L 8 RJ 57/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 15 RJ 175/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 RJ 57/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.03.2004 wird zurückgewiesen. AußergerichtlicheKosten sind zwischen den Beteiligten auch für den Berufungsrechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem am 00.00.1928 in Lodz/Polen geborenen Kläger eine höhere Altersrente unter Berücksichtigung weiterer Beitragszeiten zusteht.

Der Kläger war als jüdischer Volkszugehöriger der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt und ist als Verfolgter anerkannt. Nach seinen Angaben im Entschädigungsverfahren lebte er von Mai 1940 bis August 1944 im Ghetto Lodz, danach bis zu seiner Befreiung am 23.04.1945 in den Konzentrationslagern Auschwitz, Gleiwitz und Flossenburg. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt im DP-Lager Bergen-Belsen nahm er Aufenthalt in Schweden und wanderte 1948 von dort über Zypern nach Israel ein, wo er seitdem als israelischer Staatsangehöriger lebt.

Auf den am 09.01.1991 gestellten Antrag bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 22.07.1998 Regelaltersrente ab 01.01.1993 unter Anerkennung von Beitragszeiten von Januar 1942 bis August 1944 und Ersatzzeiten von September 1944 bis 23.04.1945. Mit Änderungsbescheid vom 31.07.2000 erkannte die Beklagte weiter eine Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts vom 24.04.1945 bis 31.12.1949 an. Die Rentenhöhe belief sich sodann ab 01.09.2000 auf 327,60 DM. Grundlage für die Rentengewährung waren Angaben des Klägers vom 19.08.1991 (Beschäftigungsfragebogen), er habe von Januar 1942 bis August 1944 im Ghetto Lodz in dem Ressort Teppichfabrikation gearbeitet. Ergänzend gab der damalige Bevollmächtigte des Klägers am 19.08.1995 an, von Januar 1942 bis August 1944 seien aus Verfolgungsgründen keine Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung entrichtet worden.

Die Beklagte hatte zur Prüfung des Rentenantrags die Entschädigungsakten des Klägers beigezogen. Danach hatte der Kläger am 08.01.1956 angegeben, mit der Errichtung des Ghettos Lodz im Mai 1940 in das Ghetto eingewiesen worden zu sein. Hier habe er in der Teppichweberei arbeiten müssen. Der Leiter des Teppichressorts habe L geheißen. In einer Erklärung der 1928 geborenen C I vom 21.11.1991 wird bezeugt, dass der Kläger in der Zeit von Januar 1942 bis August 1944 bei der Ghettoverwaltung der Stadt M im Teppichressort gearbeitet habe. Weiter wurde eine Zeugenerklärung der D X, geboren 1927, vom 17.10.1991 vorgelegt, wonach der Kläger in der Teppichfabrikation als Arbeiter gearbeitet habe. Die Tätigkeit habe er von Anfang 1942 bis August 1944 ausgeübt. Für sich selbst hatte die Zeugin in ihrem eigenen Rentenverfahren eine Tätigkeit als Näherin ab Oktober 1942 im Ghetto angegeben. Aus der Entschädigungsakte zog die Beklagte folgende Unterlagen bei:

-Erklärung des 1928 geborene K T vom 30.01.1956, der Kläger und er seien im Mai 1940 in das Ghetto Lodz eingewiesen worden; während er im Tischlerressort gearbeitet habe, habe der Kläger im Teppichressort gearbeitet.

-Erklärung der 1923 geborenen K1 E vom 16.01.1956, sie habe den Kläger im Mai 1940 im Ghetto Lodz kennengelernt, sie habe in der Kunststickerei gearbeitet, er im Teppichressort.

-Psychiatrisches Gutachten vom 08.12.1974 von Dr. H, wonach der Kläger in der Anamnese angegeben habe, bis Spätsommer 1944 in Lodz gelebt zu haben. Er habe im Ghetto gelebt und dort im Teppichressort arbeiten müssen.

Am 13.09.2000 beantragte der Kläger im Rahmen des Widerspruchs gegen den Änderungsbescheid vom 31.07.2000 die Berücksichtigung weiterer Beschäftigungszeiten. Er trug vor, er sei bereits vor Vollendung seines 14. Lebensjahres abhängig im Ghetto beschäftigt gewesen.

