L 10 VJ 45/96

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
10
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 7 (25) V 241/94
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 VJ 45/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25.06.1996 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für den zweiten Rechtszug zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin streitet um Versorgung nach dem Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten bei Menschen (Infektionsschutzgesetz -IfSG), in Kraft getreten am 01.01.2001.

Die 1970 geborene Klägerin wurde am 31.08.1970 im Alter von etwa 4 Monaten im Gesundheitsamt I erstmalig gegen Diphtherie, Tetanus (Wundstarrkrampf) und Pertussis (Keuchhusten) geimpft.

Am 30.12.1989 beantragte sie unter Übersendung schriftlicher Erklärungen der V X, N Q und D X1 die Anerkennung einer körperlichen und geistigen Behinderung als Impfschaden nach dem bis zum 31.12.2000 geltenden Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen (Bundes-Seuchengesetz - BSeuchG) mit der Begründung, wenige Stunden nach der Impfung habe sie ständig geweint, am Tag danach habe sie völlig verändert und teilnahmslos im Bett gelegen. Mit der Impfung sei ein Bruch in ihrer Entwicklung eingetreten. Der behandelnde Kinderarzt Dr. X habe ihren Eltern zu verstehen gegeben, dass sich diese Veränderungen zurückentwickeln würden. Trotz Bedenken ihrer Mutter habe er zwei weitere Impfungen gegen Masern empfohlen und durchgeführt. Wegen der Differenzen in der Beurteilung ihrer Entwicklung habe sie den Arzt gewechselt und sei ab 1971 von dem Kinderarzt Dr. C behandelt worden.

Auf Anforderung des Beklagten übersandte Dr. N, Kinderklinik des Allgemeinen Krankenhauses für die Stadt I, Unterlagen über die am 30.09.1970 auf Veranlassung des Kinderarztes Dr. X durchgeführte EEG-Untersuchung (Anamnesebericht, Bericht über das Ergebnis der EEG-Untersuchung, Arztbrief an Dr. X). Ferner lagen dem Beklagten Berichte und Arztbriefe über Untersuchungen der Klägerin im Mai/Juni 1973 in der Klinik X und im Juni 1973 in der DRK-Kinderklinik T, über ambulante und stationäre Behandlungen von Juli bis Oktober 1975, im November 1976 und von Januar bis April 1977 in der D-Jugendklinik O sowie eine im Oktober 1977 ausgestellte Bescheinigung des Kinderarztes Dr. C und ein Befundbericht der Internisten Dres. H/I von Dezember 1989 vor.

Auf Veranlassung des Beklagten erstattete Dr. B, Neurologische Klinik der Ruhr-Universität C im St. K-Hospital, sein Gutachten vom 13.10.1990. Auf seine Empfehlung, zur Klärung der Ursache der Gesundheitsstörungen eine computer- und kernspintomographische Untersuchung, eine Chromosomenanalyse, sowie Untersuchungen zum Ausschluss von Stoffwechselkrankheiten zu veranlassen, wurde im Januar 1991 eine computer- und kernspintomographische Untersuchung im Institut für Strahlendiagnostik in den Städtischen Kliniken E durchgeführt. Prof. Dr. N1 wertete das Computertomogramm als normal. Kernspintomographisch hat er lediglich eine geringe Erweiterung des Ventrikelsystems feststellen können. Zeichen für eine postvakzinale Encephalopathie verneinte er.

Nach versorgungsärztlicher Auswertung der medizinischen Unterlagen und Gutachten lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 22.03.1991 Versorgung nach dem BSeuchG ab; die Gesundheitsstörungen der Klägerin stünden in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der Impfung.

Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, im Hinblick auf die von ihr beigebrachten schriftlichen Zeugenerklärungen sowie den Umstand, dass das neurologische Gutachten von Dr. B zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen sei, müsse ein Gutachten von einem auf die Beurteilung von Impfschäden spezialisierten Arzt eingeholt werden.

Daraufhin beauftragte der Beklagte Prof. Dr. X1/Prof. Dr. T, Klinik und Poliklinik für Kinder und Jugendliche, Universität F, mit einer weiteren Begutachtung. Die Gutachter, die weitere Zusatzuntersuchungen, u. a. eine Stoffwechsel- und Chromosomenuntersuchung sowie eine Computer- und Kernspintomographie durchführten, konnten eine Ursache für die körperliche und geistige Behinderung der Klägerin nicht feststellen (Gutachten vom 01.03.1999). Der gesamte klinische Verlauf einschließlich zahlreicher objektiver Zusatzuntersuchungen spreche in keiner Weise für eine postvakzinale Schädigung. Bei dem vorliegenden schweren Krankheitsbild hätte nach der Impfung ein schweres neurologisches Krankheitsbild, wie Krämpfe und sonstige Reaktionen, vorliegen müssen. Das EEG vom 30.09.1970 sei jedoch als normal beschrieben worden, und die körperliche Untersuchung zum gleichen Zeitpunkt habe lediglich eine etwas retardierte statische Entwicklung gezeigt. Dass die durchgeführten Zusatzuntersuchungen nicht den Nachweis der äthiologischen Zuordnung des Krankheitsbildes erbracht hätten, sei kein Beweis für einen ursächlichen Zusammenhang mit der durchgeführten Impfung, denn bei 40 % aller Fälle könnten geistige Behinderungen tatsächlich nicht zugeordnet werden. Allein die Tatsache einer genetischen Belastung in der mütterlichen Familie lasse eine hirnorganische Einbuße bei der Klägerin auf genetischer Basis als möglich erscheinen. Eine pränatale Schädigung der Klägerin könne z. B. auch in der Tatsache begründet sein, dass im 6. und 7. Schwangerschaftsmonat eine Präeklampsie vorgelegen habe und die Geburt 3 Wochen vor dem errechneten Termin erfolgt sei.

Daraufhin wies der Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 29.08.1994 zurück.

