L 10 SB 116/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
10
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 14 SB 159/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 SB 116/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 17.07.2002 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Köln zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1970 geborene Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB).

Einen entsprechenden Antrag stellte sie bei dem Beklagten erstmals am 20.07.2000. Sie gab an, an einer verminderten Belastbarkeit der Leiste und des Oberschenkels rechts, einer Taubheit des rechten Oberschenkels innen, einer Stoffwechselstörung nach Schilddrüsenentfernung sowie an psychovegetativen Störungen zu leiden. Der Beklagte holte Befundberichte von der Praktischen Ärztin Dr. Bxxxxxxxxxx, die zudem weitere Behandlungsberichte insbesondere über eine subtotale Schilddrüsenentfernung (1998) und eine Crossektomie im Bereich der rechten Leiste (1997) einreichte, und von dem Facharzt für Chirugie Dr. von Lxxxxxxxx ein, der eine chronisch venöse Insuffizienz nach Rekonstruktion der Vena femoralis superficialis rechts beschrieb. In seinen gutachtlichen Stellungnahmen (29.11.2000 und 11.12.2000) bewertete der Chirurg Dr. Mxxx eine "Funktionsstörung der rechten unteren Gliedmaße (Sensibilitätsstörungen und Schmerzsymptomatik nach Krampfader-Op.)" mit einem GdB von 10. Nicht behandelten psychovegetativen Störungen und einem Zustand nach Schilddrüsenentfernung bei medikamentös ausgeglichenem Hormonhaushalt maß er keinen GdB zu. Mit Bescheid vom 13.12.2000 und Widerspruchsbescheid vom 03.04.2001 lehnte der Beklagte den "Antrag auf Feststellung einer Behinderung" mit der Begründung ab, die bestehenden Funktionsstörungen verursachten keinen GdB von wenigstens 20.

Mit ihrer Klage vom 11.04.2001 hat die Klägerin vorgetragen, an einer erheblichen Funktionsbeeinträchtigung der Schilddrüse mit Allergien, Komplikationen nach zwei Krampfaderoperationen, Schlafstörungen, Schwindelgefühlen, Schweißausbrüchen, Nervosität und Haut- und Haarproblemen zu leiden, so dass ein GdB von mindestens 40 gerechtfertigt sei.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 13.12.2000 und des Widerspruchsbescheides vom 03.04.2001 zu verurteilen, bei ihr ab 20.07.2000 das Vorliegen eines GdB von 40 festzustellen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat vorgetragen, der GdB für die Restbeschwerden nach operiertem Krampfaderleiden sei mit 10 ausreichend bemessen; ein postthrombotisches Syndrom sei phlebograpisch ausgeschlossen; psycho-vegetative Störungen seien nicht belegt worden; dem Schilddrüsenleiden sei im Hinblick auf die bescheinigte Euthyreose kein GdB zuzumessen.

Die 14. Kammer des Sozialgerichts (SG) Köln hat ein Gutachten von Dr. L ..., Chefarzt der Chirurgischen Abteilung des Eduardus-Krankenhauses Kxxx, eingeholt (22.02.2002). Dieser hat ausgeführt, im Rahmen einer Varizen-Operation des rechten Beines sei es zu einer Verletzung der tiefen Vene gekommen, die intraoperativ bemerkt und beseitigt worden sei. Die Funktion des tiefen Venensystems sei derzeit nicht beeinträchtigt. Die beklagten Beschwerden seien auf die Narbe in der rechten Leiste zurückzuführen. Der Narbenbildung mit Paraesthesien am rechten Oberschenkel sowie der Fehlfunktion der Schilddrüse bei Zustand nach Schilddrüsen-Operation sei kein GdB zu zumessen.

Unter dem 26.02.2002 hat das SG bei der Klägerin angefragt, ob die Klage noch aufrechterhalten werde; mit Urteil vom 17.07.2002 hat es die Klage abgewiesen.

