L 6 V 2/99

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 4 (10,13) V 181/95
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 V 2/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 22.09.1998 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Bewilligung einer Schwerstbeschädigtenzulage und einer Pflegezulage nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Die am ...1924 geborene in U ... wohnhafte Klägerin beantragte am 18.09.1992 Beschädigtenversorgung nach dem BVG. Die Klägerin ist wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit vom 06.01.1945 bis zum 15.10.1946 in der UdSSR interniert gewesen. Dort wurde sie bei der Arbeit in einer russischen Kohlengrube von einem Kohlenwagen am 05.07.1946 angefahren. Aufgrund dieses Unfalls wurde am 08.07.1946 das rechte Bein der Klägerin im Oberschenkelamputiert. Durch Bescheid vom 01.09.1993 bewilligte das Versorgungsamt M ... der Klägerin eine Beschädigten-Teilversorgungsrente ab 01.09.1992 wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v. H. Als Schädigungsfolge im Sinne von § 1 BVG wurde ein "Verlust des rechten Beines im Oberschenkel mit Kurzstumpf und Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk" anerkannt.

Die Klägerin legte Widerspruch ein. Sie schilderte, dass sie sich seit dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren nicht selbst alleine versorgen könne. Pflegepersonen müssten alles das machen, was sie nicht könne, z. B. Einkaufen, Putzen, Holz sägen und Kohlen aus dem Keller herauftragen. Die Klägerin machte geltend, dass ihr Gesundheitszustand einen Anspruch auf eine Pflegezulage oder auf eine Schwerstbeschädigtenzulage begründe. In einem Schreiben an den Landschaftsverband W ... vom November 1993 gab die Klägerin an, sie könne wegen ihrer Behinderung nur mit Krücken laufen. Ein Bericht über einen stationären Aufenthalt der Klägerin im Krankenhaus D ... im Januar 1993 belegte einen befriedigenden Allgemeinzustand der Klägerin. Sie wurde im Krankenhaus wegen anhaltender Stuhlgangsstörungen, Unterleibsbeschwerden und blutigem Stuhl behandelt und operiert. Diese Erkrankungen der Klägerin führten nicht zu bleibenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen.

Mit zwei Bescheiden vom 10.10.1994 lehnte das Versorgungsamt die Gewährung einer Pflegezulage und einer Schwerstbeschädigtenzulage ab, weil die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Mit Widerspruchsbescheid vom 10.10.1995 wurde der Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen.

Die Klägerin hat am 17.11.1995 Klage erhoben. Sie hat geschildert, dass sie nach der Rückkehr aus der Internierung nach Ungarn ein Pflegefall sei und von Angehörigen unterstützt werden müsse. Seit dem Tode ihres Mannes sei sie alleinstehend. Sie wohne in einem ungarischen Dorf und sei auf fremde Hilfe angewiesen. Ihr Bruder, der 40 km entfernt wohne, komme seit Jahren wöchentlich, um sie zu versorgen und einkaufen zu gehen. Auf Anfrage des Sozialgerichts hat die Klägerin im November 1996 geschildert, bei welchen konkreten Verrichtungen sie ständiger Hilfe bedürfe. Dies war vor allem beim Anziehen, Waschen und Zubettgehen der Fall. Ihre Notdurft konnte sie nach ihren Angaben ohne Hilfe verrichten.

Die Klägerin hat sinngemäß beantragt,

den Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 01.09.1993 in der Fassung der Bescheide vom 10.10.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.10.1995 zu verurteilen, an sie Pflegezulage nach Stufe I und Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe I zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten nach Aktenlage von dem Chirurgen Dr. H ... eingeholt. In seinem Gutachten vom 26.03.1998 bestätigt der Sachverständige die anerkannten Schädigungsfolgen und eine MdE von 80 v. H. Aufgrund der Schädigungsfolgen sei die Klägerin nicht so hilflos, dass sie für gewöhnliche und wieder kehrende Verrichtungen des täglichen Lebens in erheblichem Umfange dauernder Hilfe bedürfe.

Das Sozialgericht Münster hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 26.09.1998 abgewiesen. Der Klägerin stehe eine Schwerstbeschädigtenzulage nach § 31 Abs. 5 BVG nicht zu, weil bei ihr keine schädigungsbedingte MdE von mehr als 90 v. H. bestehe. Anerkannt und zutreffend sei eine MdE von 80 v. H. Ein Anspruch auf eine Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG bestehe nicht, da die Klägerin nicht hilflos im Sinne dieser Vorschrift sei. Die Klägerin habe im wesentlichen hauswirtschaftliche Verrichtungen genannt, die sie nicht ohne fremde Hilfe verrichten könne (z. B. Einkaufen, Essen zubereiten). Dieser Hilfebedarf werde nicht von der Hilflosigkeit im Sinne von § 35 Abs. 1 BVG erfasst.