Mit ihrer am 26.09.1994 beim Sozialgericht (SG) Dortmund erhobenen Klage hat die Klägerin im Wesentlichen auf ihren Vortrag im Verwaltungsverfahren verwiesen.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 22.03.1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.08.1994 zu verurteilen, bei ihr "Intelligenzdefekt vom Grad der Imbezillität, leichte spastische Halbseitenlähmung" als gesundheitliche Folgen eines Impfschadens anzuerkennen und ihr ab Dezember 1989 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens von dem ehemaligen Direktor der Landeskinderklinik O, Prof. Dr. L, vom 30.06.1995 und dessen ergänzender Stellungnahme vom 31.01.1996. Der Sachverständige hat bei der Klägerin einen Intelligenzdefekt vom Grade der Imbezillität sowie eine leichte spastische Halbseitenlähmung festgestellt und diese Gesundheitsstörungen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vom Hundert (v.H.) bewertet. Entwicklungsknick und anschließende Entwicklungskurve bei der Klägerin seien ein Indiz dafür, dass die Gesundheitsstörungen ursächlich auf ein einmaliges, zeitlich eng umgrenztes Schadensereignis zurückgingen. Die normalen EEG-Befunde ebenso wie die Computer- und Kernspinbilder seien grundsätzlich nicht geeignet, einen Impfschaden auszuschließen. Immerhin signalisierten die Bilder vermindertes Hirngewebe und entsprächen somit den (unspezifischen) Erwartungen bei Impfschaden. Enthemmungssymptome wie Fieber, schrilles und unstillbares Schreien sowie Krampfanfälle seien zwar typisch, jedoch nicht obligat für eine akute postvakzinale Symptomatik, die schon am 1. bis 3. Tag beginne. Gerade bei jungen Säuglingen stünden aber mindestens gleichwertig wenig spektakuläre krankhafte Symptome wie Reaktionsverlangsamung, -verlust, Ausdrucksarmut, Apathie, Schläfrigkeit, Nahrungsverweigerung usw. ganz im Vordergrund. Diese Phase der akuten postvakzinalen Erkrankung, also der eigentliche Impfschaden, ende nach wenigen Tagen bis ca. 2 Wochen, um in den Dauerschaden zu münden oder in allmähliche Wiederherstellung. Nur während der Akutphase seien encephalopathische EEG-Zeichen oder (nicht obligat) Liquorveränderungen zu finden, beide eine Encephalopathie anzeigend, jedoch unspezifisch. Ein anschließender Dauerschaden könne, müsse aber nicht auftreten. Sofern nicht ausschließlich ein Krampfleiden resultiere, sei für den Dauerschaden mit Intelligenzdefekt, zebralen Lähmungen usw. typisch die Entwicklungskurve im Sinne des sog. Entwicklungsknicks. Dass schwerwiegende Dauerschäden in der Regel nur nach schwerwiegender postvakzinaler Akutsymptomatik aufträten (sog. Parallelitätsregel), sei ebenfalls nicht obligatorisch. Gerade bei jungen Säuglingen werde nicht nur die überwiegend der Hemmungssymptomatik zuzuordnende und daher undramatische Encephalopathiesymptomatik eher häufig falsch eingeschätzt. Es gebe eine für Impfschäden typische Konstellation. Es gebe jedoch kein Untersuchungsverfahren, das einen Impfschaden positiv beweisen könnte. Bildgebende Verfahren seien nur im Stadium der akuten Encephalopathie und einige Tage darüber hinaus in der Lage, Zeichen von Gewebsuntergang, Oedem, entzündlicher Reaktion sowie schließlich die anschließenden Abräumungsvorgänge zu signalisieren, dies jedoch völlig unabhängig von der Ursache. Aufgrund der Angaben und Aussagen der Eltern, die seit dem Impfjahr in den ärztlichen Aufzeichnungen dokumentiert seien, und der Erklärungen der Zeugen müsse mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf einen durch die Dreifachimpfung verursachten Impfschaden mit anschließendem Dauerschaden geschlossen werden. Sämtlichen möglichen Konkurrenzdiagnosen (2 Fälle von Epilepsie und ein Fall von Hypophysentumor in der Familie der Klägerin, sehr geringfügige und vorübergehende Auffälligkeit der Schwangerschaft, vorzeitiger Geburtstermin, zufällig mit der Postvakzinal-Periode zusammenfallende Virusinfektion), komme eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit zu.

Zu den vom Beklagten übersandten Ausführungen von Prof. Dr. N2, N, es fehlten Hinweise, dass es sich bei den beobachteten Verhaltensauffälligkeiten um Symptome einer akuten Encephalopathie gehandelt habe, die am 2. oder 3. Tag nach der Impfung beobachteten Auffälligkeiten seien als normale Impfreaktion nach Verabreichung eines Impfstoffes mit Pertussis-Komponente zu werten, die Mehrzahl der infantilen Cerebralparesen würden - mit oder ohne vorausgegangene Pertussisimpfung - im Alter von 2 bis 7 Monaten manifest, hat der gerichtliche Sachverständige L abschließend ausgeführt, wenn das Gericht den Angaben der Eltern und Zeuginnen Beweiskraft zubillige, dann habe die Klägerin im Anschluss an die Impfung eine Encephalopathie mit anschließendem Entwicklungsknick und Einmündung in den heutigen Dauerschaden erlitten.

In der mündlichen Verhandlung am 25.06.1996 sind die Eltern der Klägerin als Zeugen vernommen worden für die Behauptung, dass sich die Klägerin bis zur Impfung normal entwickelt habe, danach jedoch ein Entwicklungsknick eingetreten sei. Der Vater hat ausgesagt, die Klägerin habe sich bis zur Impfung normal entwickelt, sie sei vergnügt gewesen, habe gelächelt und gequietscht. Am 2. oder 3. Tag nach der Impfung sei das vorbei gewesen, sie sei so unruhig gewesen, dass er nachts aus dem Schlafzimmer ausgezogen sei, um Ruhe zu finden. Seine Frau habe ihm von erhöhter Temperatur bei der Klägerin berichtet. Nach der Impfung sei es zu einem Entwicklungsstopp gekommen. Die Mutter hat erklärt, man habe mit der Klägerin schäkern können, sie habe fröhlich reagiert, nach Gegenständen gegriffen und ihre Stimme ausprobiert. Nach der Impfung habe sie angefangen zu weinen. Am nächsten Tag habe sie im Bett gelegen und nicht mehr mit einem freien Lachen reagiert. Das Gesicht sei eher eine Grimasse gewesen. Insgesamt seien ihre Bewegungen irgendwie geschwächt gewesen. Auch habe sie nicht mehr gelallt. Ob sie Temperatur gemessen habe, wisse sie nicht mehr. Nach 2 oder 3 Tagen sei sie beim Kinderarzt gewesen, der sie beruhigt habe. Die weitere Entwicklung der Klägerin sei dann im Zeitlupentempo erfolgt.

