L 4 RJ 93/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 3 RJ 83/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 4 RJ 93/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 13.08.2003 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die am 00.00.1948 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige. In der Zeit vom 18.09.1973 bis 30.11.1997 war sie als Stationshelferin beschäftigt. Seit Dezember 1997 ist die Klägerin durchgehend arbeitslos. In der Zeit vom 10.01.1998 bis 02.11.2000 bezog sie Leistungen vom Arbeitsamt (Arbeitslosengeld/Arbeitslosenhilfe).

Im Juni 2001 beantragte die Klägerin unter Vorlage von Attesten der Gynäkologin Dr. L und der Internistin Dr. T die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Daraufhin veranlasste die Beklagte eine Untersuchung durch die Chirurgin und Sozialmedizinerin Dr. C. Diese führte in dem Gutachten vom 27.11.2001 aus, dass bei der Klägerin eine mit Tabletten eingestellte Zuckerkrankheit, Bluthochdruck, Übergewicht und Wechseljahrbeschwerden bestehen. Die Klägerin sei in der Lage, leichte Tätigkeiten ohne häufiges Bücken, Heben und Tragen, ohne Zeitdruck und Nachtschichten vollschichtig zu verrichten. Mit Bescheid vom 04.12.2001 lehnte die Beklagten den Antrag der Klägerin ab.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte am 09.04.2001 als unbegründet zurück.

Mit der am 18.04.2001 vor dem Sozialgericht (SG) Köln erhobenen Klage hat die Klägerin die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung begehrt. Sie hat vorgetragen, sie sei aufgrund einer Vielzahl von Erkrankungen nicht mehr in der Lage, eine regelmäßige Erwerbstätigkeit auszuüben. Sie könne wegen ihrer auf internistischem, neurologisch-psychiatrischem sowie chirurgischen/orthopädischem Fachgebiet vorliegenden Erkrankungen nicht mehr arbeiten. Hinsichtlich ihres massiv eingeschränkten Leistungsvermögens hat sie sich auf das Attest von Dr. T vom 01.06.2001 und dem Chirurgen Dr. L vom 24.04.2002 berufen.

Das SG hat den Internisten Dr. E und den Orthopäden Dr. D mit der Erstellung von Gutachten beauftragt. Der Sachverständige Dr. D ist unter Berücksichtigung der Feststellungen von Dr. E zusammenfassend zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin vollschichtig leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung unter Vermeidung von extremen Stresssituationen, Arbeiten im Akkord oder unter einem anderen besonderem Zeitdruck, ohne schweres Heben und Tragen (über 10 Kilo) und Arbeiten in Zwangshaltung (starke Rumpfbeugehaltung, Über-Kopfarbeiten), ohne Arbeiten auf Leitern und Gerüsten und ohne Exposition von starken Temperaturschwankungen, Kälte, Zugluft und Nässe verrichten kann. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gutachten vom 30.01.2003 und vom 24.02.2003 Bezug genommen.

Nach Eingang der Gutachten hat die Klägerin mit Schreiben vom 12.03.2003 die Einholung von Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von dem Neurologen und Psychiater Dr. N, dem Internisten Dr. U und dem Chirurgen Dr. L beantragt. Mit Beweisanordnung vom 02.05.2003 hat das SG nach Eingang des Kostenvorschusses Dr. N nach § 109 SGG zum Sachverständigen ernannt und diesen beauftragt, Zusatzgutachten von Dr. U und Dr. L einzuholen. Am 12.05.2003 hat der Sachverständige Dr. N das SG telefonisch informiert, dass sich die Klägerin bis Anfang Oktober in der Türkei aufhalte und erst dann zur Untersuchung einbestellt werden könne. Daraufhin hat das SG mit Schreiben vom 14.05.2003 unter Hinweis auf die Mitwirkungspflicht der Klägerin den Bevollmächtigten der Klägerin aufgefordert, umgehend mitzuteilen, ob die Klägerin bereit sei, sich der Untersuchung jetzt zu unterziehen. Falls dies nicht der Fall sei, werde das Gericht die Akten zurückfordern und das Antragsrecht nach § 109 SGG als verbraucht betrachten. Das Schreiben wurde am 19.05.2003 abgesandt. Mit Schreiben vom 16.05.2003, bei Gericht eingegangen am 19.05.2003, hat der Bevollmächtigte der Klägerin mitgeteilt, dass sich die Klägerin in der Zeit vom 10.05. bis 13.10.2003 urlaubsabwesend in der Türkei befinde und gebeten, die Gutachter hierüber zur informieren. Am 25.06.2003 hat das SG die Akten von dem Sachverständigen Dr. N zurückgefordert und am 09.07.2003 die Streitsache zur mündlichen Verhandlung am 13.08.2002 terminiert. Mit Schreiben vom 22.07.2003 hat der Bevollmächtigte der Klägerin mitgeteilt, dass diese bereit sei, jederzeit nach Deutschland zurückzukehren, wenn die Gutachter des Vertrauens die Untersuchungstermine bekannt gegeben hätten. Er hat angefragt, ob das SG unter diesen Umständen bereit sei, den Termin vom 13.08.2003 aufzuheben und die beantragten Gutachten einzuholen.