Mit Bescheid vom 17.11.2000 lehnte die Beklagte den Antrag auf Anerkennung von Beitragszeiten vor dem 01.01.1942 im Ghetto Lodz ab. Hiergegen legte der Kläger am 17.11.2000 Widerspruch ein. Er trug vor, sein Vortrag im Entschädigungsverfahren gebe Hinweise auf eine Beschäftigung bereits vor Januar 1942. Die Angabe des Beschäftigungsbeginns ab Januar 1942 in dem Rentenverfahren erkläre sich mit der damals üblichen (inzwischen überholten) Praxis der Versicherungsträger, eine versicherungspflichtige Tätigkeit vor Vollendung des 14. Lebensjahres nicht anzuerkennen. Mit Widerspruchsbescheid vom 22.11.2001 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Der Einsatz von Kindern in den Werkstätten des Ghettos sei, wie historisch belegt sei, frühestens im Laufe der ersten Jahreshälfte 1942 durch den Judenältesten organisiert worden. Es bestünden aber auch weitere Zweifel daran, dass der Kläger im fraglichen Zeitraum vor 1942 im Teppichressort eingesetzt worden sei. Die zum Rentenantrag vorgelegten Zeugenerklärungen von C I und D X hätten den 01.01.1942 als Beschäftigungsbeginn im Ghetto Lodz angegeben. Aber selbst wenn ein freiwilliges Beschäftigungsverhältnis vor Vollendung des 14. Lebensjahres angenommen werde, so könne nicht davon ausgegangen werden, dass es sich um eine Beschäftigung gegen Entgelt im Sinne von § 1226 Reichsversicherungsordnung (RVO) alter Fassung gehandelt habe. Danach sei ein Beschäftigungsverhältnis versicherungsfrei gewesen, wenn die Entgeltgewährung durch freien Unterhalt in Form von Sachbezügen erfolgt sei. Allein die Tatsache, dass im Ghetto Lodz Kinder ab 10 Jahren zu den Arbeitsfähigen gerechnet worden seien, rechtfertige nicht eine Regelvermutung, dass sie in jeder Beziehung wie ältere Jugendliche oder Erwachsene behandelt worden seien und dementsprechend Barlohn in Ghettomark nicht unter dem Ortslohndrittel erhalten hätten.

Hiergegen hat der Kläger am 05.12.2001 Klage erhoben.

Der Kläger hat vorgetragen, historische Unterlagen belegten, dass entlohnte Kinderarbeit ab Juli 1941 stattgefunden habe.

Der Kläger hat keinen ausdrücklichen Klageantrag gestellt.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Auf Anfrage des Sozialgerichts hat das Staatsarchiv Lodz am 17.04.2002 mitgeteilt, dass die Nachforschungen in den Akten des Vorsitzenden des Ältestenrates der Juden im Ghetto Lodz, Jahrgänge 1940 bis 1944, sowie in den Arbeitskarten und Meldekarten der Ghettoeinwohner ergeben hätten, dass Archivdaten einer Person mit dem Namen T A, geboren am 00.00.1928, nicht gefunden werden konnten. Weiter hat das Sozialgericht das zuständige israelische Gericht um Vernehmung der Zeugen E K, C I und D X ersucht. Wegen des Ergebnisses wird auf die Sitzungsniederschrift der Zeugenvernehmung vor dem Richter Steinmetz, Friedensgericht Haifa, vom 21.05.2003 verwiesen. Die Zeugin E K konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht vernommen werden.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 11.03.2004 abgewiesen. Die Voraussetzungen für die Anerkennung weiterer fiktiver Beitragszeiten nach §§ 15, 17 1b) des Fremdrentengesetzes (FRG) in der bis zum 31.12.1991 gültigen Fassung und § 12 des Gesetzes zur Wiedergutmachung national-sozialistischen Unrechts in der Sozialverscherung (WGSVG)seien nicht erfüllt. Die Glaubhaftmachung der versicherungspflichtigen Beschäftigung des Klägers vor dem 01.01.1942 sei nach dem Gesamtergebnis der Ermittlungen nicht gelungen. Der einzige Umstand, der für die Ausübung einer Tätigkeit vor diesem Zeitpunkt spreche, sei der eigene Vortrag des Klägers im gerichtlichen Verfahren und im Verwaltungsverfahren ab August 2000. Die im Entschädigungsverfahren abgegebenen Zeugenerklärungen von K T und K1 E ließen zwar den Schluß zu, dass der Kläger einer Tätigkeit im Teppichressort überhaupt nachgegangen sei. Der Beginn der Tätigkeit ergebe sich hieraus jedoch nicht. Die im Wege der Rechtshilfe vernommenen Zeugen D X und C I hätten ausgesagt, sich an den Kläger und dessen Berufstätigkeit im Ghetto Lodz überhaupt nicht erinnern zu können, obgleich deren Erklärungen im Verwaltungsverfahren zur Glaubhaftmachung der streitigen Beitragszeiten gedient hätten. Beweismittel, die für die behauptete Beschäftigung sprächen, lägen daher nicht vor. Bei diesem Sachverhalt komme es auf die weiteren, gegen eine Beschäftigung vor Vollendung des 14. Lebensjahres sprechenden Umstände nicht mehr an. So habe der Kläger im Rentenantragsformular trotz der Aufforderung, alle Tätigkeiten lückenlos anzugeben, hinsichtlich seiner Tätigkeit im Teppichressort lediglich die Zeit ab 1942 angegeben. Auch die bekannten historischen Tatsachen, auf die sich der Kläger berufe, sprächen nicht für eine Beschäftigungsaufnahme vor Januar 1942. Zwar sei ein solcher Einsatz nicht ausgeschlossen. Ein verstärkter Einsatz von Kindern in den Ghettobetrieben in Lodz sei aber erst im Jahre 1942 erfolgt. Gegen das am 21.04.2004 zugestellte Urteil hat der Kläger am 27.04.2004 Berufung eingelegt.