Das SG ist dem Sachverständigen L gefolgt und hat den Beklagten mit Urteil vom 25.06.1996 verurteilt, bei der Klägerin "Intelligenzdefekt vom Grade der Imbezillität, leichte spastische Halbseitenlähmung" als gesundheitliche Folgen eines Impfschadens anzuerkennen und ihr ab Dezember 1989 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen.

Gegen das ihm am 18.07.1996 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 19.08.1996 Berufung eingelegt und zu deren Begründung vorgetragen, schon ein Impfschaden, nämlich ein über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden, sei nicht nachgewiesen; unter Berücksichtigung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) sei von einer üblichen Impfreaktion auszugehen. Darüber hinaus hat sich der Beklagte auf das Gutachten der Professoren T und X1 berufen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25.06.1996 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25.06.1996 zurückzuweisen.

Sie hat sich im Wesentlichen auf die Ausführungen des Sachverständigen L gestützt und ergänzend vorgetragen, ihre Mutter habe zwar in der Zeit bis zur Impfung den Kinderarzt Dr. X aufgesucht. Bei den Konsultationen sei es jedoch lediglich um das Abstillen und die Beratung bei der Ernährungsumstellung gegangen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Befundberichtes vom 02.12.1997 von dem Kinderarzt Dr. C. Ferner sind vom Evangelischen Krankenhaus I Aufzeichnungen über Geburts- und Wochenbettverlauf übersandt worden. Über medizinische Unterlagen von Untersuchungen und Behandlungen der Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft verfügt das Evangelische Krankenhaus I nicht mehr. Ebensowenig sind bei der BEK H Unterlagen über ärztliche Behandlungen der Klägerin in dem Zeitraum von April bis September 1970 und der Mutter in dem Zeitraum von 1969 bis April 1970 vorhanden. Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, der Kinderarzt Dr. X habe keinen Praxisnachfolger gehabt. Weitere Unterlagen über die Untersuchungen der Klägerin im September 1970 als die bereits im Verwaltungsverfahren übersandten sind beim Allgemeinen Krankenhaus der Stadt I nicht vorhanden.

Ferner hat der Senat die Mutter der Klägerin, die deren gesetzliche Vertreterin ist, gehört und den Vater der Klägerin sowie die kaufmännische Angestellte V X und die Hausfrau N Q im Beisein des zum gerichtlichen Sachverständigen bestellten Prof. Dr. F, Klinik für Epileptologie der Universität C, als Zeugen zur Entwicklung und dem Verhalten der Klägerin vor und nach der Impfung vernommen.

Die Zeuginnen X und Q, die Kinder im Alter der Klägerin haben, haben bekundet, diese habe auf sie bis zur Impfung einen völlig normalen Eindruck gemacht. Danach habe sie sich nicht so wie ihre eigenen Kinder entwickelt. Die Eltern haben im Wesentlichen so wie im erstinstanzlichen Verfahren ausgesagt.

Der Sachverständige F hat in seinem Gutachten vom 24.06.1999 aufgrund zweitägiger stationärer Beobachtung im April 1999 zusammenfassend ausgeführt, er halte einen Impfschaden - in diesem Fall eine eher untypische Encephalopathie eines 4 Monate alten Säuglings - mit nachfolgender psychomotorischer Entwicklungsverzögerung zwar für prinzipiell möglich, jedoch nicht für erwiesen. In der Regel handele es sich bei der Pertussis-Impfencephalopathie um ein schweres Krankheitsbild. Bei Säuglingen könne die Symptomatik im Einzelfall auch schleichend und für den Laien weniger offensichtlich sein. Medizinische Untersuchungen in den Wochen nach der Impfung, die der Unterscheidung zwischen einer Impfencephalopathie mit sich daraus ergebender Entwicklungsverzögerung und einer üblichen Impfreaktion, in deren zeitlichem Zusammenhang eine Entwicklungsverzögerung auffalle, hätten dienen können, seien nicht erfolgt. Weder die Ende September 1970 noch später durchgeführten Untersuchungen hätten den im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung beschriebenen Entwicklungsknick erklären können. Es fänden sich bei einem großen Teil psychomotorisch entwicklungsretardierter Kinder keine definierten Krankheitsursachen. Ein vorgeburtlicher Sauerstoffmangel als Ursache entziehe sich häufig der ärztlichen Beobachtung. Er könne vorliegend nicht sicher ausgeschlossen werden. Falls bei der Klägerin bis zur Impfung eine unauffällige Entwicklung vorgelegen haben sollte, sprächen der abrupte Entwicklungsrückstand, d. h. der Verlust erworbener sog. "Meilensteine" der Entwicklung und die nachfolgenden nur kleinen Entwicklungsschritte gegen einen Sauerstoffmangel vor oder unter der Geburt. Eine ebenfalls in Betracht kommende Aufbau- und Stoffwechselstörung sei trotz unauffälligen Kernspintomographie nicht ausgeschlossen. Aufbau- oder Stoffwechselstörungen führten nach einer zunächst unauffälligen Entwicklung zu einem Entwicklungsstop. Bei der Bewertung der Entwicklung bis zur Impfung sei zu berücksichtigen, dass es für den Laien im Einzelfall schwierig sein könne, Funktionsstörungen unmittelbar nach der Geburt oder im jungen Säuglingsalter zu erkennen. Der Unterschied zwischen normaler und krankhafter Entwicklung werde erst mit zunehmendem Alter immer deutlicher. Er halte die im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung aufgetretenen Verhaltensauffälligkeiten mit Verlust erworbener Fähigkeiten und nachfolgend verlangsamter psychomotorischer Entwicklung nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für Symptome einer postvakzinalen Encephalopathie.

In der mündlichen Verhandlung vom 17.05.2000 hat der Sachverständige F dem Senat sein Gutachten erläutert.

Auf den Antrag der Klägerin gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat Prof. Dr. H1, ehemaliger Direktor der Universitätskinderklinik L, sein Gutachten vom 18.09.2000 erstattet. Er hat sich den Ausführungen des Sachverständigen L angeschlossen und eine postvakzinale Encephalopathie bejaht; andere Ursachen seien weder bekannt noch eruierbar gewesen.

