L 6 SB 59/00

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 16 SB 157/98
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 SB 59/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 20.03.2000 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten für den zweiten Rechtszug zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist die Feststellung des Nachteilsausgleichs erhebliche Gehbhinderung ("G") nach § 146 Abs. 1 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) bzw. bis 30.06.2001 nach § 60 Abs. 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG).

Auf ihren Antrag von Mai 1998 hin stellte der Beklagte bei der 1972 geborenen Klägerin wegen der Behinderungen "Hirnkrampfanfallsbereitschaft, psychische Störungen, Essstörungen" einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 fest. Die Feststellung des Nachteilsausgleichs "G" wurde abgelehnt (Bescheid vom 22.07.1998 und Widerspruchsbescheid vom 15.10.1998).

Im anschließenden Klageverfahren hat die Klägerin - nachdem sich die Beteiligten im Hinblick auf die Feststellung eines GdB von 70 vergleichsweise geeinigt hatten (Teilvergleich vom 20.03.2000) - weiterhin den Nachteilsausgleich "G" geltend gemacht. Zur Begründung hat sie sich insbesondere auf ein vom Sozialgericht eingeholtes fachorthopädisches Sachverständigengutachten des Dr. M vom 15.11.1999 gestützt.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid vom 22.07.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.11.1998 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" anzuerkennen.

Der Beklagten hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat auch unter Berücksichtigung des Gutachtens des Dr. M die Voraussetzungen für den begehrten Nachteilsausgleich als nicht erfüllt angesehen.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens des Dr. C vom 20.08.1999 sowie eines orthopädischen Gutachtens des Dr. M vom 15.11.1999. Dr. C hat unter Berücksichtigung eines Teil-GdB von 50 für ein "hirnorganisches Anfallsleiden" und von 30 für "psychische Behinderungen, psychogene Essstörung mit Adipositas permagna, multifaktoriell bedingtes Kopfschmerzsyndrom" den GdB auf seinem Fachgebiet mit 70 eingeschätzt. Die Voraussetzungen für "G" hat er aus rein neurologisch-psychiatrischer Sicht verneint. Dr. M hat einen "Zustand nach Kapselbandläsion rechtes oberes Sprunggelenk im Jahre 1997 mit noch bestehender Außenbandüberdehnung" sowie eine "Rumpffehlhaltung mit belastungsabhängigen Dorsolumbalgien bei Adipositas" mit Teil-GdB von jeweils 10 beschrieben und den Gesamt-GdB unter Berücksichtigung des nervenärztlichen Gutachtens des Dr. C mit 70 beurteilt. Zum Nachteilsausgleich "G" hat er ausgeführt, dass bei dem vorliegenden ganz erheblichen Übergewicht und der noch bestehenden Bandinstabilität des rechten oberen Sprunggelenkes in Verbindung mit belastungsabhängiger Schwellneigung dieses Gelenkes bei Fußwegstrecken im Stadtverkehr über wesentlich mehr als 500 Metern erhebliche Schwierigkeiten in Form von Schmerzen zu erwarten seien, so dass die Klägerin nicht in der Lage sei, Fußwegstrecken von 2 km in einer Zeit von einer halben Stunde zurückzulegen.

Mit Urteil vom 20.03.2000 hat das Sozialgericht gestützt auf die Beurteilung des Sachverständigen Dr. M der Klage stattgegeben und den Beklagten verurteilt, den Nachteilsausgleich "G" festzustellen.

Gegen dieses ihm am 30.03.2000 zugestellte Urteil richtet sich die am 03.04.2000 eingegangene Berufung des Beklagten. Der Beklagte meint, die Adipositas bedinge nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" 1996 (AP) keinen GdB und sei somit keine Behinderung im Sinne des Schwerbehindertengesetzes. Sie könne deshalb auch zur Feststellung der Voraussetzungen von Nachteilsausgleichen nicht berücksichtigt werden. Insgesamt ist er der Auffassung, dass die nach Ziffer 30 AP für die Feststellung von "G" erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 20.03.2000 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Im Berufungsverfahren ist von Dr. M eine ergänzende Stellungnahme vom 18.08.2000 eingeholt worden. Hierin hat der Sachverständige an seiner Beurteilung festgehalten.

Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung und bezüglich des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Inhalte der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Recht antragsgemäß verurteilt. Denn die Klägerin hat Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G".

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens und insbesondere unter Würdigung der Beurteilung des Sachverständigen Dr. M steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin wegen die Gehfähigkeit dauerhaft einschränkenden Funktionsstörungen in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr so erheblich beeinträchtigt ist, dass sie nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten Wegstrecken im Ortverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden, § 176 Abs. 1 Satz 1 SGB XI bzw. § 60 Abs. 1 Satz 1 SchwbG.

Zur Begründung seiner Auffassung nimmt der Senat zunächst auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug, § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das erstinstanzliche Beweisergebnis wird durch die ergänzende zweitinstanzliche Beweisaufnahme bestätigt.

Die vom Beklagten angeführten Gründe rechtfertigen keine andere Beurteilung. Insbesondere sind auch die vorgelegten Stellungnahmen der Regierungsmedizinaldirektorin Dr. N nicht geeignet, die den Senat überzeugende Einschätzung des Sachverständigen Dr. M in Frage zu stellen.

Zwar ist dem Beklagten zuzugestehen, dass eine Adipositas allein grundsätzlich keinen GdB bedingt (Ziffer 26.15 S. 120 AP) und damit in der Regel keine Behinderung darstellt. Dies gilt wegen der Besonderheiten dieses Einzelfalles hier jedoch nicht. Denn die bei der Klägerin vorliegende massive Übergewichtigkeit ist eine Auswirkung der Behinderung "psychogene Essstörung". Essstörung und Übergewichtigkeit zusammen sind als Behinderung anzusehen, so dass die hieraus folgenden Funktionseinschränkungen entgegen der Auffassung des Beklagten hier bei der Beurteilung der Voraussetzungen des Nachteilsausgleich zu berücksichtigen sind.

Bei der Klägerin handelt es sich nicht lediglich um eine durch ihre überstarke Adipositas bedingte Einschränkung der allgemeinen Beweglichkeit. Vielmehr führt ihre auf der psychogenen Essstörung beruhende massive Übergewichtigkeit in Verbindung mit den vom Sachverständigen Dr. M beschriebenen Funktionsstörungen im Bereich des rechten Fußes zu einer sich konkret auf das Gehvermögen auswirkenden Funktionsstörung. Zwar ist die Funktionsbeeinträchtigung im Sprunggelenksbereich für sich allein genommen nicht sonderlich ausgeprägt. Angesichts der Ausführungen des Sachverständigen hält es der Senat jedoch für nachvollziehbar, dass sich insbesondere die Bandinstabilität und die belastungsabhängig auftretende Neigung zu Reizergüssen in Verbindung mit dem massiven Übergewicht der Klägerin ganz erheblich auf die Gehfähigkeit auswirken und bei Belastungen Schmerzen auftreten. Wenn der Sachverständige hieraus den Schluss zieht, dass die Klägerin wegen der durch die Bandinstabilität und Reizgussneigung auftretenden Schmerzen wie auch wegen zu erwartender Dorsolumbalgien nicht in der Lage ist, Wegstrecken von 2 km in etwa einer halben Stunde ohne erhebliche Schwierigkeiten zurückzulegen, so hat auch der Senat keine Bedenken, sich dieser Einschätzung anzuschließen.

Angesichts der festgestellten Befunde und der Beurteilung des Sachverständigen sind die von der Klägerin auch selbst geschilderten beim Gehen auftretenden Schmerzen glaubhaft. Dies gilt auch für ihre Angabe, dass sie sich wegen ihres Anfallsleidens beim Gehen unsicher fühlt. Zwar ist nach Ziffer 30 Abs. 4 S. 166 AP grundsätzlich erst bei einer mittleren Anfallshäufigkeit (GdB 60 - 80, Ziffer 26.3., S. 55 AP) - hier bedingt das Anfallsleiden nach der Bewertung des Sachverständigen Dr. C einen GdB von 50 - auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit zu schließen. Bei der Gesamtbeurteilung verstärkt aber die von der Klägerin glaubhaft bekundete mit dem Anfallsleiden einhergehende Unsicherheit beim Gehen das bereits auf der Einschätzung des Sachverständigen Dr. M folgende Ergebnis, dass Wegstrecken von 2 km ohne erhebliche Schwierigkeiten nicht mehr zurückgelegt werden können.

Entgegen der Auffassung der Beklagten widerspricht die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" nicht den in Ziffer 30 AP genannten Grundsätzen.

Die AP beschreiben in Ziffer 30 Abs. 3 bis 6 (S. 166 f) Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" als erfüllt anzusehen sind und die bei dort nicht ausdrücklich erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (BSG SozR 3870 § 60 Nr. 2; BSG, Urteil vom 27.08.1998 - B 9 SB 137/97 R -). Eine erhebliche Gehbehinderung ist auch dann anzunehmen, wenn die festgestellten körperlichen Regelwidrigkeiten die Gehfähigkeit derart allgemein beeinträchtigen, wie in den AP 96 beispielhaft genannten Fällen (BSG a.a.O. unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 12.02.1997 - 9 RVs 11/95 -).

Dabei kommt es für eine Gleichstellung mit den in Ziffer 30 AP genannten Regelbeispielen nicht an auf die allgemeine Vergleichbarkeit der Auswirkungen der Gesundheitsstörungen, die letztlich durch die Höhe des GdB manifestiert werden. Entscheidend ist vielmehr allein, dass die Auswirkungen funktional im Hinblick auf die Fortbewegung gleichzuachten sind (o.a. BSG, Urteil vom 12.02.1997). Dies ist hier angesichts des oben beschriebenen Ausmaßes der sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionseinschränkungen der Fall. Dr. M hat den Gesamtzustand der Klägerin aus medizinischer Sicht in etwa mit einer arteriellen Verschlusskrankheit mit einem GdB von 40 für vergleichbar erachtet, soweit sich dieser Vergleich auf Fußwegstrecken bezieht, die 500 Meter übersteigen. Unter Würdigung aller Umstände hat der Senat auch insoweit keine Bedenken, der Beurteilung des Sachverständigen zu folgen. Soweit Dr. N meint, dieser Vergleich sei abwegig, verkennt sie dabei, dass es für eine Gleichstellung nicht auf die allgemeine Schwere des Leidens ankommt, sondern allein auf die Auswirkungen der vorhandenen Regelwidrigkeiten auf die Gehfähigkeit.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Es besteht kein Anlass, die Revision zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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