L 6 VG 76/96

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 23 (19) V 303/93
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 VG 76/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 02.09.1996 abgeändert und die Klage abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist, ob dem Kläger Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz - OEG - zustehen.

Der 1962 geborene Kläger besuchte am 29.07.1991 die Gaststätte "Zum K." in D. Anwesend war u.a. auch der 1963 geborene K. B. (KB), ein Arbeitskollege des Klägers.

Kurz nach Mitternacht wurde der Kläger durch einen Schlag des KB verletzt. Die Einzelheiten des Geschehensablaufs werden vom Kläger und von KB unterschiedlich dargestellt.

Der Kläger wurde mit einem Krankenwagen zunächst ins St ...-Krankenhaus in D ... gebracht und von dort ins K ... R ... überwiesen (Aufnahme am frühen Morgen des 30.07.1991). Hier wurde er bis zum 09.08.1991 stationär behandelt. Es wurde eine Jochbein- und Orbitabodenfraktur diagnostiziert, die operativ behandelt wurde.

KB suchte am 30.07.1991 das St. V ...-Krankenhaus in D ... auf und gab an, bereits am Vortag im Rahmen einer Schlägerei verletzt worden zu sein. Wegen der anamnestischen und diskreten klinischen Hinweise auf ein stumpfes Bauchtrauma sowie eine Commotio cerebri (Gehirnerschütterung) wurde er stationär zur neurologischen und klinischen Überwachung aufgenommen und am 01.08.1991 entlassen.

Am 12.08.1991 erstattete der Kläger Strafanzeige gegen KB wegen Körperverletzung. Er trug vor, er habe am Abend des 29.07.1991 in der Gaststätte "Zum K." in D. KB getroffen. Man habe gemeinsam "einige Glas Bier" getrunken. Kurz nach Mitternacht habe er neben KB am Tresen gesessen. Ohne Grund und ohne Vorwarnung habe KB ihm ins Gesicht geschlagen.

KB gab im Ermittlungsverfahren an, man habe zusammen in der Gaststätte Bier getrunken. Später habe man sich gegenseitig beschimpft und beleidigt. Plötzlich habe der Kläger auf ihn eingeschlagen und zwar zunächst in den Magen und dann vor die Stirn. Daraufhin habe er seinerseits den Kläger zu Boden geschlagen.

Die Staatsanwaltschaft Bochum - Az.: 55 Js 1664/91 - stellte das Verfahren am 25.09.1991 ein mit der Begründung, dass die Strafverfolgung nicht in öffentlichem Interesse liege, weil es sich um eine Auseinandersetzung zwischen Bekannten in einer Gaststätte gehandelt habe.

Auf die vom Kläger gegen KB erhobene Klage hin verurteilte das Landgericht Bochum - Az.: 1 O 348/92 - KB, an den Kläger Schadensersatz einschließlich Schmerzensgeld zu zahlen. In den Entscheidungsgründen ist im wesentlichen ausgeführt, dass KB für die behauptete Notwehrsituation die volle Darlegungs- und Beweislast trage und er hierfür keinen Beweis angeboten habe.

Im August 1991 beantragte der Kläger auf Veranlassung der Beigeladenen, ihm Leistungen nach dem OEG zu gewähren. Zur Begründung seines Antrags reichte er u.a. Ablichtungen seiner Strafanzeige vom 08.08.1991 sowie des Urteils des Landgerichts Bochum vom 20.08.1992 (Niederschrift und Tenor) ein.

Nach Beiziehung der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Bochum lehnte es der Beklagte ab, dem Kläger Leistungen nach dem OEG zu gewähren. Zur Begründung führte er im wesentlichen aus, dass ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff nicht nachgewiesen sei. Der Verlauf der Auseinandersetzung sei nicht mehr vollständig aufzuklären. Es sei nicht auszuschließen, dass KB in Notwehr gehandelt habe (Bescheid vom 10.12.1992 und Widerspruchsbescheid vom 17.06.1993).

Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger weiterhin begehrt, ihm Leistungen nach dem OEG zu gewähren. Zur Begründung hat er im wesentlichen seine anlässlich der Strafanzeige und des Verfahrens vor dem Landgericht Bochum gemachten Angaben wiederholt und vertieft. Er hat weiterhin behauptet, dass er keinerlei Anlass für den Angriff des KB gegeben habe. Er sei ohne Vorwarnung von KB angegriffen und niedergeschlagen worden. Er selbst habe KB nicht geschlagen. Unter Hinweis auf das Urteil des Landgerichts Bochum vom 20.08.1992 hat er die Auffassung vertreten, für eine etwaige Notwehrsituation des KB sei der Beklagte wie auch für die Ausschließungsgründe gemäß § 2 OEG beweispflichtig.