In seinen ergänzenden Stellungnahmen vom 27.12.2000 und 08.06.2001 hat sich der Sachverständige L mit den im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten, den Ausführungen des Sachverständigen F in der mündlichen Verhandlung sowie den gutachtlichen Äußerungen des vom Beklagten gehörten Arztes für Mikrobiologie und Kinderheilkunde, Prof. Dr. T1, C1, auseinandergesetzt und abschließend erneut die Auffassung vertreten, es könne kein vernünftiger Zweifel darin bestehen, dass bei der Klägerin eine Impfencephalopathie mit nachfolgendem Entwicklungsknick und sich entwickelndem postvakzinalen Dauerschaden eingetreten sei.

Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme und des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten sowie die vom Versorgungsamt E übersandten Schwerbehindertenakten - Gz.: 000 - Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.

Der Senat konnte auch in der Sache entscheiden, denn das beklagte Land ist ungeachtet der Auflösung Landesversorgungsamtes (Art. 1 § 3 Satz 2 des gem. Art. 37 Abs. 2 zum 01.01.2001 in Kraft getretenen 2. ModernG (GVBl. NRW, S. 412 ff.) und Übertragung von dessen Aufgaben auf die Bezirksregierung Münster jedenfalls derzeit noch prozessfähig (vgl. Urteil des BSG vom 21.06.2001 - Az.: B 9 V 5/00 -; Urteil des Senats vom 31.01.2000 - Az.: L 10 Vs 28/00 - NWVBl. 10/2001 S. 401).

Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 22.03.1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.08.1994 beschwert die Klägerin rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Das SG hat zu Recht den Beklagten zur Anerkennung der Gesundheitsstörungen "Intelligenzdefekt vom Grade der Imbezillität, leichte spastische Halbseitenlähmung" als Impfschadensfolge und zur Leistung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verurteilt.

Gem. den §§ 60 Abs. 1, 2 Nr. 11, 61 des am 01.01.2001 in Kraft getretenen IfSG, die den Vorschriften des vom SG zu Recht herangezogenen BSeuchG (§§ 51 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2) im Wesentlichen entsprechen, erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme zur spezifischen Prophylaxe, die

1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

3. gesetzlich vorgeschrieben war oder

4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

Der Versorgungsanspruch setzt voraus, dass durch schädigende Einwirkungen eine gesundheitliche (Primär-)Schädigung eingetreten ist und dass Gesundheitsstörungen vorliegen, die als deren Folgen zu bewerten sind. Die Impfung als das schädigende Ereignis, der Impfschaden als die (Primär-)Schädigung und die Schädigungsfolgen müssen mit an Sicherheit grenzender, ernste vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit erwiesen sein (BSG, Urteil vom 19.03.1986 - Az.: 9a RV 2/84 - in: SozR. 3850, § 51 BSeuchG Nr. 9). Lediglich für den Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und der (Primär-)Schädigung sowie zwischen dieser und den Schädigungsfolgen genügt es, wenn die Kausalität wahrscheinlich gemacht ist (§ 61 Satz 1 IfSG).

Wahrscheinlich in diesem Sinne ist die Kausalität dann, wenn wenigstens mehr für als gegen sie spricht d.h. die für den Zusammenhang sprechende Umstände mindestens deutlich überwiegen (vgl. BSG SozR 3850 § 51 Nr 9 mwN sowie BSG vom 15. August 1996 - 9 RVi 1/94 -). Impfschaden ist nach der Legaldefinition des § 2 Nr. 11 lfSG nicht jede Gesundheitsstörung, die auf der Impfung beruht, vielmehr muß bei dem Betroffenen ein über die übliche Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden als unerläßliches Mittelglied in der Ursachenkette zwischen Impfung und verbleibender Gesundheitsstörung tatsächlich festgestellt werden, um rechtlich als Impfschaden gewertet werden zu können (BSG SozR 3850 § 51 Nr 10; BSG vom 27.08.1998 - B 9 VJ 2/97 R -; vgl. auch AHP 1996, Ziffer 56 Abs. 1).

Diese Voraussetzungen sind zur Überzeugung des Senats erfüllt.

Ausweislich der Eintragung des Gesundheitsamtes der Stadt I im Impfbuch ist die Klägerin am 31.08.1970 gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis geimpft worden. Diese sog. Dreifachimpfung erfolgte aufgrund einer öffentlichen Empfehlung (RdErl. d. IM vom 04.02.1963 - VI B 2 - 20.00 - VI C 1 - 14.13 zu Ziffer 3.21 in Ministerialblatt NRW 1963 I).

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht mit an Sicherheit grenzender, ernste vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit fest, dass die Klägerin als Folge dieser Impfung einen Impfschaden erlitten hat. Welche Impfreaktion als Impfschaden anzusehen ist, lässt sich im allgemeinen den AHP - jeweils Nr. 57 der AHP 1983 und AHP 1996 - entnehmen. Die AHP geben den in der herrschenden medizinischen Lehrmeinung entsprechenden aktuellen Kenntnis- und Wissensstand wieder, u.a. auch über Auswirkungen und Ursachen von Gesundheitsstörungen nach Impfungen (BSG vom 27.08.1998 - B 9 VJ 2/97 R -). Die als medizinische Sachverständige tätigen Gutachter sind an die in den AHP enthaltenen Erkenntnisse für Begutachtungen gebunden (BSG aaO mwN). Zwar beruhen die AHP weder auf einem Gesetz, noch einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften, so dass sie keinerlei Normqualität haben. Dennoch wirken sie in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit, haben deshalb normähnlichen Charakter und sind im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen heranzuziehen (BSG aaO mwN).

