L 13 RJ 118/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 11 (8,9) RJ 167/99
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 RJ 118/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 21. Oktober 2002 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im zweiten Rechtszug. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Berücksichtigung der Zeit von März 1949 bis Dezember 1949 als Ersatzzeit.

Der in K / Polen geborene jüdische Kläger ist als Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt. Nach der Befreiung aus der Konzentrationslagerhaft hielt er sich nach dem Krieg in B W auf, bis er im Februar 1949 nach Israel einwanderte.

Im März 1992 hatte der Kläger erfolglos die Gewährung einer Rente aus der deutschen Rentenversicherung unter Berücksich- tigung einer im Ghetto L zurückgelegten Beschäftigungszeit beantragt ( Bescheid vom 18.10.1993,Widerspruchsbescheid vom 18.11.1994).

Im Oktober 1997 beantragte er die Überprüfung dieser Ent- scheidungen unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundes- sozialgerichtes (BSG) zur Beschäftigung in einem Ghetto. Die Beklagte bewilligte durch Bescheid vom 29.04.1998 Altersrente ab dem 01.01.1993 ausgehend von einem Versicherungsfall im Dezember 1988 unter Berücksichtigung einer Beitragszeit im Ghetto L und einer Ersatzzeit der Verfolgung bis zum 30.04.1945. Mit seinem Widerspruch begehrte der Kläger u.a. die Anerkennung einer weiteren Ersatzzeit wegen nach der Befreiung bestehender Arbeitsunfähigkeit und eines anschließenden verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes. Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 18.06.1999 eine weitere Ersatzzeit der Arbeitsunfähigkeit bis zum 28.02.1949 an. Den weitergehenden Widerspruch wies sie durch Bescheid vom 16.09.1999 zurück: Eine Ersatzzeit des verfolgungs- bedingten Auslandsaufenthaltes könne nicht anerkannt werden, da eine Auswanderung nach dem 08.05.1945 nur ausnahmsweise als verfolgungsbedingt anzusehen sei. Solche verfolgungsabhängigen Umstände, die zur Auswanderung geführt haben, seien hier nicht erkennbar.

Mit seiner am 20.09.1999 zum Sozialgericht Düsseldorf erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Ihm sei eine weitere Ersatzzeit von März 1949 bis Dezember 1949 wegen verfol- gungsbedingten Auslandsaufenthaltes zuzubilligen; die national- sozialistische Verfolgung sei wesentliche Ursache für seine Auswanderung aus Deutschland gewesen.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 29.04.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.09.1999 zu verurteilen, eine Ersatzzeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes von März 1949 bis 31.12.1949 renten- steigernd zu berücksichtigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung gewesen, die Auswanderung des Klägers aus Deutschland sei nicht als verfolgungsbedingt anzusehen, da der Kläger sich nach der Verfolgung nicht durchgehend in einem DP-Lager aufgehalten habe; durch die Begründung eines Wohnsitzes in Deutschland sei der Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Auswanderung unterbrochen worden.

Auf Anfrage des Sozialgerichtes hat die Gemeinde B W mitgeteilt, dass der Kläger dort vom 26.10.1945 bis 10.02.1949 in der N H 13 gemeldet gewesen sei. Der Zu- sowie Wegzug sei nach F erfolgt. Dort habe sich ein DP-Lager befunden.

Das Sozialgericht hat die Beklagte dem Antrag des Klägers entsprechend verurteilt und im Urteil vom 21.10.2002 zur Begründung ausgeführt: Die Zeit vom 01.03.1949 bis 31.12.1949 sei als Zeit eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes gemäß § 250 Abs. 1 Nr. 4b des 6. Buches des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) zu berücksichtigen. Ersatzzeiten im Sinne dieser Vorschrift seien Zeiten vor dem 01. Januar 1992, in denen Versicherte im Anschluss an Zeiten der Freiheitsentziehung oder Einschränkung infolge Verfolgungsmaß- nahmen bis zum 30. Juni 1945 ihren Aufenthalt in Gebieten außerhalb des jeweiligen Geltungsbereiches der Reichsversicherungsgesetze oder danach in Gebieten außerhalb des Geltungs- bereiches der Reichsversicherungsgesetze nach dem Stand vom 30. Juni 1945 genommen oder einen solchen beibehalten haben, längstens aber die Zeit bis zum 31. Dezember 1949. Diese Voraussetzungen lägen hier vor. Der Kläger sei Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes. Er habe auch im Februar 1949 einen Wohnsitz in Israel und damit im Ausland begründet und diesen über den 31.12.1949 hinaus beibehalten. Die Wohnsitznahme in Israel und damit der Auslandsaufenthalt sei durch die Verfolgung verursacht. Die Kammer folge insoweit der Annahme des BSG im Urteil vom 29.08.1996 (SozR 3 5070 § 18 WGSVG Nr. 2), dass rechtsgrundsätzlich und faktisch in aller Regel davon auszugehen sei, dass der Verfolgte Nachkriegsdeutschland verfolgungsbedingt verlassen habe. Etwas anderes könne nur gelten, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles bewiesen sei, dass allein wesentliche Ursache für das Verlassen Deutschlands etwas anderes als das durchlittene Verfolgungsschicksal war; hierfür sei der Versicherungsträger darlegungs- pflichtig und objektiv beweisbelastet. Die Entscheidung des BSG sei zwar nicht zur Frage der Anerkennung einer Ersatzzeit, sondern zu den Voraussetzungen des § 18 Abs. 2 WGSVG ergangen. Da aber sowohl die Vorschrift des § 18 Abs. 2 WGSVG als auch die des § 250 Abs. 1 Nr. 4 b SGB VI auf den verfolgungsbedingten Auslandaufenthalt abstellen und beide den Ausgleich von in der Sozialversicherung erlittenen Nachteilen für Verfolgte bezweckten, könne dieser Rechtsbegriff in beiden Vorschriften nur einheitlich ausgelegt werden. Die Rechtsprechung des BSG sei daher auch für die Auslegung des § 250 Abs. 1 Nr. 4 b BSG VI heranzuziehen.