Der Kläger hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 13.05.1992 ud 10.12.1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.06.1993 zu verurteilen, dem Kläger wegen der Folgen des schädigenden Ereignisses vom 29./30.07.1991 gemäß dem mit Datum vom 27.05.1992 gestellten Antrag Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene hat sich dem Antrag des Klägers angeschlossen.

Der Beklagte hat gemeint, dass sich der Kläger nicht auf das im Zivilverfahren ergangene Urteil berufen könne. Dort habe KB die Notwehrsituation beweisen müssen. Hingegen habe der Kläger im Sozialgerichtsverfahren alle Anspruchsvoraussetzungen, mithin auch die Rechtswidrigkeit des Angriffs nachzuweisen. Es sei nicht auszuschließen, dass KB tatsächlich in Notwehr gehandelt habe.

Das Sozialgericht hat vom St. V ...-Krankenhaus D ... einen Behandlungsbericht über die stationäre Behandlung des KB vom 30.07. bis zum 01.08.1991 beigezogen. Über die Umstände, die zum Niederschlag des Klägers geführt haben, ist Beweis erhoben worden durch Vernehmung des Zeugen K. A. im Termin am 19.06.1996. In diesem Termin sind der Kläger und der in erster Instanz beigeladene KB angehört worden.

Mit Urteil vom 02.09.1996 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des schädigenden Ereignisses vom 29./30.07.1991 Versorgung zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass es sich zwar nicht habe klären lassen, ob der Angriff des KB rechtswidrig oder durch Notwehr gerechtfertigt gewesen sei. Für das Vorliegen einer Notwehrsituation trage aber der Beklagte die Beweislast.

Gegen dieses ihm am 15.10.1996 zugestellte Urteil richtet sich die am 07.11.1996 eingegangene Berufung des Beklagten. Der Beklagte hält den geltend gemachten Versorgungsanspruch weiterhin für nicht gegeben, weil die Rechtswidrigkeit des tätlichen Angriffs des KB nicht nachgewiesen sei. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sei er nicht beweispflichtig dafür, dass KB in Notwehr gehandelt habe. Vielmehr trage der Kläger die Beweislast dafür, dass der Angriff rechtswidrig gewesen sei.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 02.09.1996 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beigeladene schließt sich dem Antrag des Klägers an. Der Kläger hält - wie auch die Beigeladene - das angefochtene Urteil für zutreffend.

Im Berufungsverfahren sind die Krankenunterlagen des St. V ...-Krankenhauses D ... (Behandlung des KB) und des K ... R ... (Behandlung des Klägers) beigezogen worden.

Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung und bezüglich des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf die Inhalte der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte des Beklagten sowie der beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft Bochum - Az.: 55 Js 1664/91 - und des Landgerichts Bochum - Az.: 1 O 348/92 - Bezug genommen. Die Inhalte dieser Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.

Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, dem Kläger Leistungen nach dem OEG zu gewähren.

Versorgung nach dem OEG erhält u.a., wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG.

Die hiernach erforderlichen Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Anspruchsvoraussetzung Rechtswidrigkeit des vorsätzlichen tätlichen Angriffs ist - wovon das Sozialgericht zutreffend ausgegangen ist - auch zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts trägt der Beklagte nicht die Beweislast dafür, dass der tätliche Angriff des KB auf den Kläger durch Notwehr gerechtfertigt war. Vielmehr ist der Kläger für sämtliche anspruchsbegründenden Tatsachen, also auch für die Rechtswidrigkeit des Angriffs, beweispflichtig.

Ebenso wie allgemein im Sozialrecht müssen auch für eine soziale Entschädigung nach dem OEG die anspruchsbegründenden Tatsachen nachgewiesen sein, also ohne vernünftige Zweifel oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen. Fehlt es daran, geht dies zu Lasten des Klägers (objektive Beweis- oder Feststellungslast).