In Nr. 57 Ziffer 11 beschreiben die AHP die üblichen Impfreaktionen und Impfschäden des 1970 noch gebräuchlichen Vollbakterienimpfstoffs bei einer Pertussis-Schutzimpfung. Danach kann gelegentlich nach anhaltendem schrillen Schreien, dabei oft hirnorganische Anfälle, innerhalb von drei Tagen eine Encephalopathie auftreten. "Schrilles Schreien" oder hirnorganische Anfälle im Sinne einer über das übliche Maß hinausgehenden Impfreaktion (hierzu auch OLG Stuttgart MedR 2000, 35, 36: schrilles Schreien als Zeichen einer akuten Impfenzephalopathie) innerhalb der Inkubationszeit sind indessen nicht nachgewiesen. Weder aus den Erklärungen der Eltern, noch den Aussagen der Zeuginnen Q und X, noch der Anamneseschilderung der zur Impfung zeitnahen Untersuchung am 30.09.1970 lässt sich hierzu etwas entnehmen.

Dies steht dem von der Klägerin geltend gemachten Anspruch jedoch nicht entgegen. Denn ein schrilles und unstillbares Schreien ist zwar häufig und sehr typisch, jedoch nicht streng obligat für die postvakzinale Symptomatik (Sachverständiger L im Gutachten vom 30.06.1995 S. 41). Die AHP (AHP 1983, S. 187 f., 183; AHP 1996, S. 234, 229) beschreiben in Nr. 57 Ziffer 1 b) als Komplikationen am Nervensystem ausdrücklich die postvakzinale Encephalitis und postvakzinale Encepalopathie. Allerdings sind diese Ausführungen nicht der Pertussis-Impfung sondern der Pocken-Schutzimpfung zugeordnet. Nach übereinstimmender Auffassung der Sachverständigen L und F gilt die Nr. 57 Ziffer 1b der AHP jedoch auch für die Encephalitis bzw. Encephalopathie nach Pertussis-Schutzimpfung. Hierin wird zunächst eine Encephalopathie mit akuten Erscheinungen beschrieben. Das sind: Bewußtseinstrübung bis zur Bewußtlosigkeit, Fieber über den 10. Tag nach der Impfung hinaus, seitenbetonte oder generalisierte Krampfanfälle, Gliedmaßenlähmungen, gelegentlich isolierte Hirnnervenlähmungen, seltener Meningismus. Dem entspricht die Auffassung der Sachverständigen L (Gutachten vom 30.06.1995 S. 41) und F (Gutachten vom 24.06.1999 S. 20), die in Fieber, Erbrechen, Bewußtseinsstörung, Krampfanfällen oder Lähmungserscheinungen Hinweise für eine Impfencephalopathie sehen. Anhaltspunkte für eine in diesem Sinne symptomintensive Encephalophatie lassen sich allerdings weder aus den Bekundungen der Eltern noch denen der Zeuginnen und auch nicht aus sonstigen medizinischen Unterlagen herleiten. Krampfanfälle sind im Bericht über die am 30.09.1970, allerdings jenseits der Akutphase, durchgeführte elektroencephalographische Untersuchungen nicht beschrieben worden. Ein Fieberkrampf im August 1970, den der Klägerin erst seit September 1971 behandelnde Kinderarzt Dr. C in seinem Bericht von Oktober 1977 erwähnt hat, ist nicht belegt. Gegenüber dem Senat hat die Mutter der Klägerin erklärt, Fieberkrämpfe nicht festgestellt zu haben.

Ohne eine gesundheitliche Schädigung, die über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehen muss, ist die Anerkennung eines Dauerleidens als Folge eines Impfschadens ausgeschlossen; dies gilt auch dann, wenn außer der Impfung eine bestimmte Ursache für den Dauerschaden nicht gefunden werden kann (BSG vom 19.03.1986 - 9a RVi 4/84 -). Eine in der Inkubationszeit symptomlos verlaufene Erkrankung kann demnach keinen Entschädigungsanspruch begründen. Allerdings kann die postvakzinale Encephalophatie auch symptomarm verlaufen (sog. blande Encephalopathie). Dann bedarf es einer genauen Feststellung der Krankheitserscheinngen und Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Apathie, abnorme Schläfrigkeit, Nahrungsverweigerung, Erbrechen), die während der Inkubationszeit nach der Impfung vorgelegen haben; eine eingehende Ermittlung und Würdigung des weiteren Verlaufs ist dabei notwendig (hierzu auch BSG vom 19.03.1986 - 9a RVi 4/84 -). Dabei ist vor allem zu prüfen, ob auf einen Entwicklungsknick (deutlicher Entwicklungsrückstand, Verlust bereits erworbener Fähigkeiten) im Anschluss an die Impfung geschlossen werden kann oder ob eine Progredienz von hirnorganischen Störungen zu erkennen ist (AHP NR. 57 Ziffer 1 b).

Ob die Inkubationszeit bis zu drei Wochen beträgt (vgl. BSG vom 19.03.1986 - 9a RVi 4/84 -), mag dahinstehen. Auf der Grundlage der Ausführungen der Sachverständigen L und F steht fest, dass sich eine Impfencephalopathie nach Pertussisimpfung jedenfalls schon innerhalb von drei Tagen manifestieren kann. Die Verhaltensauffälligkeiten der Klägerin sind in diesem Zeitrahmen aufgetreten. Dies folgt aus den Bekundungen der Eltern und der Zeuginnen. Der Vater hat im wesentlichen ausgesagt, nach der Impfung sei Fieber aufgetreten; seine Tochter sei apathisch gewesen habe ein auffälliges Verhalten gezeigt und nichts mehr erzählt. Sie sei nach der Impfung unruhig gewesen und habe solange geweint, dass er aus dem Schlafzimmer ausgezogen sei. Das Quengeln und Weinen sei in den ersten - drei bis vier Tage nach der Imfpung - am schlimmsten gewesen. Mit dem Weinen habe auch das Grimassenziehen angefangen. Sie habe aufgehört zu lachen, wenn er sie gekitzelt habe (Aussage des Vaters vom 04.11.1998). Die Mutter hat im wesentlichen ausgeführt, das Gesicht der Klägerin sei maskenhaft, zu einer Grimasse verzogen gewesen; das Lächeln sei nicht mehr vorhanden und sie sei apathisch gewesen, habe auch nichts mehr erzählt (Aussage der Mutter vom 04.11.1998).

