L 2 B 16/04 KR ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 34 KR 86/04 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 B 16/04 KR ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs wird zurückgewiesen. Die Beschwerdeführerin (jetzige Antragstellerin) trägt die Kosten des Rügeverfahrens. Der Streitwert wird auf 50.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragsgegnerin, Beschwerdeführerin und jetzige Antragsstellerin (Ast.) wendet sich gegen den Beschluss des Senats vom 08.07.2004, mit dem er ihre Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf (SG) vom 24.05.2004 zurückgewiesen hat. Sie macht geltend, der Beschluss beruhe auf der Grundlage eines neuen Sachverhalts, der weder vorgetragen noch im erstinstanzlichen Beschluss festgestellt, noch vom Landessozialgericht erörtert worden sei. Entgegen dem Inhalt des Beschlusses habe die Ast. nicht anlässlich von Kündigungen wegen Beitragserhöhung, im Rahmen von Informations- und Werbeschreiben bzw. Gesprächen sowie im Zusammenhang mit Mitgliederinformationen und "Haltearbeit" darauf hingewiesen, durch die Fusion sei eine neue Krankenkasse mit einem neuen Beitragssatz entstanden, weshalb es kein Sonderkündigungsrecht gebe. Ein Kassenwechsel sei erst mit Ablauf der 18-monatigen Bindungsfrist möglich.

Die Ast. hat schriftlich beantragt,

den Beschluss vom 08.07.2004 aufzuheben und der Beschwerde der Beschwerdeführerin voll umfänglich stattzugeben.

Die Antragstellerin, Beschwerdegegnerin und jetzige Antragsgegnerin (Ag.) hat schriftlich beantragt,

die Gegenvorstellung zurückzuweisen.

Sie hat vorgetragen, der von der Ast. angesprochene Sachverhalt sei ebenso wie sämtliche Argumentationen der Ast. Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen und zu Recht vom Senat festgestellt worden. Diesem Sachverhalt sei die Ast. auch nicht entgegengetreten.

Für die Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten verwiesen.

II.

1. Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs hat keinen Erfolg.

a)

Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ist statthaft. Das folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 321 a der Zivilprozessordnung (ZPO) gem. § 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung fachgerichtlichen Rechtschutzes bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das Grundgesetz (GG) sichert rechtliches Gehör im gerichtlichen Verfahren durch das Verfahrensgrundrecht des Art. 103 Abs 1 GG. Garantiert ist den Beteiligten oder Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Insbesondere sichert das Verfahrensgrundrecht, dass sie mit Ausführungen und Anträgen gehört werden. Dementsprechend bedeutsam für den Rechtsschutz ist die Möglichkeit der Korrektur einer fehlerhaften Verweigerung rechtlichen Gehörs. Dies setzt die Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle der Beachtung des Verfahrensgrundrechts voraus. Die Überprüfung von gerichtlichen Gehörsverstößen und ihre Beseitigung hat die Fachgerichtsbarkeit vorzunehmen, der die rechtsprechende Gewalt in erster Linie anvertraut ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.10.2003, Aktenzeichen (Az) 1 BvR 10/99, BVerfGE 108, S. 341ff.). Entsprechende Rechtsbehelfe zu den Fachgerichten hat der Gesetzgeber bei entscheidungserheblichen Gehörsverletzungen allerdings nur teilweise geschaffen, nämlich nur soweit derartige Rügen noch im allgemeinen Rechtsmittelsystem oder etwa durch befristete Anhörungsrügen wie § 321a ZPO geltend gemacht werden können. Im Übrigen besteht ein Rechtsschutzdefizit. Um Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen, sind von der Rechtsprechung teilweise auch außerhalb des geschriebenen Rechts außerordentliche Rechtsbehelfe geschaffen worden. Diese genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit nicht. Die Rechtsbehelfe müssen in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sein. Deshalb widerspricht die gegenwärtige Praxis der Aufgabenverteilung zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie kann nur noch für eine Übergangszeit bis zum 31.12.2004 hingenommen werden, soweit nicht schon durch das Zivilprozessreformgesetz vom 27.07.2001 Abhilfe geschaffen worden ist. Soweit der Gesetzgeber keine rechtzeitige Neuregelung trifft, sind Verfahren auf Antrag vor dem Gericht fortzusetzen, dessen Entscheidung wegen einer behaupteten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör angegriffen wird. Der Antrag ist binnen 14 Tagen seit Zustellung der Entscheidung zu stellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2003, Az. 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107, 395ff.). In Ausfüllung dieses Rahmens ist mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeiten von einer entsprechenden Anwendung des § 321 a ZPO auf (letztinstanzliche) Beschlüsse des Landessozialgerichts auszugehen. Das Bundessozialgericht hat insoweit - soweit ersichtlich - noch nicht Gelegenheit gehabt, zu einer zulässigen Gehörsrüge Stellung zu nehmen (vgl. zu einer unzulässigen Gegenvorstellung unter Hinweis auf die Recht- sprechung des BVerfG BSG, Beschluss vom 05.08.2004, B 2 U 200/04 B, mwN). Die Rechtsprechung des BFH geht davon aus, die Statthaftigkeit der Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs sei auf die entsprechende Anwendung von § 321 a ZPO zu stützen. Die Vorschrift sei zwar unmittelbar nur auf unanfechtbare Entscheidungen der Gerichte des ersten Rechtszuges der Zivilgerichtsbarkeit anwendbar. Sie gelte indessen entsprechend auch für die Gerichte anderer Gerichtsbarkeiten, insbesondere der Finanzgerichtsbarkeit (vgl. Beschluss vom 05.12.2002, Az. IV B 190/02, BFHE 200, 42, und ständig, vgl. Beschluss vom 26.02.2004, Az. IV S 12/03, BFH/NV 2004, 972f., mwN). Die entsprechende Anwendung der Norm ist danach auch nicht auf Gerichte der ersten Instanz beschränkt. Sie ist vielmehr immer dann geboten, wenn die Entscheidung eines Gerichts nicht mehr anfechtbar ist. Dementsprechend ist die Regelung auch auf nicht anders angreifbare Beschlüsse anzuwenden (vgl. BFH, Beschluss vom 22.07.2004, Az. VII B 148/04 zur Behandlung einer außerordentlichen Beschwerde gegen einen Beschluss des Finanzgerichts auf Gegenvorstellung; vgl. entsprechend auch BFH, Beschluss vom 26.07.2004, Az. VII B 94/04; ebenso BFH, Beschluss vom 22.04.2004, Az. VI B 57/04, mwN). Nicht anders geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass nach dem Rechtsgedanken von § 321 a ZPO gegen Beschlüsse des Oberverwaltungsgerichts nur die Selbstkorrektur nach dieser Norm, nicht aber eine außerordentliche Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.05.2002, Az. 6 B 28 und 29/02, NJW 2002, 2657, mwN). Dieser Rechtsprechung ist auch für den Bereich des Sozialgerichtsgesetzes uneingeschränkt jedenfalls seit Inkrafttreten der Neuregelungen durch das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz (KostRMG vom 05.05.2004, BGBl I, S 717) zu folgen. Dieses Gesetz sieht in der Anlage 1 Teil 7 (Verfahren von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit) unter Hauptabschnitt 4 Nr. 7400 Verfahren über die Rüge wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§§ 321 a ZPO, 202 SGG) vor. Diese Regelung des Gesetzes spricht dafür, von einem Anwendungsbereich des § 321 a ZPO iVm § 202 SGG außerhalb von erstinstanzlichen Urteilen auszugehen. Wie aus § 321 a Abs 1 Nr. 1 ZPO erhellt, ist die Regelung unmittelbar für erstinstanzliche Urteile gedacht, die nicht anderweitig überprüfbar sind. Dementsprechend geht die höchstrichterliche Rechtsprechung davon aus, dass das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung eines Rechtsmittels ein Abhilfeverfahren entsprechend § 321 a ZPO verdrängt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.06.2003, Az. 7 B 106/02, NVwZ 2003, 1132ff., mwN). Gegen erstinstanzliche Urteile der Sozialgerichte findet demgegenüber nach § 145 SGG die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung statt. Die Regelung hätte danach keinen Anwendungsbereich. Das lässt sich mit den dargelegten verfassungsrechtlichen Gründen und dem Rechtsgedanken der Verweisung im Rahmen des § 202 SGG nicht vereinbaren. Das GKG in der Fassung des KostRMG ist auf das vorliegende Verfahren nach § 72 Nr. 1 anzuwenden, da die Gehörsrüge nach dem 01.07.2004 erhoben worden ist. Sie ist insoweit einem Rechtsmittel gleich zu erachten. Die Ast. hat die Rügeschrift aber nicht innerhalb der Frist von 2 Wochen beginnend mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Beschlusses vom 08.07.2004 eingereicht. Ausweislich des Empfangsbekenntnisses des Prozessbevollmächtigten der Ast. ist die Beschlussausfertigung am 19.07.2004 der Ast. zugestellt worden. Die Ast. hat ihre Gehörsrüge aber erst am 19.08.2004 eingereicht.