Die in Verfahren nach dem OEG häufig auftretenden Beweisschwierigkeiten - z.B. dadurch, dass die Tat ohne Zeugen geschieht - rechtfertigen keine generelle Beweiserleichterung oder gar eine Beweislastumkehr. Vielmehr gelten auch hier die allgemein anerkannten Beweisgrundsätze (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. u.a. BSG vom 06.09.1989 - 9 RVg 4/88 -; BSG vom 22.06.1988 - 9/9a RVg 3/87 = SozR 1500 § 128 Nr. 34; vom 22.06.1988 - 9/9a BVg 4/87 = SozR 1500 § 128 Nr. 35; vom 31.05.1989 - 9 RVg 3/89).

Zu diesen allgemein anerkannten Beweisgrundsätzen zählen auch die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins (u.a. BSG vom 22.06.1988 a.a.O.; vgl. auch Urteil vom 04.02.1998 B 9 VG 5/96 R) sowie die für Kriegsopfer geschaffene besondere Beweiserleichterung nach § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung - KOVVerfG -, die auch für Gewaltopfer gilt (BSG vom 31.05.1989 RVg 3/89 = Breithaupt 1990, 157f).

Unter Würdigung aller Umstände lässt es sich nicht nachweisen, dass der vorsätzliche tätliche Angriff des KB auf den Kläger auch rechtswidrig gewesen ist. Vielmehr ist es ebenso gut möglich, dass der Rechtfertigungsgrund der Notwehr vorgelegen hat. Notwehr schließt aber eine Rechtswidrigkeit im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus.

Da keine Zeugen bekannt sind, die den eigentlichen Tathergang beobachtet haben, lässt es sich nicht feststellen, ob die vom Kläger oder die von KB geschilderten Geschehensabläufe zutreffend sind. Unter Berücksichtigung der Einlassungen des KB im Rahmen des Ermittlungsverfahrens und des Zivilprozesses vor dem Landgericht Bochum - die der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet - sowie seiner Einlassungen vor dem Sozialgericht kann der tätliche Angriff des KB durch Notwehr gerechtfertigt gewesen sein. Notwehr beurteilt sich auch im Verfahren nach dem OEG, nach den Rechtsmaßstäben, die zur Notwehr in § 32 Strafgesetzbuch und auch in § 227 Bürgerliches Gesetzbuch im Gesetz festgelegt und ergänzend durch die Rechtsprechung entwickelt worden sind (vgl. BSGE 60, 147-154). Unter Berücksichtigung dieser Rechtsmaßstäbe war der Angriff nach dem von KB geschilderten Tatgeschehen durch Notwehr gerechtfertigt. Wenn KB tatsächlich zuerst vom Kläger vor den Kopf und in die Magengegend geschlagen worden ist, durfte er sich seinerseits durch Faustschläge zur Wehr setzen. Durchgreifende Hinweise für einen etwaigen Notwehrexzess finden sich nicht. Demgegenüber handelte es sich unter Zugrundelegung der Darstellung des Klägers ohne Zweifel um einen rechtswidrigen Angriff.

Welche dieser sich widersprechenden Tatsachenschilderungen zutreffend ist, lässt sich nicht klären. Objektive Anhaltspunkte, die geeignet wären, sich von der Richtigkeit der einen oder der anderen Darstellung zu überzeugen, sind nicht erkennbar. Allerdings sind die Gesamtumstände eher geeignet, die Behauptung des Klägers, er sei - ohne dass es vorher zum Streit gekommen sei - plötzlich niedergeschlagen worden und habe selbst nicht geschlagen, in Frage zu stellen. Gegen die Darstellung des Klägers spricht zunächst die Aussage des K. A., der zwar die eigentliche Auseinandersetzung nicht beobachtet, aber gesehen hat, dass beide Kontrahenten am Boden gelegen haben und dass beide verletzt gewesen sind. Hiermit ist die Angabe des Klägers, selbst nicht geschlagen zu haben, nicht in Einklang zu bringen. Dies gilt umso mehr, als Verletzungen des KB - wenn auch leichterer Art - durch die Krankenunterlagen des St. V ...-Krankenhauses D ... bestätigt werden. Zwar beweisen diese Unterlagen nicht, dass KB tatsächlich vom Kläger geschlagen worden ist, angesichts der Gesamtumstände spricht aber einiges dafür, dass KB sich die am nächsten Tag im Krankenhaus festgestellten Verletzungen anlässlich der Auseinandersetzung mit dem Kläger zugezogen hat. Auch die vom Kläger selbst bei der Anamneseerhebung im Knappschaftskrankenhaus Recklinghausen gemachten Angaben, er sei in eine Schlägerei verwickelt gewesen, sprechen eher gegen seine Darstellung des Tathergangs. Denn wenn man plötzlich grundlos niedergeschlagen wird, kann kaum die Rede davon sein, in eine Schlägerei verwickelt gewesen zu sein.