Im November 2002 wurden die Beteiligten darauf hingewiesen, dass die Vorsitzende der 14. Kammer seit längerem arbeitsunfähig erkrankt und nicht abzusehen sei, wann diese ihren Dienst wieder aufnehme; eine Abfassung des Urteils sei somit zur Zeit nicht möglich.

Die Klägerin hat daraufhin am 11.12.2002 Berufung eingelegt und vorgetragen, seit der Venenoperation an anhaltenden Schmerzen im linken Bein sowie an einem Taubheitsgefühl und Schmerzen im Bereich des rechten Oberschenkels zu leiden, die sich zwischenzeitlich verschlimmert hätten, da ein Teilausfall der Femoralisvene vorliege. Vorsorglich werde die Einholung eines Gutachtens nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beantragt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 17.07.2002 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 13.12.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.04.2001 zu verurteilen, bei ihr ab 20.07.2000 einen GdB von 40 festzustellen, hilfsweise, das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 17.07.2002 aufzuheben und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Köln zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 17.07.2002 zurückzuweisen, hilfsweise, das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 17.07.2002 aufzuheben und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Köln zurückzuverweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese sind Gegenstand mündlicher Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die fristgemäß eingelegte und auch sonst zulässige Berufung ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.

I.

Die Berufung ist zulässig; denn das Urteil vom 17.07.2002 wurde mit Verkündung existent und mit Rechtsmittel anfechtbar. Die Zustellung des Urteils ist keine Bedingung für die Zulässigkeit der Berufung, sondern lediglich Voraussetzung für den Beginn des Laufs der Berufungsfrist (vgl. BSG, Urteil vom 23.02.1983, 2 RU 3/82, SozR 2220 § 539 Nr. 88 m.w.N.; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 7. Auflage, § 135 Rdnr. 3).

II.

Die Berufung ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung durch Urteil aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet.

Verfahrensmangel im Sinn dieser Vorschrift ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (Senatsurteile vom 05.09.2001 - L 10 SB 70/01 - und 23.01.2002 - L 10 SB 150/01 -; Urteil des 6. Senats des LSG NW vom 11.07.1995 - L 6 Vs 67/95 -; Meyer-Ladewig, a.a.O. § 159 Rdn. 3 mwN; Zeihe, SGG, § 159 Rdn. 2a, 8a ). Gleichermaßen kommt eine Zurückverweisung bei unzureichender Begründung der angefochtenen Entscheidung (vgl. Senatsurteile vom 05.09.2001 und 23.01.2002, a.a.O.; Urteil des 7. Senats LSG NW vom 14.05.1998 - L 7 SB 146/97 -), Verstößen gegen die Grundsätze der Beweiswürdigung (Zeihe, aaO Rdn. 8d) oder dann in Betracht, wenn sich das SG zu weiterer Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen.

Solche Mängel liegen hier vor.

1. Das angefochtene Urteil verstößt insbesondere gegen die zwingenden Verfahrensvorschriften der §§ 134 Satz 1, 135 SGG, die unter anderem bestimmen, dass das Urteil nebst Tatbestand und Entscheidungsgründen vom Vorsitzenden zu unterschreiben und den Beteiligten zuzustellen ist. Auch liegt - u.a. - ein Verstoß gegen die §§ 136 Abs. 1 Nr. 6, 128 Abs. 1 SGG vor, nach denen ein Urteil Entscheidungsgründe enthalten muss und die Gründe anzugeben sind, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