b)

Aber auch wenn man der Ast. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter Berücksichtigung dessen gewähren will, dass an die Voraussetzungen des § 67 SGG - Verhinderung ohne Verschulden, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten - keine überspitzten Anforderungen zu stellen sind, auch wenn das Verschulden des Prozessbevollmächtigten nach § 72 SGG dem Verschulden des Beteiligten gleich steht und der Rechtsanwalt bei zweifelhafter Rechtslage den sichersten Weg auszuwählen hat, sind die Voraussetzungen des § 321 a ZPO nicht erfüllt. Der Senat hat den Anspruch auf rechtliches Gehör in nicht entscheidungserheblicher Weise verletzt, wie es § 321 a Abs 1 Nr. 2 ZPO voraussetzt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist erst dann verletzt, wenn das Gericht den Hinweis auf einen entscheidungserheblichen rechtlichen Gesichtspunkt unterlässt, mit dem auch ein gewissenhafter und rechtskundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen braucht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.01.2004, Az. 1 BvR 864/03, NJW 2004, 1371ff.; BVerfG, B. vom 14.07.1998, Az. 1 BvR 1640/97, E 98, 218ff., 263). Daran fehlt es. Die Ast. rügt, überraschend und unzutreffend sei der Senat davon ausgegangen, die Ast. habe anlässlich von Kündigungen wegen Beitragserhöhungen, im Rahmen von Informations- und Werbeschreiben bzw. -gesprächen sowie im Zusammenhang mit Mitgliederinformationen und "Haltearbeit" darauf hingewiesen, durch die Fusion sei eine neue Krankenkasse mit einem neuen Beitragssatz entstanden, so dass sich kein Sonderkündigungsrecht ergebe. Diesen Sachverhalt konnte der Senat indes zugrundelegen, ohne das rechtliche Gehör der Ast. zu verletzen. Die Ag. hatte unter Beweisantritt in diesem Sinne vorgetragen. In der mündlichen Verhandlung vom 08.07.2004 hat zudem der Senat im Interesse der Aufklärung des Sachverhalts und zur Wahrung des rechtlichen Gehörs der Beteiligten gerade diesen Gesichtspunkt ausführlich erörtert, da in Betracht kam, den Antrag der Ag. einschränkend auszulegen, wie es im Beschluss vom gleichen Tage der Senat dann auch vorgenommen hat. In diesem Zusammenhang hat der Prozessbevollmächtigte der Ast. auf ausdrückliches Befragen vor und auf wiederholtes Befragen nach der rechtlichen Erörterung ausgeführt, dieser ihm vorgehaltene Sachverhalt sei unstreitig. Eine intensivere Gewährung des rechtlichen Gehörs ist nach allgemeinen Maßstäben kaum vorstellbar.

2.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 154 VwGO, Anlage 1 zum GKG Nr. 7400. Zum Streitwert verweist der Senat auf den Beschluss vom 16.08.2004.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved