Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 39 AS 3254/14
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 671/15 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 02.03.2015 geändert. Der Klägerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin L, E, bewilligt.
Gründe:
I.
Die Klägerin begehrt Prozesskostenhilfe für ein Klageverfahren, mit dem sie sich gegen eine Aufrechnung wendet.
Das Sozialgericht Duisburg hat mit Beschluss vom 02.03.2015 (zugestellt am 06.03.2015) die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Es fehle die hinreichende Erfolgsaussicht der Klage, weil der Beklagte unter Beachtung seines Ermessens aufgrund bestandskräftiger Aufhebungs- und Erstattungsbescheide entsprechend dem Gesetz aufrechne.
Mit der hiergegen gerichteten Beschwerde vom 07.04.2015 trägt die Klägerin vor, die Klage habe hinreichende Erfolgsaussichten, weil es sich bei der vorliegenden Aufrechnung mit einem Zeitrahmen von mehr als zwei Jahren um einen unzulässigen Eingriff in ihr verfassungsrechtlich garantiertes Existenzminimum handele.
II.
Die Beschwerde ist nach § 172 Abs. 1 SGG statthaft und auch sonst zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 172 SGG) erhoben. Der Senat folgt nicht der Auffassung, die die Beschwer bei Aufrechnung durch den monatlichen Abzug für den aktuellen Bewilligungszeitraum begrenzt sieht und diesen Betrag an § 144 Abs. 1 SGG misst (vgl. LSG Schleswig-Hostein, Beschluss vom 03.09.2010 - L 11 AS 152/10 B). Folgte man dieser Auffassung, ergäben sich nicht gerechtfertigte Rechtsschutzlücken, weil vom Aufrechnungsbescheid über den aktuellen Bewilligungsabschnitt hinausgehend Rechtswirkungen entstehen, denen die Kontrolle durch die Rechtsmittelinstanz versagt bliebe. Dies gilt insbesondere, wenn - wie vorliegend - nicht für jeden Bewilligungsabschnitt ein gesonderter Aufrechnungsbescheid ergeht, sondern nur ein Bescheid erlassen wird, der die Gesamtaufrechnungssumme enthält, so dass sich der Aufrechnungsverwaltungsakt nicht nur auf die laufende Bewilligung bezieht (vgl. auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 21.06.2013 - L 7 AS 329/13 B ER).
Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die Klägerin ist prozesskostenarm i.S.v. § 115 ZPO. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO erforderlichen Erfolgsaussichten verneint.
Zwar hat der Gesetzgeber mit § 43 Abs. 2 SGB II eine gesetzliche Regelung für die vorgenommene Aufrechnung geschaffen und die auf 30% des Regelbedarfs gegenüber der vorherigen Rechtslage erweiterte Aufrechnungsmöglichkeit explizit vorgesehen (BT-Drs. 17/3404, S. 116). Auch dürfte die generelle Möglichkeit der Aufrechnung jedenfalls für den Fall zurechenbar verursachter Forderungen im Einklang mit der herrschenden Meinung in der Literatur und der bislang vorliegenden Rechtsprechung stehen (vgl. mit ausführlicher Begründung LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.09.2013 - L 19 AS 662/13; Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 43; Greiser in: Eicher, SGB II, § 43 Rn. 23 f). Jedoch hat sich das BSG mit dieser Problematik im Rahmen einer der vorliegenden Fallgestaltung vergleichbaren Situation noch nicht zu beschäftigen gehabt. Das BSG hat in seinem Urteil vom 09.11.2010 (B 4 AS 27/10 R) offen gelassen, ob verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Absenkung des Alg II für einen auf vier Monate begrenzten Zeitraum bei einer Absenkung um 20 % bzw 30% bestehen, weil im konkreten Fall ergänzende Sachleistungen "in angemessenem Umfang" angeboten worden waren (hierzu in einem Fall sanktionsbedingter Kürzungen BSG, Beschluss vom 25.02.2014 - B 4 AS 417/13 B). Anhängig sind beim BSG derzeit Verfahren die sich zu Aufrechnungen gegen die Leistungen nach dem SGB II verhalten. Sie betreffen allerdings Aufrechnungen von Mietkautionsdarlehen (B 4 AS 11/14 R; B 4 AS 14/15 R).
Die angegriffene Kürzung von Leistungen in Höhe von 30 % über mehrere Jahre hinweg ohne die Verpflichtung zur Ermessensausübung bedarf unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten einer Klärung mit anwaltlichem Beistand, denn insoweit handelt es sich um eine schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und Tatfrage (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 19.02.2008 - 1 BvR 1807/07). Das BVerfG hat nur die Rückführung eines Darlehens zur Deckung eines unvermutet auftretenden und unabweisbaren einmaligen Bedarfs durch Einbehalt der Regelleistung in Höhe von 10 % als "vorübergehende monatliche Kürzung der Regelleistung" im Grundsatz verfassungsrechtlich nicht beanstandet (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 - Az 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09). Auch nach Schaffung der gesetzlichen Grundlage für die vom Beklagten vorgenommene Aufrechnung ist daher der vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 09.02.2010 betonte Grundsatz zu beachten, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein muss. Es ist im Einzelfall sicherzustellen, dass durch eine Aufrechnung nicht über einen längeren Zeitraum eine verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Bedarfsunterdeckung erfolgt.
Kosten werden im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe nicht erstattet (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO).
Dieser Beschluss ist endgültig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 127 Abs. 3 ZPO, 177 SGG).
Gründe:
I.
Die Klägerin begehrt Prozesskostenhilfe für ein Klageverfahren, mit dem sie sich gegen eine Aufrechnung wendet.
Das Sozialgericht Duisburg hat mit Beschluss vom 02.03.2015 (zugestellt am 06.03.2015) die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Es fehle die hinreichende Erfolgsaussicht der Klage, weil der Beklagte unter Beachtung seines Ermessens aufgrund bestandskräftiger Aufhebungs- und Erstattungsbescheide entsprechend dem Gesetz aufrechne.
Mit der hiergegen gerichteten Beschwerde vom 07.04.2015 trägt die Klägerin vor, die Klage habe hinreichende Erfolgsaussichten, weil es sich bei der vorliegenden Aufrechnung mit einem Zeitrahmen von mehr als zwei Jahren um einen unzulässigen Eingriff in ihr verfassungsrechtlich garantiertes Existenzminimum handele.
II.
Die Beschwerde ist nach § 172 Abs. 1 SGG statthaft und auch sonst zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 172 SGG) erhoben. Der Senat folgt nicht der Auffassung, die die Beschwer bei Aufrechnung durch den monatlichen Abzug für den aktuellen Bewilligungszeitraum begrenzt sieht und diesen Betrag an § 144 Abs. 1 SGG misst (vgl. LSG Schleswig-Hostein, Beschluss vom 03.09.2010 - L 11 AS 152/10 B). Folgte man dieser Auffassung, ergäben sich nicht gerechtfertigte Rechtsschutzlücken, weil vom Aufrechnungsbescheid über den aktuellen Bewilligungsabschnitt hinausgehend Rechtswirkungen entstehen, denen die Kontrolle durch die Rechtsmittelinstanz versagt bliebe. Dies gilt insbesondere, wenn - wie vorliegend - nicht für jeden Bewilligungsabschnitt ein gesonderter Aufrechnungsbescheid ergeht, sondern nur ein Bescheid erlassen wird, der die Gesamtaufrechnungssumme enthält, so dass sich der Aufrechnungsverwaltungsakt nicht nur auf die laufende Bewilligung bezieht (vgl. auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 21.06.2013 - L 7 AS 329/13 B ER).
Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die Klägerin ist prozesskostenarm i.S.v. § 115 ZPO. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO erforderlichen Erfolgsaussichten verneint.
Zwar hat der Gesetzgeber mit § 43 Abs. 2 SGB II eine gesetzliche Regelung für die vorgenommene Aufrechnung geschaffen und die auf 30% des Regelbedarfs gegenüber der vorherigen Rechtslage erweiterte Aufrechnungsmöglichkeit explizit vorgesehen (BT-Drs. 17/3404, S. 116). Auch dürfte die generelle Möglichkeit der Aufrechnung jedenfalls für den Fall zurechenbar verursachter Forderungen im Einklang mit der herrschenden Meinung in der Literatur und der bislang vorliegenden Rechtsprechung stehen (vgl. mit ausführlicher Begründung LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.09.2013 - L 19 AS 662/13; Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 43; Greiser in: Eicher, SGB II, § 43 Rn. 23 f). Jedoch hat sich das BSG mit dieser Problematik im Rahmen einer der vorliegenden Fallgestaltung vergleichbaren Situation noch nicht zu beschäftigen gehabt. Das BSG hat in seinem Urteil vom 09.11.2010 (B 4 AS 27/10 R) offen gelassen, ob verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Absenkung des Alg II für einen auf vier Monate begrenzten Zeitraum bei einer Absenkung um 20 % bzw 30% bestehen, weil im konkreten Fall ergänzende Sachleistungen "in angemessenem Umfang" angeboten worden waren (hierzu in einem Fall sanktionsbedingter Kürzungen BSG, Beschluss vom 25.02.2014 - B 4 AS 417/13 B). Anhängig sind beim BSG derzeit Verfahren die sich zu Aufrechnungen gegen die Leistungen nach dem SGB II verhalten. Sie betreffen allerdings Aufrechnungen von Mietkautionsdarlehen (B 4 AS 11/14 R; B 4 AS 14/15 R).
Die angegriffene Kürzung von Leistungen in Höhe von 30 % über mehrere Jahre hinweg ohne die Verpflichtung zur Ermessensausübung bedarf unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten einer Klärung mit anwaltlichem Beistand, denn insoweit handelt es sich um eine schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und Tatfrage (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 19.02.2008 - 1 BvR 1807/07). Das BVerfG hat nur die Rückführung eines Darlehens zur Deckung eines unvermutet auftretenden und unabweisbaren einmaligen Bedarfs durch Einbehalt der Regelleistung in Höhe von 10 % als "vorübergehende monatliche Kürzung der Regelleistung" im Grundsatz verfassungsrechtlich nicht beanstandet (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 - Az 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09). Auch nach Schaffung der gesetzlichen Grundlage für die vom Beklagten vorgenommene Aufrechnung ist daher der vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 09.02.2010 betonte Grundsatz zu beachten, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein muss. Es ist im Einzelfall sicherzustellen, dass durch eine Aufrechnung nicht über einen längeren Zeitraum eine verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Bedarfsunterdeckung erfolgt.
Kosten werden im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe nicht erstattet (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO).
Dieser Beschluss ist endgültig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 127 Abs. 3 ZPO, 177 SGG).
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