Der Senat legt diese Aussagen der Eltern im Zusammenhang mit ihren sonstigen Darlegungen zugrunde. Die Zeuginnen haben dies im wesentlichen bestätigt. Zudem sind die geschilderten Verhaltensauffälligkeiten nicht erst im Entschädigungsverfahren schriftlich und mündlich bekundet worden. Schon in der Anamneseschilderung bei der zur Impfung zeitnahen Untersuchung am 30.09.1970 sind vom Verhalten der Klägerin vor der Impfung abweichende Auffälligkeiten dokumentiert. Seinerzeit hat die Mutter der Klägerin eine am 2. oder 3. Tag nach der Impfung festgestellte Apathie berichtet; das Kind habe nichts mehr erzählt und sich auffällig verhalten. Diese Angaben sind glaubhaft, denn sie sind bereits 19 Jahre vor Einleitung des Entschädigungsverfahrens gemacht worden. Sie beruhen auf einem Wissen, das nicht erst mit dem Befassen der Sache im Rahmen des Entschädigungsverfahrens entstanden ist (hierzu auch BSG vom 19.03.1986 - 9a RVi 4/84 -), sondern originär vorhanden war. Ebenso sind die späteren schriftlichen Erklärungen der Eltern und ihre Angaben über die Verhaltensauffälligkeiten gegenüber den Gutachtern X1 und T im Verwaltungsverfahren ("Nach der Impfung, bei der sie stark reagiert habe mit Apathie, gewechselt mit unruhigem Verhalten und quengeligem Verhalten sowie Verziehen des Gesichts"), gegenüber den gerichtlichen Sachverständigen L (eingehend hierzu S. 14 ff. des Gutachtens vom 30.06.1995) und F (Gutachten vom 24.06.1999 S. 6) sowie gegenüber dem SG (Vernehmung vom 25.06.1996) und dem Senat (Vernehmung vom 04.11.1998 und 15.09.1999) glaubhaft und der Entscheidung zugrunde zu legen. Die Erklärungen der Eltern sind im Kern gleichlautend mit ihren zeitnah zur Impfung dokumentierten Schilderungen vom 30.09.1970. Das gleiche gilt für die Bekundungen der Zeuginnen Q und X (u. a. Vernehmung vom 04.11.1998), an deren Glaubwürdigkeit der Senat ebensowenig Zweifel hat. Die schriftlichen Erklärungen der Zeuginnen gegenüber dem Versorgungsamt vom 28.12.1989 und 08.01.1990 hält der Senat zwar - isoliert betrachtet - nicht für hinreichend beweiskräftig. Diktion und Inhalt vermitteln den Eindruck einer zielgerichteten Erklärung. Diese gegen die Glaubwürdigkeit der Zeuginnen sprechenden Bedenken greifen letztlich jedoch nicht durch. Insbesondere die mündlichen Aussagen der Zeuginnen X und Q im Gerichtsverfahren - namentlich in der Beweisaufnahme vom 04.11.1998 - beschränken sich nicht nur auf die vermeintlich anspruchsbegründenden Tatsachen, sondern auch auf Geschehnisse und Umstände, die für sich genommen, für die Entscheidung ohne Bedeutung sind (Besuch der Klägerin und deren Mutter nach der Impfung bei der Zeugin Q im Krankenhaus; deren Aussage zur Kleidung der Klägerin; Ausziehen des Vaters aus dem gemeinsamen Schlafzimmer wegen anhaltenden Quengelns und Weinens der Klägerin; Äußerung der Zeugin X zu den Umständen des Kennenlernens der Klägerin und deren Mutter in der Mütterberatung). Die Schilderungen der Zeuginnen belegen auch, dass sie - obwohl nicht Familienangehörige der Klägerin - diese aufmerksam beobachtet haben.

Von in den Nr. 57 Ziffer 1b AHP als Symptom einer blanden postvakzinalen Encephalopathie geschilderten Auffälligkeiten ist damit jedenfalls eine Apathie im Sinne von "Teilnahmslosigkeit, Leidenschaftslosigkeit" (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 256. Aufl.) bzw. "reduzierter Vigilanz" (so der Sachverständige F) nachgewiesen. Soweit der Sachverständige F aus den Schilderungen der Mutter und der Zeugin X nur eingeschränkt ein apathisches Verhalten der Klägerin herleitet (Antwort zu Frage 8 in der Sitzung vom 17.05.2000), steht dies dem nicht entgegen. Der Senat folgt insoweit den Ausführungen des Sachverständigen L. Dieser hat im einzelnen dargelegt, warum der Antwort des Sachverständigen F auf die Frage 8 des Senatsvorsitzenden nicht zugestimmt werden kann. Der Senat nimmt hierauf Bezug (S. 17 der ergänzenden Stellungnahme vom 27.12.2000); im übrigen ist er der Auffassung, dass die Einschätzung des Kinderklinikers (L) gegenüber der Einschätzung des Epileptologen (F) der Vorrang gebührt. Im Gegensatz zum Sachverständigen F geht der Senat mit dem Sachverständigen L des weiteren davon aus, dass die Apathie immer pathologisch ist, indessen nicht zwangsläufig in einem Dauerschaden münden muss. Das ist zur Überzeugung des Senats vielmehr erst dann der Fall, wenn über das Einzelsymptom "Apathie" ein Entwicklungsknick im Sinn der AHP aaO hinzukommt (hierzu auch BSG vom 17.12.1997 - 9 R Vi 1/95 -). So liegt es hier. Der geforderte Knick in der Entwicklung, d. h. ein deutlicher Entwicklungsstillstand mit Verlust bereits erworbener Fähigkeiten, ist bei der Klägerin durch das Ergebnis der Beweisaufnahme nachgewiesen. Die vor der Impfung vorhandene Fähigkeit, Interesse an der Umgebung und Reaktionen zu zeigen, zu lächeln, und zu lautieren, waren unmittelbar nach der Impfung verlorengegangen. Der Verlust der Fähigkeiten zu lautieren und zu lächeln - das Lächeln wird von dem Sachverständigen L als "Meilenstein" in der Entwicklung eines Säuglings gewertet - haben die Eltern der Klägerin nicht erst im Entschädigungsverfahren angegeben.