Danach sei hier zugunsten des Klägers grundsätzlich davon auszugehen, dass die Auswanderung eine Nachwirkung der Ver- folgung war. Andere Gründe, die den Kläger zur Auswanderung aus Deutschland bewogen haben könnten, seien für die Kammer nicht ersichtlich, insbesondere auch deshalb, weil der Kläger erst infolge der Verfolgung überhaupt nach Deutschland gelangt sei. Es sei insbesondere ohne Bedeutung, ob der Kläger sich nach der Befreiung in einem Lager für displaced persons aufgehalten habe, oder ob er außerhalb eines solchen Lagers untergebracht gewesen sei. Selbst wenn ein Verfolgter sich außerhalb des Lagers eine wirtschaftliche Existenz aufgebaut habe und auch ausreichenden Wohnraum zur Verfügung gehabt habe, ändere dies nichts an seinem nachvollziehbaren Wunsch, nicht im Land seiner ehemaligen Verfolger zu leben. Gerade im Fall einer gesicherten wirtschaftlichen Existenz und ausreichender Wohnverhältnisse spreche umso mehr dafür, dass die Auswanderung nach Israel in eine unsichere Zukunft auf diesem Wunsch beruhte und nicht darauf, den schlechten Verhältnissen im Nachkriegsdeutschland zu entgehen.

Gegen das am 6.11.2002 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 18.11.2002 Berufung eingelegt. Zur Begründung führt sie aus:

Sie folge dem vom SG angezogenen Urteil des BSG nicht. Denn eine verfolgungsbedingte Auswanderung sei glaubhaft zu machen (§ 3 WGSVG). Durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen sei ein Auslandsaufenthalt nur, wenn die Verfolgungsmaßnahmen wesentlich mitwirkende Ursache für die Auswanderung waren. Dies sei vorliegend nicht belegt. Denn nach seiner Befreiung aus dem KZ-Lager Dachau wolle der Kläger seit Juli 1945 bis November 1945 als "Beamter" im DP-Lager F (Tischlerressort) beschäftigt gewesen sein. Danach sei er von Januar 1946 bis Ende 1946 Zivilarbeiter bei der amerikanischen Armee in B W beschäftigt gewesen. Von Anfang 1947 bis Anfang Februar 1949 sei er Vorstand der Jüdischen Kultusgemeinde in B W gewesen. Ausweislich seiner Angaben habe er am 1. Sept. 1946 in Bad Wiessee geheiratet. Er sei vom 26. Okt. 1945 bis 10. Febr. 1949 mit Wohnung in B W , N H , gemeldet gewesen. Lediglich vor dem 26. Okt. 1945 und nach dem 10. Febr. 1949 bis zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland habe er sich im DP-Lager F aufgehalten. Insbesondere aus dem Umstand, dass der Kläger sich ab 26. Okt. 1945 nicht in einem DP-Lager aufgehalten habe, was ein Indiz für seinen Auswanderungswillen gewesen wäre, und seit Anfang 1947 Vorstand der Jüdischen Kultusgemeinde in B W gewesen sei, könne nicht geschlossen werden, dass er bis Februar 1949 den Willen gehabt habe, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Damit entfielen auch über das Kriegsende hinaus fortdauernde Nachwirkungen nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen. Jedenfalls hätten solche nicht bis Februar 1949 bestanden. Offensichtlich habe der Kläger in Israel in einem jüdischen Staat leben wollen, zumal die politischen Verhältnisse in seiner Heimat Polen eine Rückkehr ihm wohl nicht zumutbar erschienen. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass Nachwirkungen des Verfolgungsschicksals maßgebend für die Auswanderung waren, seien nicht ersichtlich und auch nicht dargetan. Es könne daher hier nicht unterstellt werden, dass der Auslandsaufenthalt ab März 1949 verfolgungsbedingt i. S. von § 250 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b SGB VI war.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 21.Oktober 2002 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil: Der Versicherungsträger sei objektiv Beweis belastet dafür, dass wesentliche Ursache für das Verlassen Deutschlands etwas anderes als das durchlittene Verfolgungsschicksal gewesen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakten, der Verwaltungsakten der Beklag- ten sowie der Entschädigungsakten des Bayerischen Landesentschä- digungsamtes, der Gegenstand er mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht verurteilt, eine Verfolgungsersatzzeit von März 1949 bis Dezember 1949 zusätzlich zu berücksichtigen.