Insgesamt bleibt es unter Würdigung aller Umstände offen, ob der vorsätzliche tätliche Angriff rechtswidrig oder durch Notwehr gerechtfertigt gewesen ist. Die Beweiserleichterung des § 15 KOVVerfG - wonach auch die Angaben des Klägers zur Annahme der anspruchsbegründenden Tatsachen ausreichen können, wenn sie den Umständen nach glaubhaft sind (BSG vom 31.05.1989 a.a.O.) - rechtfertigt keine für den Kläger günstigere Beurteilung. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob § 15 KOVVerfG bei der hier gegebenen Fallkonstellation überhaupt anwendbar ist. Denn jedenfalls können angesichts der unterschiedlichen Darstellungen des Geschehensablaufes sowie der oben erörterten Gesamtumstände die Angaben des Klägers nicht als glaubhaft angesehen werden. Vielmehr ist es ungewiss, ob die Tatsachenschilderung des Klägers oder die des KB zutreffend ist.

Auch die Grundsätze des Anscheinsbeweises (Prima-Facie-Beweis) helfen dem Kläger nicht weiter.

Grundsätzlich indiziert die Verwirklichung eines Unrechtstatbestandes - hier der Körperverletzung - auch dessen Rechtswidrigkeit (vgl. u.a. Bay. LSG in Breithaupt 1986, 523 m.w.N.). Damit ist die Tatbestandsverwirklichung der Körperverletzung zwar ein Indiz für die Rechtswidrigkeit des Angriffs im Sinne eines Anscheinsbeweises. Die hieraus folgende Vermutung der Rechtswidrigkeit des tätlichen Angriffs kann aber wie jeder Anscheinsbeweis durch Umstände entkräftet werden, die einen abweichenden Geschehensablauf als ernsthaft möglich erscheinen lassen und damit die Vermutung zerstören. Dies bedeutet, dass bereits dann, wenn der Rechtfertigungsgrund der Notwehr ernsthaft in Betracht kommt, ein rechtswidriger Angriff auch nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises nicht nachweisbar ist (vgl. Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15.04.1999 - L 6 VG 2776/98 -; Urteile des erkennenden Senats vom 24.11.1998 - L 6 VG 64/96 - sowie vom 08.06.1999 - L 6 VG 64/97).

Unter Würdigung der sich widersprechenden Einlassungen des Klägers und des KB sowie insbesondere unter Berücksichtigung der - wie oben ausgeführt - gegen die Richtigkeit der Darstellung des Klägers sprechenden Umstände kommt hier die ernsthaft Möglichkeit eines Rechtfertigungsgrundes, also ein durch Notwehr gerechtfertigter Angriff, ebenso gut in Betracht, wie ein rechtswidriger Angriff.

Die unter Würdigung aller Umstände verbleibende Ungewissheit, ob der tätliche Angriff des KB rechtswidrig oder durch Notwehr gerechtfertigt gewesen ist, geht nach dem auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast (materielle Beweislast, Feststellungslast) zu Lasten des Klägers. Hiernach trägt jeder die Beweislast für die Tatsachen, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen. Als konstituierendes Tatbestandsmerkmal des geltend gemachten Entschädigungsanspruchs muss hiernach die Rechtswidrigkeit des tätlichen Angriffs nachgewiesen sein.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist demgegenüber der Beklagte nicht dafür beweispflichtig, dass der Angriff des KB durch Notwehr gerechtfertigt war.

Die Tatbestandverwirklichung der Körperverletzung, die Indiz für ihre Rechtswidrigkeit ist, hat nur im Rahmen des oben erörterten Anscheinsbeweises Bedeutung. Sie rechtfertigt es aber nicht, dem Beklagten die Beweislast dafür aufzuerlegen, dass KB in Notwehr gehandelt hat. Zur Entkräftigung des Anscheinsbeweises muss - wie allgemein beim Anscheinsbeweis (vgl. hierzu u.a. Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar, 6. Aufl., § 128 Rdnr. 9 e) - auch hier nicht der volle Gegenbeweis geführt werden (vgl. das o.a. Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15.04.1999 sowie die o.a. Urteile des erkennenden Senats).