Bereits in der zur Impfung zeitnahen Anamneseschilderung vom 30.09.1970 wird berichtet: "Kind habe nichts mehr erzählt", und bei der 5 Jahre später erfolgten Untersuchung in der D-Jugendklinik heißt es in der Anamnese: "T habe nicht mehr gelacht". Das der zur Überzeugung des Senats im Anschluss an die Impfung eingetretene Zustand als ein Entwicklungsknick und nicht als Fortschreiten von Entwicklungsstörungen - letzteres spräche für ein seit der Geburt bestehendes hirnorganisches Leiden - zu beurteilen ist, haben die gehörten Sachverständigen übereinstimmend bejaht. Aus den Äußerungen der Eltern und der Zeuginnen über die körperliche und geistige Entwicklung in den ersten Lebensmonaten der Klägerin ergeben sich, auch unter Berücksichtigung dessen, dass die Entwicklung eines Säuglings in den ersten Lebensmonaten für den Laien schwierig ist (so der Sachverständige F), keine Umstände, die als Zeichen für eine hirnorganische Störung gewertet werden könnten (hierzu AHP Nr. 57 Ziffer 1b).

Der Senat merkt an, dass auch die 1991 im Institut für Strahlendiagnostik der Städtischen Kliniken E angefertigten Computer- und Kernspintomographieaufnahmen für einen Impfschaden sprechen. Zwar läßt sich ein Impfschaden durch bildgebende Verfahren, die nach der Akutphase durchgeführt werden, nicht nachweisen. Jedoch deuten die damals festgestellten Veränderungen - so der Sachverständige L - auf vermindertes Hirngewebe hin, einen auch bei einem Impfschaden zu erwartenden Befund.

Konkurrierende Ursachen für die Primärschädigung kommen nicht nur nicht in Betracht; sie sind ausgeschlossen. Das gilt insbesondere für eine mögliche Stoffwechselerkrankung oder Chromosomenstörung. Ebenso ist angesichts der ärztlichen Unterlagen der gynäkologischen Abteilung des Evangelischen Krankenhauses I über die Geburt und die Zeit unmittelbar danach ein Sauerstoffmangelzustand ausgeschlossen. Die Klägerin hat in dem nach ihrer Geburt durchgeführten Apgar-Test die höchste Punktzahl erreicht. Auch die kinderärztliche Untersuchung am 3. Tag nach der Geburt hatte keine krankhaften Befunde ergeben. Ein Anhalt für einen vorgeburtlichen Sauerstoffmangel ist ebenfalls nicht ersichtlich. Die im 6. und 7. Monat der Schwangerschaft aufgetretene Präeklampsie haben die Sachverständigen gleichermaßen als Ursache ausgeschlossen. Im Übrigen hätte ein Sauerstoffmangel auch zu einer kontinuierlich verlangsamten Entwicklung des Säuglings führen müssen. Der Entwicklungsknick, nämlich der Verlust bereits erworbenen Fähigkeiten, wie er bei der Klägerin festzustellen ist, lässt sich mit dem Krankheitsbild einer durch Sauerstoffmangel verursachten hirnorganischen Störung nicht in Einklang bringen. Eine genetische Disposition ist ebenfalls zu verneinen. Denn das epileptische Anfallsleiden, an dem Vater und Schwester der Mutter der Klägerin gelitten haben bzw. leiden und das gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass keine geistige Behinderung vorliegt, ist bei der Klägerin von den gerichtlichen Sachverständigen ebenfalls ausgeschlossen worden.

Zutreffend hat das BSG in der Entscheidung vom 19.03.1986 - 9a RVi 4/94 - allerdings darauf hingewiesen, dass es für die Anerkennung eines Impfschadens nicht ausreicht, wenn andere Ursachen nicht erkennbar sind; ein solch weites Verständnis des Wahrscheinlichkeitsbegriffs sei mit den allgemeinen Anforderungen an die Voraussetzungen für eine Entschädigung nicht vereinbar. Dem vergleichbar ist es, wenn andere potentiell konkurrierende Ursachen - wie hier - ausgeschlossen werden können. Ob konkurrierende Ursachen - sofern sie dem Anspruch entgegenstehen - als rechtshindernde Tatsachen zu bezeichnen sind und die Beweislast insoweit dem Beklagten obliegt (hierzu Erlenkämper/Fichte, Sozialrecht, 4. Auflage, S. 121), mag dahinstehen. Konkurrierende Ursachen können in den Kausalitätsabwägungen denklogisch nur einbezogen werden, wenn die den zugrundeliegenden Tatsachen als Vollbeweis festgestellt sind (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38; Erlenkämper/Fichte aaO S. 83, 116 f.). Fehlt es daran, kann die konkurrierende Kausalreihe naturgemäß nicht Teil der Kausalitätsabwägung sein. Denn ist die Tatsachengrundlage für eine potentiell (rechtshindernde) Ursachenkette nicht erwiesen, würde die Kausalitäts- und Wahrscheinlichkeitsabwägung nicht auf realen Tatsachen, sondern spekulativen Kausalitäten beruhen. Demgemäß kann im Einzelfall die notwendige Wahrscheinlichkeit auch dann als wahrscheinlich beurteilt werden, wenn nach bestimmten zeitgerechten Komplikationen ein Dauerschaden eintritt und andere Ursachen als die Impfung nicht in Betracht kommen; dann müssen aber eindeutig mehr Umstände für als gegen den Zusammenhang sprechen; sie müssen für eine rechtliche Würdigung gegeneinander abgewogen werden (BSG vom 19.03.1986 - 9a RVi 4/84 -). So liegt es hier. Konkurrierende Ursachen sind - wie dargestellt - ausgeschlossen. Soweit der Sachverständige F zum Ergebnis gelangt ist, er halte die im zeitlichen Zusammenhang mit der ersten DPT-Impfung aufgetretene Verhaltensauffälligkeiten mit Verlust erworbener Fähigkeiten und nachfolgend kontinuierlich verlangsamter psychomotorischer Entwicklung nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für Symptome eine postvakzinalen Enzephalopathie, liegt dem ein unzutreffender rechtlicher Ansatz zugrunde. Der Sachverständige bezieht in seine Kausalitätsabwägung konkurrierende Kausalitäten ein, deren tatsächliche Grundlage nicht erwiesen und die teilweise spekulativ sind. Anhaltspunkte dafür, dass es in der Schwangerschaft zu einem Sauerstoffmangel gekommen ist, hat der Sachverständige nicht feststellen zu können. Dennoch schließt er einen Sauerstoffmangel in der Schwangerschaft nicht sicher aus und diskutiert als weitere Ursache Aufbau- und Stoffwechselstörungen des Gehirns, um diese dann neben einer "prinzipiell" möglichen Enzephalopathie als "auslösende Schädigung" zu werten. Rechtlich ist diese Vorgehensweise unzulässig. Es kommt nicht darauf an, ob ein Sauerstoffmangel innerhalb der Schwangerschaft bzw. unter der Geburt oder Aufbau und Stoffwechselstörungen des Gehirns nach allgemeinen Erkenntnissen vorkommen können. Maßgebend ist allein die singuläre Situation der Klägerin und nicht das, was möglicherweise - theoretisch - in Betracht kommen kann. Ergibt sich aber - wie hier - keinerlei Anhalt dafür, dass es zu einem Sauerstoffmangelzustand in der Schwangerschaft oder unter der Geburt gekommen ist und sind auch Störungen im Aufbau und Stoffwechsel des Gehirns nach dem Ergebnis der umfangreichen Beweisaufnahme jedenfalls mit den derzeitigen Untersuchungsmethoden nicht nachweisen, so scheiden diese potentiellen Ursachen für die Kausalitätsabwägung angesichts ihres nur spekulativen Charakters aus. Der Sachverständige räumt dies auch ein, indem er ausführt, eine Schädigung bereits vor dem 31.08.1970 könne er nicht beweisen. Losgelöst hiervon hält der Senat die Ausführungen des als Kinderkliniker fachkompetenteren Sachverständigen L für überzeugend. Dieser hat - wie auch der Sachverständige H1 - sämtliche potentiell konkurrierenden Ursachen ausgeschlossen, was allerdings für die Anerkennung eines Impschadens nicht ausreichen würde. Hinzukommen muss vielmehr, dass in der Inkubationszeit Symptome auftreten, die den Anforderungen der AHP Nr. 57 Ziffer 1 b entsprechen. Das ist der Fall, denn Apathie und Entwicklungsknick beweisen einen unübliche Impfreaktion (vgl. auch BSG vom 17.12.1997 - 9 R Vi 1/95 - zum Entwicklungsknick infolge einer Pockenschutzimpfung). Obgleich sich für konkurrierende Ursachenketten nach dem Ergenbis der Beweisaufnahme keinerlei Anhalt ergibt, verkennt der Senat nicht, dass die Schädigung der Klägerin prinzipiell auch durch andere - möglicherweise im Verfahren noch nicht einmal diskutierte - Ursachen hervorgerufen worden sein kann. Ob ein vollständiger Ausschluß nie möglich sein wird (so der Sachverständige L), mag dahinstehen. im Rahmen der Kausalitätsprüfung kann solchen, wenig wahrscheinlichen oder gar unwahrscheinlichen Ursachen keinerlei Bedeutung beigemessen werden. Die für den Zusammenhang der Pertussis-Impfung mit der Schädigung sprechenden Umstände überwiegen hier deutlich.