Gegen den ihr am 30.10.1998 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 14.01.1999 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, dass sie eindeutig ein Pflegefall sei. Im übrigen sei die bisherige Anerkennung von Schädigungsfolgen unzureichend. Aufgrund der ein seitigen Beinamputation sei es bei ihr zu langandauernden und ausgeprägten Fehlbelastungen gekommen mit entsprechenden Folgen für die Gelenke und die Wirbelsäulenstatik. Diese Gesundheitsbeeinträchtigungen seien als zusätzliche Schädigungsfolgen zu berücksichtigen und bedingten eine höhere MdE.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 22.09.1998 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 10.10.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.10.1995 zu verurteilen, ihr eine Pflegezulage und eine Schwerstbeschädigtenzulage nach dem Bundesversorgungsgesetz zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf die von dem erst- und zweitinstanzlichen Gericht jeweils eingeholten Gutachten, die seine Bewertung bestätigen.

Der Senat hat zur Frage der Schädigungsfolgen, der MdE und der Hilflosigkeit der Klägerin ein chirurgisches Gutachten von Prof. Dr. H ... vom K ... der U ... T ... eingeholt. Das Gutachten vom 24.04.2000 beruht auf einer Untersuchung der Klägerin in der Universitätsklinik. Der Sachverständige bestätigt sowohl die anerkannte Schädigungsfolge als auch die festgestellt MdE. Er verneint weitere Schädigungsfolgen. Die Klägerin ist nach der Bewertung des Gutachters zwar hilfsbedürftig, aber nicht hilflos. Der Klägerin habe bisher immer Hilfe zur Verfügung gestanden. Sie könne bestimmte, anlässlich der Untersuchung vermiedene Bewegungen wie z. B. selbständiges Aufrichten und Aufstehen aufgrund der Verletzungsfolgen ohne Hilfe durch führen. Ihr fehle jedoch die Übung darin. Der Klägerin sei das Zurücklegen einer kurzen Gehstrecke an Achselgehstützen möglich.

Wegen des sonstigen Sachverhalts wird auf den übrigen Inhalt der Streitakte und auf die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Ablehnungsbescheide vom 10.10.1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.10.1995 nicht beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf eine Schwerstbeschädigtenzulage noch auf eine Pflegezulage nach dem BVG.

Eine Schwerstbeschädigtenzulage erhalten gemäß § 31 Abs. 5 BVG erwerbsunfähige Beschädigte, die durch die anerkannten Schädigungsfolgen gesundheitlich außergewöhnlich betroffen sind. Gemäß § 31 Abs. 3 Satz 2 BVG gilt als erwerbsunfähig, wer in seiner Erwerbsfähigkeit um mehr als 90 v.H. beeinträchtigt ist. Dies ist bei der Klägerin nicht der Fall. Bei ihr ist zutreffend eine MdE von 80 festgestellt worden. Dies steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats fest.

Der Gutachter Prof. Dr. H ... hat aufgrund seiner Untersuchung der Klägerin als Schädigungsfolge nur die bereits anerkannte Oberschenkelamputation rechts angegeben. Sekundärschäden infolge der Oberschenkelamputation waren nicht nachzuweisen. Die Wirbelsäulenverkrümmung der Klägerin ist nicht Verletzungsfolge. Der Gutachter hat festgestellt, dass es sich nicht um eine Seitverbiegung zur Amputationsseite hin handelt, sondern um eine kontralaterale Seitverbiegung. Die Klägerin weist im Stehen einen Becken schiefstand zu Ungunsten der Amputationsseite auf. Demnach müsste eine Verbiegung der Lendenwirbelsäule nach rechts mit Gegenschwung der Brustwirbelsäule nach links entstehen. Dies ist bei der Klägerin aber nicht der Fall. Deshalb ist die vorhandene Skoliose nicht als kompensatorische Skoliose sondern als strukturelle anlagebedingte Skoliose zu werten. Weder aus Röntgen- noch aus Untersuchungsbefunden konnte Prof. Dr. H ... eine Überlastungsschädigung des linken Hüftgelenkes, des linken Beines oder der Arme feststellen. Gemäß Ziffer 26.18 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (S. 148) ist der Verlust eines Beines im Hüftgelenk oder mit sehr kurzem Oberschenkelstumpf mit einem MdE-Grad vom 80 v. H. zu bewerten. Da weitere Schädigungsfolgen nicht nachgewiesen sind, scheidet eine höhere MdE-Bewertung und somit ein Anspruch auf Schwerstbeschädigtenzulage aus.

Auch die Voraussetzungen für eine Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVG sind nicht erfüllt. Solange der Beschädigte in folge der Schädigung so hilflos ist, dass er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf, wird eine Pflegezulage gezahlt. Die Klägerin ist nicht so hilflos, wie es der Anspruch auf Pflegezulage voraussetzt.

Zu den Verrichtungen im Sinne von § 35 Abs. 1 Satz 2 BVG gehören das An- und Auskleiden, Nahrungsaufnahme (Essen und Trinken), Körperpflege (Waschen, Kämmen, Rasieren), verrichten der Notdurft (Stuhlgang, Wasserlassen), Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen, Bewegung in der Wohnung und außerhalb), geistige Anregungen und Kommunikation (Sehen, Hören, Sprechen, Fähigkeit zu Interaktion). Ein Hilfebedarf bei hauswirtschaftlichen Verrichtungen (Instand haltung und Reinigung der Wohnung, Einkaufen von Lebensmitteln, Nahrungszubereitung, Wäsche waschen) gehört nicht zu den täglichen Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Sinne von § 35 Abs. 1 BVG (so ausdrücklich Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 02.07.1997 in SozR 3-3100 § 35 Nr. 6 mwN zur Rspr und Urteil vom 10.09.1997, Az.: 9 RV 8/96). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die Klägerin hinsichtlich hauswirtschaftlicher Verrichtungen auf fremde Hilfe angewiesen. Dieser hauswirtschaftliche Hilfebedarf ist aber nicht zu berücksichtigen. Nach den dargelegten Grundsätzen müssen alle Verrichtungen außer Betracht bleiben, die mit der "Pflege und Wartung der Person" nicht unmittelbar zusammenhängen (BSG a.a.O.). Ohne den hauswirtschaftlichen Bedarf ist die Klägerin nicht in dem für eine Hilflosigkeit im Sinne von § 35 Abs. 1 BVG erforderlichen Umfang hilfebedürftig.

Der Umfang der regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die der Beschädigte ohne fremde Hilfe nicht aus führen kann, richtet sich nach dem Verhältnis der dem Beschädigten ohne fremde Hilfe nicht mehr möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe bewältigen kann (BSG aaO). In der Regel ist dabei auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen. Nach der Rechtsprechung des BSG muss der medizinisch erforderliche Hilfebedarf die zeitliche Mindestgrenze von einer Stunde täglich überschreiten (vgl. BSGE 67, 204, 207 und BSG a.a.O.). Dies ist bei der Klägerin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht der Fall. Der tatsächliche Hilfebedarf weicht nach den Angaben, die die Schwiegertochter des Bruders der Klägerin (Pflegeperson) anlässlich der Untersuchung im April 2000 gegen über Prof. Dr. H. machte, von den eigenen Angaben der Klägerin in ihrer schriftlichen Antwort an das Sozialgericht in ihrem Schreiben vom 26.11.1996 ab. So hat die Klägerin mitgeteilt, sie könne ohne Hilfe aufstehen und ohne Hilfe ihre Notdurft verrichten. Sie brauche aber ständig Hilfe beim An- und Ausziehen und beim Waschen. Der Gutachter Prof. Dr. H ... verneint aufgrund der Schädigungsfolge den angegebenen Hilfebedarf. Prof. Dr. H ... beschreibt, dass die Klägerin in der Untersuchungssituation die Hilfen ihrer Pflegeperson annahm, ohne diese Hilfe verletzungsbedingt zu benötigen.

Selbst wenn der angegebene Hilfebedarf bei persönlichen Verrichtungen zugrundelegt wird, überschreitet dieser die zeitliche Mindestgrenze von einer Stunde täglich nicht. Als Orientierungsrahmen für den zeitlichen Hilfebedarf dienen die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches. Danach bestehen folgende Richtwerte:

Einfache Hilfe zum Aufstehen und Zubettgehen je 1 bis 2 Minuten
Duschen 15-20 Minuten
Ankleiden 8-10 Minuten
Entkleiden 4-6 Minuten
Stuhlgang 3-6 Minuten
Wasserlassen 2-3 Minuten

Zusammengerechnet ergeben die Zeitwerte einen täglichen Hilfebedarf von etwa einer Stunde. Der Senat folgt der Rechtsprechung des BSG, nach der dieser zeitliche Hilfebedarf für eine Hilflosigkeit im Sinne von § 35 Abs. 1 BVG nicht ausreicht. Anspruch auf eine Pflegezulage besteht nicht, wenn Beschädigte in dem relativ geringen Umfang von täglich etwa einer Stunde auf fremde Hilfe angewiesen sind. Es kommt nicht darauf an, dass die Pflegeperson der Klägerin tatsächlich in einem größeren zeitlichem Umfang Hilfestellung leistet. Maßgeblich ist nur die medizinisch notwendige Hilfeleistung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, bestehen nicht, § 160 SGG.
Rechtskraft
Aus
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