Soweit der Beklagte die Beweislast für die Versagensgründe des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG trägt, lässt dies nicht den "Erst-Recht-Schluss" zu, dass der Beklagte - wie das Sozialgericht meint - auch für den Rechtfertigungsgrund der Notwehr beweispflichtig ist. Die Versagensgründe des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG schließen Leistungen auch dann aus, wenn der Entschädigungstatbestand des § 1 OEG erfüllt, also ein vorsätzlicher rechtswidriger tätlicher Angriff nachgewiesen ist. Sie versagen also dem Tatopfer einen grundsätzlich gegebenen Entschädigungsanspruch, so dass es gerechtfertigt ist, dem Beklagten für das Vorliegen der Versagensgründe die Beweislast aufzuerlegen. Demgegenüber berechtigt der Rechtfertigungsgrund der Notwehr den Beklagten nicht, trotz eines zusätzlich bestehenden Anspruchs keine Leistungen zu erbringen. Vielmehr schließt Notwehr bereits die für den Grundanspruch nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erforderliche Anspruchsvoraussetzung der Rechtswidrigkeit aus. Für das Vorliegen des Entschädigungstatbestandes nach § 1 OEG trägt aber das Tatopfer die Beweislast (BSG-Urteil vom 22.06.1988 a.a.O.).

Die Beweislast im Zivilverfahren - vgl. hier das für den Kläger positive Urteil des Landgerichts Bochum vom 20.08.1992 - rechtfertigt keine andere Beurteilung. Zwar muss im Zivilverfahren grundsätzlich derjenige, der sich auf Notwehr beruft und mithin einen rechtshindernden Einwand erhebt, die Voraussetzungen der Notwehr beweisen (vgl. Palandt, BGB - Kommentar, 59. Aufl., § 227 BGB Anm. 6 m.w.N.). Diese Grundsätze lassen sich aber nicht auf das soziale Entschädigungsrecht übertragen. Dem Beklagten kann nicht wie dem Schädiger, der den Tatbestand einer unerlaubten Handlung verwirklicht hat, die Beweislast für einen Rechtfertigungsgrund auferlegt werden. Anders als im Zivilverfahren begründen Rechtfertigungsgründe im sozialen Entschädigungsrecht nach dem OEG keinen rechtshindernden Einwand. Vielmehr schließt der Rechtfertigungsgrund der Notwehr bereits die für einen Entschädigungsanspruch nach § 1 OEG erforderliche anspruchsbegründende Voraussetzung der Rechtswidrigkeit aus.

Wollte man dem Beklagten für den Rechtfertigungsgrund der Notwehr die Beweislast auferlegen, bedeutete dies im Ergebnis für die anspruchsbegründende Tatsache der Rechtswidrigkeit eine Umkehr der Beweislast, die auch unter Berücksichtigung der im OEG-Verfahren häufig auftretenden Beweisschwierigkeiten nicht gerechtfertigt ist und auch mit Sinn und Zweck einer Entschädigung nach dem OEG nicht in Einklang zu bringen ist.

Soziale Entschädigung nach dem OEG wird gewährt, weil die staatliche Gemeinschaft für die Folgen einer Gesundheitsschädigung einsteht, die durch eine Gewalttat verursacht wurde. Die Einstandspflicht des Staates gründet sich darauf, dass er ein Monopol für die Verbrechensbekämpfung hat und deswegen für den Schutz der Bürger vor Schädigung durch kriminelle Handlungen, insbesondere durch Gewalttaten, im Bereich seines Hoheitsgebietes und damit seiner Herrschaftsgewalt verantwortlich ist. Diese Einstandspflicht des Staates setzt aber voraus, dass der Geschädigte tatsächlich Opfer eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden ist die Rechtswidrigkeit des Angriffs also nachgewiesen ist. Würde man der staatlichen Gemeinschaft die Beweislast für das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen auferlegen, hätte dies zur Folge, dass der Staat auch für ein Verhalten einstehen und Entschädigung gewähren müsste, dessen Unrechtscharakter gar nicht feststellbar ist (vgl. das o.a. Urteil des erkennenden Senats vom 24.11.1998).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz - SGG -.

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache insbesondere im Hinblick auf die unterschiedliche Beweislastverteilung im Zivilverfahren und im Verfahren nach dem OEG zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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