Wegen der Begründung nimmt der Senat zunächst gemäß § 153 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf die zutreffenden und überzeugenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug, denen er sich nach eigener Prüfung anschließt.

Auch das zweitinstanzliche Vorbringen der Beklagten rechtfertigt keine andere Entscheidung. Weder die Gründe, aus denen die Beklagte der vom Sozialgericht angezogenen Rechtsprechung des BSG nicht folgen will, noch die Würdigung der Umstände des Aufenthalts des Klägers in Deutschland überzeugen.

Der rechtliche Ausgangspunkt des Sozialgerichts trägt der Situation der osteuropäischen verfolgten Juden und der auch im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, namentlich auch im Rahmen der Ersatzzeittatbestände (Vgl. BSG SozR 2200 § 1251 Nr.106) geltenden sozialrechtlichen Kausalitätstheorie Rechnung und berücksichtigt Sinn und Zweck des Ersatzzeittatbestandes nach § 250 SGB Abs. 1 Nr.4 SGB VI ( vgl. zur Vorgängervorschrift BSG SozR Nr.46 zu § 1251 RVO).

Das Sozialgericht hat insbesondere auch zutreffend ausgeführt, dass im Falle des Klägers andere Gründe als die Nachwirkungen der Verfolgung, welche den Kläger ja erst nach Deutschland gebracht hatte, als allein wesentlche Ursache der Auswanderung nicht ersichtlich sind. Dass mit dem Bezug einer Wohnung ausserhalb des DP-Lagers F oder der Aufnahme von Arbeit - namentlich der Tätigkeit als Vorstand der Kultusgemeinde in Bad Wiessee- über das Kriegsende hinaus fortdauernde Nachwirkungen der Verfolgung entfallen seien, wie die Beklagte mit der Berufung geltend macht, läßt sich zur Überzeugung des Senats keineswegs feststellen. Diese Umstande müssen nämlich nicht für die Aufgabe des bei den DP regelmäßig gegebenen Wunsches sprechen, in die USA oder nach Palästina bzw Israel auszuwandern, sondern dürften eher Ausdruck des gebotenen Arrangierens mit der vorgefundenen Situation sein, die von der Ungewissheit der kontingentierten Auswanderungsmöglichkeit bestimmt war. Die konkreten Erwerbstätigkeiten des Klägers sind zudem keineswegs als Ausdruck eines Wunsches nach Integration in den Staat seiner Verfolger anzusehen. Dies gilt nicht nur für die Arbeiten als "Zivilbeamter" im DP-Lager F und als "Zivilbeamter" der amerikanischen Armee in B W , sondern auch für die Tätigkeit in der jüdischen Gemeinde. Denn letztere dürfte durch die verfolgungsbedingte Anwesenheit der osteuropäischen jüdischen DP begründet gewesen sein.

Abschliessend weist der Senat darauf hin , dass die Beklagte sich zur Begründung ihres Widerspruchsbescheides zu Unrecht auf den Grundsatz berufen hat, dass eine Auswanderung nach dem 8.5.1945 nur ausnahmsweise als verfolgungsbedingt anzusehen sei. Die Entscheidung des BSG, die dies ausgesprochen (und i.ü. die Verfolgungsbedingtheit bejaht) hat (BSG SozR 2200 § 1251 Nr.106

vgl. auch Kasseler-Kommentar-Niesel § 250 SGB VI Rdnr. 92) betraf einen Fall, in welchem ein aus Berlin stammender Jude nach Kriegsende nach Berlin zurückgekehrt und erst 1946 ausgewandert war. Dass in Fällen, in denen - wie hier - ein polnischer Jude erst verfolgungbedingt nach Deutschland gekommen ist, andere Maßstäbe zur Anwendung kommen müssen, die insbesondere die vom Sozialgericht richtig getroffene Annahme der Verfolgungsbedingtheit der Auswanderung nach Israel rechtfertigen, liegt auf der Hand.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Anlaß, die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden.
Rechtskraft
Aus
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