Der Kläger macht geltend, von seinem früheren Bevollmächtigten sei die Anerkennung der Beitragszeiten aufgrund der Tätigkeit im Ghetto Lodz erst ab Januar 1942 beantragt worden, weil nach der damals gültigen Rechtsauffassung der Beklagten Versicherungszeiten vor Vollendung des 14. Lebensjahres grundsätzlich nicht anerkannt worden seien. Entgegen den Ausführungen der Beklagten und im erstinstanzlichen Urteil habe der Kläger bereits im Entschädigungsverfahren angegeben, dass seine Eltern vor dem Krieg in Lodz gewohnt hätten und die Familie nach Errichtung des Ghettos im Mai 1940 eingewiesen worden sei. Dort habe er in der Teppichweberei arbeiten müssen. Nach der Liquidation des Ghettos im August 1944 sei er mit seinen Eltern nach Auschwitz-Birkenau verbracht worden. Er meint, durch die Angaben im Entschädigungsverfahren sei glaubhaft gemacht, dass er von Beginn an im Ghetto Lodz abhängig beschäftigt gewesen sei. Daran könnten die Ausführungen des Gerichts, der verstärkte Einsatz von Kindern in den Ghettobetrieben in Lodz habe erst im Laufe des Jahres 1942 eingesetzt, nichts ändern; diese Ausführungen seien schlichtweg unrichtig und nicht belegt. Er sei im Übrigen noch bemüht, eine weitere Zeugenerklärung beizubringen.

Er hat ergänzend die Fotokopie eines Arbeitsblattes vorgelegt, welches von seinem früheren Bevollmächtigten Rechtsanwalt C zur Vorbereitung der Rentenverfahren verwandt worden sei. Daraus sei ersichtlich, dass nur Angaben zu Berufstätigkeiten nach dem 14. Lebensjahr abgefragt worden seien.

Schließlich beruft sich der Kläger auf einen Parallelfall, der vor dem Landessozialgericht mit einer Berufungsrücknahme der Beklagten geendet habe (L 18 RJ 64/02/Vers.-Nr.: 000).

Der Kläger beantragt sinngemäß nach seinem schriftsätzichen Vorbringen,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.03.2004 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.11.2001 zu verurteilen, die Rentenbescheide vom 22.07.1998 und 31.07.2000 zu ändern und die Rente ab 01.01.1993 unter rentensteigender Berücksichtigung der Zeit von Mai 1940 bis Dezember 1941 als weiterer fiktiver Beitragszeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Bei dem vom Kläger erwähnten Parallelfall sei die Glaubhaftmachung der Arbeitszeit vor Vollendung des 14. Lebensjahres nicht streitig gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Rentenakte der Beklagten, der Gerichtsakte SG Düsseldorf (S 3 RJ 212/98) und der Entschädigungsakte - 000 - verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte gemäß §§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1, 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Abwesenheit des Klägers oder eines Vertreters verhandeln und entscheiden, weil sein Prozessbevollmächtigter in der ihm am 15.01.2005 zugestellten Terminsmitteilung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war.

Streitgegenstand ist nach dem Begehren des Klägers (ein konkreter Klageantrag wurde nicht gestellt) der Anspruch auf eine höhere Altersrente ab 1.1.1993 unter zusätzlicher Berücksichtigung der Beitragszeit vom 1.5.1940 bis 31.12.1941 für eine Beschäftigung im Teppichressort des Ghettos Lodz. Zwar steht einer derart weitgehenden Rückwirkung grundsätzlich die insoweit eingetretene Bestandskraft des Rentenbescheides vom 20.07.1998 entgegen; der hiergegen eingelegte Widerspruch war nämlich auf die zunächst unterbliebene Berücksichtigung der Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes beschränkt. Auf den mit Widerspruch gegen den Rentenänderungsbescheid vom 31.7.2000 erstmals geltend gemachten Anspruch auf Anerkennung einer weiteren Beitragszeit hat die Beklagte mit Bescheid vom 17.11.2000 jedoch eine rückwirkende Zweitregelung getroffen, ohne sich auf die eingetretene Teil-Bestandskraft des Rentenbescheides vom 22.07.1998 zu berufen.

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das angefochtene Urteil ist nicht zu beanstanden. Der angefochtene Bescheid vom 17.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.11.2001 ist nicht rechtswidrig. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Anerkennung einer weiteren Beitragszeit bei der Berechnung seiner Altersrente nicht zu. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen der erstinstanzlichen Entscheidung Bezug (§ 153 Abs 2 SGG). Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die im Berufungsverfahren konkretisierte frühere Bearbeitungspraxis, nach der nur die Beschäftigungsverhältnisse ab Vollendung des 14. Lebensfahres erfragt worden seien, nicht dazu führen kann, die zeitlichen Rahmendaten eines möglichen früheren Beschäftigungsverhältnisses zu ersetzen. Die vom Sozialgericht nach umfänglicher Beweisaufnahme dargelegten Beweisdefizite für die Gaubhaftmachung der tatsächlichen Voraussetzungen einer früheren Beschäftigung behalten nach wie vor ihre volle Gültigkeit.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Anlass, die Revision zuzulassen, bestand nicht, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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