Eine vollständige Heilung dieser Mängel kommt nicht mehr in Betracht. Eine nachträgliche Abfassung des Urteils, Unterschriftsleistung der mitwirkenden Kammervorsitzenden und Zustellung dieses Urteils sind ggf. tatsächlich noch möglich; jedoch würden dann weiterhin die schriftlichen Urteilsgründe fehlen. Seit der Verkündung des Urteils sind nämlich bereits über sieben Monate vergangen. Nach Ablauf dieser Zeit ist nicht mehr gewährleistet, dass eine Urteilsbegründung den Verlauf der mündlichen Verhandlung sowie das Beratungsergebnis zutreffend wiedergibt. Auch bei einer nachträglichen schriftlichen Absetzung und Ausfertigung der Urteilsgründe bliebe zumindest ein wesentlicher Verfahrensmangel bestehen. Denn die mit der schriftlichen Urteilsabfassung erstrebte Sicherung der Beurkundungsfunktion ist so lange Zeit nach Verkündung des Urteils nicht mehr erreichbar (s. dazu z.B. BSG, Urteil vom 22.09.1993, 12 RK 39/93, SozR3-1750 § 551 Nr. 5; BSG, Urteil vom 22.09.1993, 12 RK 93/92, Die Beiträge 1994, 224; BSG, Urteil vom 03.03.1994, 1 RK 6/93, SozR3-1750 § 551 Nr. 7; BSG, Urteil vom 10.03.1994, 12 RK 47/93, Die Beiträge 1994, 508; BSG, Urteil vom 06.03.1996, 9 RVg 3/94). Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat mit Beschluss vom 27.04.1993 (GmS-OGB 1/92, NJW 1993, 2603 = ZIP 1993, 1341) einheitlich für alle Gerichtsbarkeiten entschieden, dass selbst ein Urteil, das formal vollständig ist, als nicht mit Gründen versehen gilt, wenn es nicht innerhalb von fünf Monaten nach Verkündung unterschrieben zur Geschäftsstelle gelangt ist. Damit stellt die Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe nach Ablauf von mehr als fünf Monaten einen so erheblichen und nicht heilbaren Verfahrensmangel dar, dass vorliegend von dem Versuch, von dem SG eine nachträgliche Urteilsbegründung mit Unterschriftsleistung einzuholen, abzusehen war.

2. Welche Umstände des Einzelfalles das SG bewogen haben mögen, die Klage abzuweisen, ist mangels dokumentierter Entscheidungsgründe nicht ersichtlich. Zwar mag dem Schreiben des SG vom 26.02.2002, mit dem bei der Klägerin angefragt wurde, ob sie die Klage noch aufrechterhalte, ansatzweise zu entnehmen sein, worauf sich die Entscheidung des SG letztlich stützte. Die Erwägungen, die das Gericht zum Urteilsausspruch führten, müssen jedoch den Entscheidungsgründen zu entnehmen sein. Das Urteil muss aus sich heraus verständlich sein; insoweit notwendige Ausführungen können nicht schon durch Bezugnahme auf andere Unterlagen ersetzt werden. Zum Mindestinhalt eines Urteils gehört die Angabe der angewandten Rechtsnorm und der für erfüllt bzw. nicht gegeben erachteten Tatbestandsmerkmale sowie der dafür ausschlaggebend gewesenen tatsächlichen und rechtlichen Gründe. Diese Anforderungen können nicht durch Heranziehung des übrigen Akteninhalts erfüllt werden (vgl. Senatsurteil vom 23.01.2002 - L 10 SB 150/01 -). Der dem Schreiben vom 26.02.2002 zu entnehmende Hinweis auf die Auffassung des SG ist mithin nicht geeignet, eine Urteilsbegründung zu ersetzen. Liegen aber die für die richterliche Entscheidung leitenden Gründe nicht vor, kann der Senat das Urteil inhaltlich nicht überprüfen.