Durch Urteil vom 13.08.2003 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Klägerin stehe weder ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch 6. Buch (SGB VI) noch eine Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI zu. Ausgehend von den Feststellungen der nach § 106 SGG gehörten Sachverständigen Dr. E und Dr. D sei die Klägerin in der Lage, leichte körperliche Tätigkeiten in wechselnder Haltung unter Vermeidung von extremer Stresssituation zu verrichten, wenn sie Überkopfarbeiten, Akkord und häufiges Bücken vermeide. Die Klägerin habe durch ihr eigenes Verhalten nach Antragstellung ihr Antragsrecht nach § 109 SGG verbraucht, so dass die Einholung von Gutachten nach § 109 SGG nicht erforderlich gewesen sei. Nach Einzahlung des Kostenvorschusses und Einbestellung durch den Hauptsachverständigen habe die Klägerin erst mitgeteilt, dass sie sich bis Oktober in der Türkei aufhalte und erst danach zur Untersuchung zur Verfügung steht. Hieran habe die Klägerin bis zur Terminsladung festgehalten. Die Klägerin sei nicht nur im Rahmen des § 109 SGG gehalten, sich für die gutachterliche Untersuchung am Gerichtsort bereit zu halten. Sie dürfe die Terminierung nicht mit den Unwägbarkeiten eines Auslandsaufenthaltes belasten. Wenn die Klägerin kurz vor dem Termin erklärt habe, dass sie bereit sei, jederzeit nach Deutschland zurückzukehren, wenn die Gutachter ihres Vertauens die Untersuchungstermine bekannt gegeben hätten, sei dies nicht praktikabel, den Gutachtern nicht zumutbar und im übrigen hinsichtlich der tatsächlichen Realisierung zweifelhaft.

Gegen das am 26.08.2003 zugestellte Urteil hat die Kl. am 01.09.2003 Berufung beim Landesozialgericht Nordrhein-Westfalen eingelegt. Sie verfolgt ihr Begehren weiter. Sie sei spätestens seit dem 08.06.2001 nicht mehr in der Lage mehr als 2 Stunden zu arbeiten, ohne ihre Gesundheit zu gefährden. Sie habe aus persönlichen Gründen einen längeren Auslandaufenthalt hinnehmen müssen. Dem SG sei es ihm Hinblick auf ihre besondere Situation zumutbar gewesen, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen und die beantragten Gutachten nach § 109 SGG einzuholen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des SG Köln vom 13.08.2003 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 04.12.2001 und des Widerspruchsbescheides vom 09.04.2002 zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise, wegen teilweiser Erwerbsminderung ab Antragstellung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren, hilfsweise, die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen, hilfsweise die gemäß § 109 SGG beantragten Gutachten einzuholen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakten sowie der Leistungsakte des Arbeitsamtes Köln Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.

Das erstinstanzliche Verfahren leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG); das SG hat gegen die Vorschrift des § 109 Abs. 1 SGG verstoßen.

Die Regelung des § 109 Abs. 1 SGG, wonach auf Antrag einer Versicherten ein bestimmter Arzt vom Gericht gutachterlich gehört werden muss, stellt eine zwingende Verfahrensvorschrift dar, die aus rechtsstaatlichen Gründen erlassen wurde und der Gleichbehandlung der Beteiligten vor Gericht bei der Beschaffung von Beweismitteln dient. Die Klägerin hat einen Antrag auf Einholung von drei Gutachten unter Angabe der Namen und Adressen der zu hörenden Ärzten nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG gestellt. Nach Einzahlung des Kostenvorschusses hat das SG dem Antrag stattgegeben und durch Beweisanordnung vom 02.05.2003 die von der Klägerin benannten drei Ärzte zu Sachverständigen nach § 109 SGG ernannt. Daher war das SG verpflichtet, vor Erlass einer Entscheidung den Eingang der drei Gutachten nach § 109 SGG abzuwarten und diese bei der Entscheidung zu verwerten.