Soweit der vom Beklagten im Verwaltungsverfahren gehörte Gutachter Prof. X1 die Auffassung vertreten hat, ein Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Schaden lasse sich nicht nachweisen, weil bei 40 % aller Fälle die geistige Behinderung nicht zugeordnet werden könne, mag dies medizinisch so sein. Hierauf kommt es aber rechtlich nicht an. Sind konkurrierende Ursachen - wie hier ausgeschlossen und sind die Voraussetzungen der AHP im übrigen erfüllt (unübliche Impfreaktion in der Inkubationszeit), kann auf tatsächliche oder vermeintliche statistische Unsicherheiten schon deswegen nicht abgestellt werden, weil dann niemals ein Impfschaden anerkannt werden könnte. Da ein unmittelbarer Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen Pertussis-Impfung und Enzephalopathie nach übereinstimmender Einschätzung der Sachverständigen nicht möglich ist, könnte dem immer der Unsicherheitsfaktor von 40% entgegengehalten und hieraus gefolgert werden, allein deswegen sei der Ursachenzusammenhang nicht wahrscheinlich. Eine solche Argumentation widerspricht ersichtlich den Vorgaben der AHP. Die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Impfschadens infolge Pertussis-Impfung sind hierin aufgeführt. Tatsächliche Unsicherheiten, mögen diese auch einen nicht unerheblichen Prozentsatz ausmachen, werden nach der Konzeption der AHP in Kauf genommen. Um diese jedenfalls teilweise kompensieren zu können, geben die AHP gerade vor, dass die Krankheitserscheinungen und Verhaltensauffälligkeiten "genau" festzustellen sind.

Soweit der vom Beklagten erhörte Arzt für Mikrobiologie und Kinderheilkunde Prof. T1 meint, es könne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von dem Fehlen einer schweren zentralnervösen Impfkomplikation ausgegangen werden, weil sich medizinisch die Auffassung durchgesetzt habe, die Ganzkeimimpfung gegen Pertussis könne nicht zu einer Enzephalopathie mit lebenslangem Hirnschaden führen, steht dies im Widerspruch zu den AHP und kann schon deswegen nicht berücksichtigt werden. Im übrigen ist die Pertussis-Impfung bis 1991 gerade wegen der Gefahr cerebraler Dauerschäden über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren nicht empfohlen worden und war noch 1991 Gegenstand heftiger Kontroversen in der medizinischen Wissenschaft (so OLG Stuttgart MedR 2000, 35, 36 mwN).

Dass nach der Nr. 57 Ziffer 1 b der AHP in der Regel eine Parallelität zwischen dem Schweregrad des Symptombildes der postvakzinalen Encephalophatie und dem Ausmaß der Folgen zu beachten ist, kann zu keinem anderen Ergebnis führen. Dabei handelt es sich, worauf der Sachverständige L zu Recht hingewiesen hat, um eine Regel, die Ausnahmen zulässt. Gerade bei Kindern und Säuglingen, bei denen die Encephalophatie wenig spektakulär verläuft bzw. von Dritten empfunden wird, kommt eine solche Ausnahme - wie hier - in Betracht.

Folge des somit nachgewiesenen Impfschadens sind - wie das SG ebenfalls zu Recht entschieden hat - ein Intelligenzdefekt vom Grade der Imbezillität und eine leichte spastische Halbseitenlähmung, die die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin bedingen (§ 31 Abs. 1 BVG).

Zusammenfassend konnte die Berufung des Beklagten keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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