3. Der Rechtsstreit ist nicht entscheidungsreif. Das SG hätte den medizinischen Sachverhalt weiter aufklären müssen.

a) Der Sachverständige Dr. Lxxx hat angegeben, dass die Funktion des tiefen Venensystems nicht beeinträchtigt und den von Narben in der rechten Leiste ausgehenden Beschwerden einschließlich Paraesthesien kein GdB zuzumessen sei. Diese Angaben sind zwar im Ansatz nachvollziehbar, eine Begründung für seine Bewertung gibt der Sachverständige allerdings nicht. Diese erachtet der Senat jedoch für erforderlich, da die Beschwerdeangaben der Klägerin (lästiges Taubheitsgefühl an der rechten Innenseite des rechten Oberschenkels, Schmerzen in der rechten Leiste sowie an der Innenseite des rechten Oberschenkels beim Fahrradfahren bzw. Tragen schwerer Lasten, Empfindungsstörung in typisch erogener Zone (Bericht des Dr. Lxxxxxxxx vom 15.09.1999)) zumindest nicht so geringwertig sind, dass ein Gericht ohne eigene medizinische Sachkenntnis bzw. ohne Begründung einer GdB-Einschätzung durch einen medizinischen Sachverständigen das Vorliegen eines für die Bildung des Gesamt-GdB relevanten Teil-GdB sicher ausschließen kann. Insoweit war und ist zumindest eine ergänzende, von Amts wegen einzuholende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. L ... unerlässlich.

b) Gegen die Einschätzung des Dr. Lxxx, dass die Folgen nach Schilddrüsenfunktionsstörungen keinen GdB bedingen, hat die Klägerin keine Einwendungen erhoben; insbesondere hat sie weder selten auftretende Organkomplikationen (z.B. Exophthalmus, Trachealstenose) angegeben noch sind diese aus den vorliegenden Behandlungsunterlagen ersichtlich. Dementsprechend ist die Beurteilung des Sachverständigen nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) - zumindest derzeit - gerechtfertigt. Nach der Nr. 26.15 AHP, S. 121, sind Schilddrüsenfunktionsstörungen auch nach Schilddrüsenresektion nämlich gut behandelbar, so dass in der Regel anhaltende Beeinträchtigungen nicht zu erwarten sind.

Allerdings ist bisher dem Vortrag der Klägerin, an Schlafstörungen, Schwindelgefühlen, Schweißausbrüchen, Nervosität zu leiden, die ggf. auch auf hormonelle Veränderungen infolge der Schilddrüsenentfernung zurückzuführen sind, nicht ausreichend nachgegangen worden. Der Beklagte weist zwar zu Recht daraufhin, dass derartige psycho-vegetative Störungen bisher ärztlicherseits nicht bestätigt worden sind. Dies ist aber nicht gleichbedeutend damit, dass sie - entgegen dem Vorbringen der Klägerin - nicht vorliegen; allenfalls ist insoweit ggf. der Schluss möglich, dass sie in ihre Auswirkungen so gering sind, dass sie in den bisher vorliegenden Berichten nicht gesondert erwähnt worden sind. Damit sind aber leichtere psychovegetative oder psychische Störungen, die einen GdB von 0 - 20 bedingen (AHP Nr. 26.3, S. 60), zumindest nicht ausgeschlossen. Dementsprechend hätte zumindest ein ergänzender Befundbericht unter gezielter Fragestellung z.B. von der behandelnden Praktischen Ärztin Dr. Bxxxxxxxxxx als Grundlage für die gerichtliche Entscheidung, ob weitere Ermittlungen erforderlich sind, eingeholt werden müssen.

c) Im Rahmen seiner o.a. Ermittlungen wird das SG auch dem weiteren Vorbringen der Klägerin, eine Verschlimmerung ihrer Gesundheitsstörungen sei eingetreten, zunächst von Amts wegen nachzugehen haben. Dazu wird von der Klägerin das vollständige Gutachten der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. Gxxx vom 18.11.2002 anzufordern und ggf. die Akten des Landgerichts Kxxxxxx, Az. 10 O 253/01, beizuziehen sein.

d) Auch die unter Punkt 3 a) und b) aufgezeigten Verfahrensmängel sind entscheidungserheblich. Es kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass das SG bei ordnungsgemäßer Sachverhaltsaufklärung eine andere Entscheidung getroffen hätte.

4. Die trotz des Vorliegens der Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 SGG nicht zwingend vorgeschriebene Zurückverweisung ist angesichts der Kürze des Berufungsverfahrens und im Hinblick darauf, dass den Beteiligten eine weitere Tatsacheninstanz - zur sachgerechten Aufklärung des Sachverhalts - erhalten bleiben soll, geboten.

Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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