen auf den Fortbestand dieses Rechtszustandes in keiner Weise eingegriffen. Eine Aufstockung der geringfügigen Beschäftigung in eine mehr als geringfügige Beschäftigung nach dem Stichtag erfolgte unter Geltung aktuellen neuen Rechtszustandes und ermögliche dementsprechend Dispositionen in Kenntnis dieser Rechtslage.

Zur Überzeugung des Senats ist die Beigeladene zudem bis zum Stichtag des 30.09.1996 geringfügig i.S.d. § 8 SGB IV beschäftigt gewesen. Denn die vorgelegten Lohnkonten belegen einwandfrei, dass das Arbeitseinkommen im Prüfungszeitraum bis zum Stichtag die Geringfügigkeitsgrenze nicht überschritten hat - diese wurde erstmals im September 1997 und damit ca. ein Jahr nach der Stichtagsregelung überschritten -. Die Klägerin hat auch nicht vorgebracht, dass mündlich eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 15 Stunden vereinbart gewesen sei; ein schriftlicher Arbeitsvertrag hat nach ihren Aussagen mit keinem ihrer Mitarbeiter bestanden. Aus der Höhe des gezahlten monatlichen Arbeitsentgelts ist zu schließen, dass die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit nicht mehr als 15 Stunden, das sind 65 Stunden pro Monat, betragen haben kann. Der Vortrag der Klägerin, die Beschäftigung sei faktisch nur geringfügig gewesen, da die Beigeladene aus Krankheitsgründen gehindert gewesen sei, eine höhere Stundenzeit zu absolvieren, überzeugt darüber hinaus nicht. Die in Auszügen vorgelegten Arztunterlagen belegen für die Jahre 1995 und 1996 nur tageweise bzw. kurzzeitige Krankenhausaufenthalte (18. bis 24.01.1995, 23. bis 26.05.1995, 26. bis 28.03.1996 und 20.05. bis 13.06.1996). Die Tatsache, dass durchgehend jeden Monat Arbeitsentgelt gezahlt wurde, spricht ebenfalls dafür, dass die Beigeladene nicht an einer derartig schwerwiegenden Krankheit gelitten hat, dass ihre Arbeitsfähigkeit für die Schreibtischtätigkeit im Steuerberatungsbüro über längere Zeiträume derart eingeschränkt gewesen wäre.

Die Berechnung und die festgesetzte Höhe des Nachforderungsbetrages ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.

Das Urteil des Sozialgerichts vom 04.09.2001 ist zu ändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen, da der Senat der Rechtsfrage, ob § 240 Abs. 4 Satz 1 SGB VI auch auf Studenten Anwendung findet, die am 30.09.1996 aufgrund einer geringfügigen Beschäftigung gemäß § 5 Abs. 2 SGB VI versicherungsfrei gewesen sind, Anwendung findet, grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 160 Abs. 2 Ziff. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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