Entgegen der Auffassung des SG ist ein "Verbrauch" des Antragsrechtes nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG durch das Verhalten der Klägerin nach Erlass der Beweisanordnung nicht eingetreten. Die Ablehnungsgründe des § 109 Abs. 2 SGG greifen nicht ein. Danach kann das Gericht einen Antrag nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt worden ist. Vorliegend kommt keine der genannten Alternativen in Betracht, denn die Klägerin hat den Antrag rechtzeitig gestellt und das SG hat diesem Antrag durch Beweisanordnung vom 02.05.2003 entsprochen. Vielmehr geht das SG von einem Verbrauch des Antrages als Folge der ungenügenden Mitwirkung der Klägerin infolge eines mehrmonatigen Auslandsaufenthalts und der dadurch bedingten Verzögerung der Gutachtenerstellung aus. Die Ablehnungsgründe des § 109 Abs. 2 SGG beschränken sich indes auf die Regelung der Rechtsfolgen einer verspäteten oder zur Prozessverzögerung oder Verschleppung erfolgten Antragstellung. Sie sehen den "Verbrauch" des Antragrechts durch das Verhalten einer Klägerin nach Antragstellung nicht vor (BSG, Urteil vom 30.08.1966, 1 RA 41/64). Die Klägerin hat auf ihr Antragsrecht nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG nach Erlass der Beweisanordnung auch nicht verzichtet, vielmehr hat sie durch die Mitteilung an das SG, sie sei jederzeit bei Anberaumung eines Untersuchungstermins bereit, ihren Auslandaufenthalt zu unterbrechen, ihren Willen kundgegeben, dass die Ärzte ihres Vertrauens gutachterlich gehört werden sollen. Eine Verwirkung des Antragesrechts nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG als unzulässige Rechtsausübung nach den Grundsätzen von Treue und Glauben ist ebenfalls nicht eingetreten. Bei der Annahme einer unzulässigen Rechtsausübung durch eine Verfahrensbeteiligte genügt nicht der bloße Zeitablauf, vorliegend die Verzögerung der Untersuchung der Klägerin durch die Sachverständigen als Folge des mehrmonatigen Auslandaufenthaltes, es müssen besondere Umstände hinzutreten, welche die durch das Verhalten der Klägerin verzögerte Gutachtenerstellung als rechtsmissbräuchlich und dem Rentenversicherungsträger als Beklagten nicht mehr zumutbar erscheinen lassen. Denn das Rechtsinstitut der Verwirkung ist aus dem Gedanken der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes entwickelt worden (BSG, Urteil vom 23.07.1965, 1 RA 243/93, SozR Nr. 32 zu § 109 SGG; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 7. Auflage, § 66 Rdnr. 13a m.w.N.). Es ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte als Rentenversicherungsträger durch die Verzögerung der Gutachtenerstellung und der damit bedingten Verlängerung des Verfahrens in ihren Rechten unzumutbar beeinträchtigt wird. Zu beachten ist ferner, dass das Recht der Klägerin auf Freizügigkeit durch die Einleitung eines Prozesses nicht beschränkt wird. Die sich aus einem Auslandsaufenthalt ergebende ungenügende Mitwirkung einer Verfahrensbeteiligten an der Beweiserhebung, insbesondere bei Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG, kann nur im Rahmen der Beweiswürdigung insoweit berücksichtigt werden, als die sich aus der ungenügenden Mitwirkung an der Sachaufklärung ergebenden Nachteile nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast verfahrensrechtlich zu Lasten der Verfahrensbeteiligten gehen. Vorliegend ist eine mangelnde Mitwirkung der Klägerin bei der Begutachtung bisher nicht feststellbar. Denn die Klägerin hat klargestellt, dass sie zu den von den Sachverständigen mitgeteilten Untersuchungsterminen anreisen werde.

Die angefochtene Entscheidung kann auf dem Verfahrensmangel beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass nach Einholung der Gutachten nach § 109 SGG das SG eine andere Entscheidung getroffen hätte.

Die nach § 159 Abs. 1 SGG im Ermessen des Senats stehende Zurückverweisung erscheint angesichts der Kürze des Berufungsverfahrens sowie der Schwere des Verfahrensfehlers zur Erhaltung der zweiten Tatsacheninstanz geboten, um den Beteiligten beide Tatsacheninstanzen zu erhalten.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt des SG vorbehalten.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).

Das Urteil ist aufgrund Rechtsmittelverzichts der Beteiligten rechtskräftig.
Rechtskraft
Aus
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